Turīn [2]

[810] Turīn (ital. Torīno, hierzu der Stadtplan), Hauptstadt der gleichnamigen ital. Provinz (s. oben), bis 1860 Hauptstadt des Königreichs Sardinien und 1861–65 des Königreichs Italien, liegt unter 45°4' nördl. Br. und 7°42' östl. L., 239 m ü. M., in fruchtbarer Ebene am linken Ufer des Po, der hier die Dora Riparia aufnimmt.

Wappen von Turin.
Wappen von Turin.

Das Klima ist gesund, aber starkem Wechsel unterworfen; der Winter ist kalt, der Frühling unbeständig. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 11,9° (im Sommer 21,8°, im Winter 1,7°), die Niederschlagsmenge (an 107 Regentagen) 866 mm. Die reizende Lage und die regelmäßige Bauart machen T. zu einer der schönsten Städte Italiens. Es zerfällt in sieben Stadtteile (Dora, Moncenisio, Monviso, Po, Borgo San Salvatore, Borgo Po und Borgo Dora) und hat langgedehnte, breite und gerade Straßen, vielfach mit Bogenhallen, und weite, stattliche Plätze. Die schönsten Straßen sind die Via di Po, Via Roma, Via Garibaldi, Via Venti Settembre und der Corso Vittorio Emanuele. Aus antiker Zeit besitzt T. Reste der römischen Ummauerung mit Toren und Ecktürmen sowie eines römischen Theaters. Unter den meist mit Denkmälern und Gartenanlagen geschmückten Plätzen zeichnen sich aus: die Piazza Castello, rings von Bogengängen umgeben, mit der Galleria dell' Industria Subalpina (1874); die schöne Piazza San Carlo; die Piazza Carlo Felice (mit hübschen Anlagen); die große, 1825 angelegte Piazza Vittorio Emanuele 1., die sich bis zu der steinernen Pobrücke hinzieht; die Piazza del Palazzo di Città, die Piazza dello Statuto mit dem Denkmal zur Erinnerung an den Bau des Mont Cenis-Tunnels (1879), die Piazza Cavour (mit Anlagen), die Piazza Solferino und die Piazza Vittorio Emanuele II. Schöne öffentliche Anlagen sind der Giardino Pubblico, worin das 1650 erbaute (unvollendete) Castello del Valentino (jetzt Ingenieurschule), der Botanische Garten und die Nachbildung eines piemontesischen Schlosses aus dem 15. Jahrh. (1884); ferner der Giardino Reale mit dem Zoologischen Garten. T. ist reich an Denkmälern, die das savoyische Haus, die Staatsmänner und großen Geister des Landes verherrlichen. Dazu gehören: das Reiterbild Emanuel Philiberts auf der Piazza San Carlo (von Marochetti, 1838); das Denkmal Amadeus' VI. auf der Piazza Palazzo di Città; die Marmorstatuen des Prinzen Eugen von Savoyen und des Herzogs Ferdinand von Genua (1858) vor dem Rathaus; die der Könige Karl Albert und Viktor Emanuel in der Vorhalle des Rathauses; auf der Piazza Vittorio Emanuele II. das[810] 8 m hohe Bronzestandbild Viktor Emanuels II. (von Costa, 1899); vor dem Palazzo Madama das Denkmal des sardinischen Heeres (von Vela, 1859); auf der Piazza Carlo Alberto die Reiterstatue Karl Alberts (von Marochetti, 1861); auf der Piazza Carignano das Denkmal Giobertis (von Albertoni, 1860); auf dem Corso Vittorio Emanuele II. das Denkmal des Krimfeldzuges (von Belli, 1892); auf der Piazza Carlo Felice die Statue d'Azeglios (von Balzico, 1873); auf der Piazza Carlo Emanuele II. das Denkmal Cavours (von Dupré, 1873); auf der Piazza Solferino die Reiterstatue des Herzogs Ferdinand von Genua; im Giardino Pubblico kolossales Bronze-Reiterdenkmal des Prinzen Amedeo (von Calandra, 1902); ferner Statuen von Viktor Emanuel I. (von Gaggini, 1884), Garibaldi (von Tabacchi, 1887), Lagrange, Brofferio, Cassini, Micca (des Retters der Stadt 1706), Pepe, Bava, Balbo, Manin, Lamarmora, De Sonnaz, Paleocapa, Robilant, Sella, La Farina, des Physikers Galileo Ferraris (von Contratti, 1903), des Karikaturisten Casimiro Teja (1904), des Staatsmannes Federigo Sclopis (1905) u. a. Über den Po führen eine 150 m lange steinerne Brücke (1801), eine Kettenbrücke und zwei neue Steinbrücken, über die Dora sieben Brücken (darunter zwei Eisenbahnbrücken). Unter den Kirchen von T. zeichnen sich aus: die Kathedrale San Giovanni Battista, 1492 bis 1498 von Meo del Caprina im Renaissancestil erbaut, mit achteckiger Kuppel und der marmornen Cappella del Santissimo Sudario, 1694 von P. Guarini als Gruftkapelle der Herzoge von Savoyen ausgeführt (in einer Urne am Altar befindet sich das Linnen, in das Joseph von Arimathia den Leichnam Christi eingehüllt haben soll); die Kirchen Santa Maria della Consolata, 1679 von P. Guarini erbaut, 1904 prunkvoll umgebaut, mit den Marmorstatuen der Königinnen Maria Theresa und Maria Adelaide (von Vela, 1861), San Filippo (1679), Corpus Domini (1610), die neuern Kirchen San Secondo, 1882 im lombardischen Stil erbaut, San Gioacchino, 1888 im lombardisch-romanischen Stil ausgeführt, San Giovanni Evangelista (1883), San Massimo, ein Kuppelbau von 1849–54, mit schönen Fresken und Statuen, die Rotunde Gran Madre di Dio (1818–1831), die Waldenserkirche (1851), endlich die neue Synagoge (1884). T. besitzt eine Anzahl monumentaler Paläste, darunter das Kastell Palazzo Madama aus dem 13. Jahrh., mit schöner Doppeltreppe und Marmorfassade von Juvara (1718), bis 1865 Sitz des Senates; das königliche Schloß (1646–58) mit den Reiterstandbildern des Kastor und Pollux (1842) und des Herzogs Viktor Amadeus I., schönen Gemächern, der königlichen Bibliothek (70,000 Bände, 3000 Manuskripte und 20,000 Handzeichnungen), einer reichen Münzsammlung und der berühmten königlichen Rüstkammer (Armeria); der Palazzo Carignano (von 1680), bis 1864 Sitz des italienischen Parlaments, mit naturwissenschaftlichen Sammlungen; der Palazzo di Città (1669); der Palast der Akademie der Wissenschaften (früher Jesuitenkollegium, 1679 von P. Guarini erbaut); das Universitätsgebäude (von 1713), das Stadthaus (von 1665), der Palazzo delle Torri oder Porta Palatina, ein (seit 1905 restauriertes) altrömisches Stadttor, das Teatro regio (von 1738) und das Teatro Carignano (von 1787), die Mole Antonelliana, ein 1863 von Antonelli ausgeführter turmartiger, 163 m hoher Bau, ursprünglich zur Synagoge bestimmt, mit historischem Museum, das ausgedehnte Arsenal mit Artilleriemuseum, der Zentralbahnhof (1865–68 von Mazzucchetti erbaut), die Handelsbörse, mehrere Passagebauten (Galleria Subalpina u. a.) und kleinere Theater u. a.

Die Zahl der Bewohner betrug 1901: 282,753, im Gemeindegebiet 335,656 und wird Ende 1906 auf 358,000 berechnet. Die Industrie ist durch eine Eisenbahnreparaturwerkstätte, eine Waffenfabrik, ein Artilleriearsenal, Fabriken für Maschinen, Eisenbahn- und Straßenbahnmaterial, Kutschen, Metallwaren, Klaviere, Zündhölzer, chemische Produkte, Schokolade, Wermut, Kunstwolle, Bänder, Posamentier- und Wirkwaren, Hüte und Möbel, Spinnereien und Webereien in Seide und Baumwolle, Färbereien, Gerbereien, Buchdruckereien, eine Tabaksmanufaktur u. a. vertreten. Von T. gehen Eisenbahnen nach Mailand, Domodossola, Aosta, Genua, Modane, Savona, Cuneo, Chieri, Torre Pellice, Rivoli, Lanzo, Superga und Rivarolo, Dampfstraßenbahnen nach Settimo, Volpiano, Pianezza, Druent, Venaria, Saluzzo, Pinerolo u. a. O. Unter den Bildungsanstalten ist an erster Stelle die 1404 gegründete Universität mit Fakultäten für Jurisprudenz, Medizin und Chirurgie, philosophisch-philologische und mathematisch-naturhistorische Wissenschaften nebst einer pharmazeutischen Schule (1903: 2595 Hörer) zu erwähnen. Andre Bildungsanstalten sind: eine Ingenieurschule (1903: 519 Hörer), ein Industriemuseum (höhere Fachschule für Industrie, mit technologischen Sammlungen, 310 Hörer), eine Tierarzneischule (197 Hörer), ein Seminar, 3 staatliche Lyzeen, 6 Gymnasien, ein Technisches Institut, 5 Technische Schulen, eine Akademie (Albertina), eine Handels-, eine Musik- und eine Kunstschule, die Kriegsschule (128 Schüler), eine Artillerie- und Genieschule (139 Schüler), eine Militärakademie (224 Schüler) etc.; ferner die Akademie der Wissenschaften (s. Akademie, S. 219), mit einer Bibliothek (40,000 Bände) und einem Altertumsmuseum (ägyptische und griechisch-römische Funde), eine medizinisch-chirurgische Akademie, ein reiches Staatsarchiv, zahlreiche Bibliotheken, darunter die National- (ehemals Universitäts-) Bibliothek mit 275,000 Bänden und 1500 Manuskripten (ein Brand vernichtete 1904: 24,000 Bände und 2600 Handschriften), die städtische Bibliothek (60,000 Bände), die königliche Bibliothek u. a.; eine königliche Gemäldesammlung, eine Gemäldesammlung der Akademie der schönen Künste (Kartons von Gaudenzio Ferrari u. a.), ein städtisches Museum, ein historisches Nationalmuseum, ein Handels- und ein Gewerbemuseum etc. T. besitzt ferner gut dotierte Wohltätigkeitsanstalten, eine Frauenstrafanstalt u. a. Es ist der Sitz des Präfekten, eines Erzbischofs, eines Kassationshofs, eines Appell- und Assisenhofs, des Generalkommandos des 1. Armeekorps, eines deutschen Konsulats sowie einer Handelskammer. Schöne Punkte in der Umgebung sind: der Monte dei Cappuccini (292 m), mit Drahtseilbahn, ehemaliger Klosterkirche und prächtiger Aussicht auf die Stadt, die Ebene und die Alpen, und die berühmte Grabkirche des Hauses Savoyen, La Superga (s. d.). Der schöne Friedhof nordöstlich von der Stadt enthält bemerkenswerte Denkmäler. Bei der Madonna di Campagna, 2 km nordwestlich von T., ist 1906 ein Kriegerdenkmal zur Erinnerung an die Kämpfe von 1706 errichtet worden.

Geschichte. T. war im Altertum Hauptstadt der ligurischen Taurini, wurde 218 v. Chr. von Hannibal erobert und erhielt unter Augustus eine römische Kolonie und den Namen Augusta Taurinorum.[811] Unter der Herrschaft der Langobarden war es Hauptort eines Herzogtums, dann einer Grafschaft und seit dem 10. Jahrh. einer Markgrafschaft, die durch die vor 1057 geschlossene Ehe der Markgräfin Adelheid mit dem Grafen Oddo von Savoyen an dessen Haus kam. Im 16. und 17. Jahrh. wurde T. wiederholt von den Franzosen erobert; im Spanischen Erbfolgekrieg abermals von ihnen belagert, wurde die Stadt durch den glänzenden Sieg der Kaiserlichen unter Prinz Eugen 7. Sept. 1706 befreit. Auch in den Revolutionskriegen war T. ein Hauptziel der französischen Angriffe, kam nach der Schlacht bei Marengo (1800) in französischen Besitz und wurde Hauptstadt des Podepartements, bis es, seiner Befestigungswerke mit Ausnahme der Zitadelle beraubt, 1814 durch den Pariser Frieden dem König von Sardinien zurückgegeben ward. Es blieb Residenz und Hauptstadt. bis infolge der sogen. Septemberkonvention (15. Sept. 1864) der Sitz des Königs und der italienischen Zentralbehörden im Mai 1865 nach Florenz verlegt wurden. Nach dem Bekanntwerden der Septemberkonvention kam es 20.–22. Sept. 1864 zu einem blutigen Aufruhr in T., der nur durch Waffengewalt unterdrückt werden konnte. Vgl. C. Promis, Storia dell' antica Torino (Tur. 1869); Cibrario, Storia di Torino (das. 1846, 2 Bde., für das Mittelalter); Savio, Gli antichi vescovi di Torino (das. 1888); Borbonese, Torino illustrata e descritta (das. 1884); Isaia. Führer durch T. (deutsch, das. 1895); Viriglio, Torino ed i Torinesi (das. 1898); Nacht, Turin 1902 (50 Architekturtafeln mit Text, Berl. 1902); Marzorati, Guida commerciale ed administrativa di Torino (Tur. 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 810-812.
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