Graf [1]

[529] Graf, Bezeichnung verschiedener Amts- u. Rangverhältnisse, welche in ihrer eigenen Entwickelung auf die Gestaltung des ganzen deutschen Staats- u. Rechtslebens von wesentlichem Einflusse waren. Die Etymologie des Wortes ist nicht ermittelt, am frühesten findet sich dasselbe in der latinisirten Form Grafio (Gravio, Graphio) in der aus dem 5. Jahrh. stammenden Lex Salica. Wahrscheinlich kam das Wort mit dem Amt selbst von den Franken zu den andern germanischen Stämmen Deutschlands. Es bedeutet in den genannten Gesetzen u. Urkunden 1) so v.w. Comes (s.d. II.), den höchsten vom König über einen Gau (Pagus) gesetzten Beamten, welcher zugleich die ausübende u. richterliche Gewalt hatte. Die alten G-en mußten jeder in seinem Bezirke über die öffentliche Sicherheit wachen. 2) Später unter den Karolingern setzten die Könige die G. auch über die Einnahme der königlichen Gefälle, über Polizei u. dergleichen. Sie zogen auch mit ins Feld u. waren dort Anführer, wiewohl den Herzogen untergeordnet. Wie die Herzöge erhielten sie große Macht, die jedoch Karl d. Gr. durch Abschaffung dieser wieder schwächte. Nach den verschiedenen Besorgungen, welche den G-en aufgetragen waren, zerfielen sie in Mark-, Gau-, Burg-, Cent-, Ding-, Wild-, Holz-, Stadt)-, Wic-, Sendgrafen (s.d. a.); überhaupt erhielt damals der Ausdruck G. die Nebenbedeutung von königlicher Beamter. Als nach dem Untergang des Karolingischen Reichs die Beamten des Kaisers immer mehr Macht erhielten, machten die G-n ihr Amt erblich u. eigneten sich die Gaue, über die sie gesetzt waren, größtentheils als Eigenthum zu, so daß, als im 12. Jahrh. die Gauverfassung aufhörte, manche G-en bedeutende Lehen besaßen u. die größten Grundeigenthümer waren. Daher war damals 3) G. u. Dynast fast gleichbedeutend, u. mehrere G-en nahmen den Dynastentitel u. umgekehrt an. Als nun die kleineren Dynastenherrschaften in größere Herzogthümer zusammenflossen, bestanden mehrere G-en, bes. die, welche Grenzen zu bewachen hatten, wie der Markgraf von Meißen, von Baden etc. fort u. erlangten später, in den Fürstenstand erhoben, große Macht, u. aus ihnen sind, wie z.B. aus den G-en von Hohenzollern, Habsburg etc. mehrere der gegenwärtigen mächtigsten deutschen Dynastien entsprossen. Andere G-en behielten in ihren Gauen ebenfalls ihre Macht bei u. nannten sich deshalb Landgrafen, so die von Thüringen u. Hessen. Die kleineren G-en vereinigten sich, als das Verhältniß des Deutschen Reichs fest geordnet wurde, 1515 zu Grafencollegien, die jedoch auf dem Reichstag nur Curiat-, nicht Virilstimmen hatten. Die anfängliche Bestimmung dieser Collegien war nur, die Rechte der G-en auf den Reichstagen zu wahren. Solcher Grafencollegien, die bei der Reichstagsversammlung Grafenbänke hießen, gab es bis zum Dreißigjährigen Kriege zwei, nämlich die Wetterauische u. Schwäbische Grafenbank. 1641 kam noch das Fränkische u. Westfälische Grafencollegium hinzu; sie hielten ihre Versammlungen (Grafentage) entweder jede einzeln od. vereinigt durch Abgeordnete. Da diese erblichen G-en allgemein zu dem hohen Adel gerechnet wurden, so strebten andere Adelige ebenfalls darnach, die Grafenwürde zu erlangen u. von dem Kaiser zu Reichsgrafen erhoben zu werden. Wirklich erhob der Kaiser nach u. nach viele edle Familien in den Reichsgrafenstand u. dehnte diese Erhebung auch auf manche Nachbarländer aus, wo, wie in Polen, der Adel nur einerlei Rang besaß u. also einen Grafentitel, um solchen zu erhöhen, sehr schätzte. Um sich ihren Rang gegen diese neuen G-en. zu sichern, ließen sich entweder die alten G-en in den Fürstenstand erheben, od. sie nannten sich alte u. wirkliche Reichsgrafen u. prätendirten den Titel Erlaucht. Daher wurde, bes. als nach dem Lüneviller Frieden u. nach der Auflösung des deutschen Reichsverbandes 1806 die G-en völlig aufhörten, souverän zu regieren, indem sie mediatisirt als mittelbare Standesherren fortdauerten, 4) G. bloßer Titel für die nach dem Freiherr nächste höhere Stufe des Adels; doch behielten die ehemaligen reichsunmittelbaren G-n (Reichsgrafen) nach Bundesbeschluß vom 13. Febr. 1829 das Prädicat Erlaucht fort; s. diese Familien unter Erlaucht. Die Erhöhung in den Grafenstand ertheilte sonst nur der Kaiser, später auch Preußen, Dänemark u. andere Reichsfürsten, die außer Deutschland noch ein unabhängiges Gebiet besaßen. In neuester Zeit ist das Recht zu adeln u. den Grafentitel zu ertheilen ein Theil der, jedem deutschen Bundesfürsten zustehenden Souveränetät geworden. Dem jetzigen[529] G. entspricht das französische Comte u. das englische Earl.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 529-530.
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