Eötvös

[855] Eötvös (spr. öttwösch), 1) Joseph, Baron von Vásárosnemény, ungar. Schriftsteller und Staatsmann, geb. 13. Sept. 1813 in Ofen, gest. 3. Febr. 1871, Sohn des Juristen und ob seiner Strenge gefürchteten königlichen Kommissars Ignaz E. (1786–51), machte 1825–31 in Pest philosophische und juristische Studien, ward 1834 Vizenotar des Weißenburger Komitats, 1835 Konzipist bei der ungarischen Hofkanzlei an der Seite seines Vaters und 1837 Distriktsassessor zu Eperies, widmete sich aber bald darauf ausschließlich der Literatur. Seit 1830 veröffentlichte er mehreres Poetische, namentlich die Lustspiele: »Kritikusok« (»Die Kritiker«) und »Házasulók« (»Die Heiratslustigen«) und die Tragödie »Boszú« (»Rache«), die von einer ungewöhnlichen Begabung zeugten. Während des Reichstags von 1832 weilte er in Preßburg, wo Kölcsey auf ihn aufmerksam wurde. Nachdem er auf ausgedehnten Reisen den höhern Kulturzustand Mittel- und Westeuropas kennen gelernt hatte, schloß er sich nach seiner Heimkehr der jungmagyarischen Reformpartei an. Nun kämpfte er für Beschränkung der Munizipalgewalten und ihrer veralteten Gerechtsame, für die Kräftigung der Zentralgewalt, für die Verbesserung der Zivil- und Kriminalgesetzgebung, für Gleichstellung der Nationalitäten und Konfessionen. In dieser Richtung war namentlich sein Buch über »Gefängnisreform« (Pest 1838, deutsch 1842) von Erfolg. Auf dem Reichstag von 1839/40 erregte seine Beredsamkeit Bewunderung; bald darauf gab er die Broschüre »Gleichberechtigung der Juden« heraus (1841). In dem Streit zwischen Széchenyi und Kossuth hielt er es mit letzterm. Dies beweisen die für Kossuth veröffentlichte Schrift »Kelet népe és a Pesti Hirlap« (Pest 1841), seine im »Pesti Hirlap« u. d. T.: »Reform« erschienenen Artikel (besonders gedruckt, Leipz. 1846) und seine Kulturromane »A Karthausi« (»Der Kartäuser«, Pest 1838–41; deutsch, 8. Aufl., Wien 1890, 2 Bde.), »A falu jegyzöje« (»Der Dorfnotär«, Pest 1844–46, 3 Bde.; deutsch von Joh. Majláth, 3. Aufl., Wien 1872; von Weilheim in Reclams Universal-Bibliothek; engl. von Wencksten, 1850; ital. von Ign. Helfy, 1855), worin das ehemalige ungarische Komitatsleben geschildert wird. Sein »Magyarország 1514-ben« (»Ungarn im J. 1514«, Pest 1847–48, 3 Bde.; deutsch von Dux, das. 1850), worin er den Bauernaufstand Dózsas mit meisterhafter Treue und Lebensfrische schildert, ist trotz ihres durchaus nicht einwandfreien Stiles von folgenreicher Wirkung. Im Streit der liberalen Munizipalisten und doktrinären Zentralisten hielt es E. mit den letztern. Nachdem die Märzrevolution 1848 seine Partei aus Ruder gebracht hatte, trat E. als Kultus- und Unterrichtsminister in das neue ungarische Kabinett Batthyány, sah sich aber durch die Ultramontanen in der Durchführung seiner Pläne zur Hebung des Unterrichtswesens mannigfach gehemmt und nahm bei Ausbruch der Septemberrevolution (11. Sept.) seine Entlassung. Er begab sich, an der Zukunft verzweifelnd, nach München, wo er in Zurückgezogenheit die Ausarbeitung seines bedeutendsten Werkes: »Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat« (ungar., Pest u. Wien 1851–54, 2 Bde.; deutsch, Wien u. Leipz. 1851–54, 2 Bde.), begann. Mit diesem Buche trat er in die Reihe der individualistischen Staatsphilosophen, wie Wilhelm v. Humboldt, Tocqueville u.a., die insbes. an der Hand der Erfahrungen der französischen Revolution vor den Gefahren einer zentralisierten Demokratie warnen, die nur zum Despotismus führe. In der Erhaltung der Selbstverwaltung, der historischen Entwickel ung der Nationalitäten, erkennt er die Bürgschaft nicht nur für persönliche Freiheit, sondern auch für den Kulturfortschritt überhaupt. Ähnliche Gedanken mit besonderm Bezug auf die österreichischen und ungarischen Nationalitätsverhältnisse enthält die kleinere Schrift. »Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Österreich« (2. Aufl., Wien 1851). Indessen fand er mit seinen Ansichten bei seinen Landsleuten (er war 1851 nach Ungarn zurückgekehrt) nicht sofort den gewünschten Anklang, und die wiederholten Abweisungen, welche die von ihm geführte Partei mit ihren Ausgleichungsvorschlägen in Wien erfuhr, machten ihm seinen Standpunkt den unversöhnlichen Autonomisten gegenüber immer schwieriger. Während dieser Zeit veröffentlichte er den Roman »Die Schwestern« (1857; deutsch von Dux, 1858) und die politische Schrift »Die Garantien der Macht und Einheit Österreichs« (1.–4. Aufl., Leipz. 1859), worin er für die Pflege des ständischen Elements und Wiederherstellung der Provinzialverfassungen in den österreichischen Staaten auftritt. Auf dem Reichstag von 1861 vertrat er in glänzender Rede den Standpunkt Deáks. Während des Provisoriums gab er (seit 1865) das »Politische Wochenblatt« (Politikiai Hirlap) heraus. Als es 1867 Deák gelang, den Ausgleich zwischen Ungarn und Österreich zustande zu bringen, schloß sich ihm E. freudig an, wirkte auf dem wieder zusammengetretenen ungarischen Reichstag mit allem Eifer für dessen Durchführung und trat nach deren Vollendung 13. Febr. 1867 zum zweitenmal als Kultus- und Unterrichtsminister unter Andrássy in das ungarische Kabinett. Fortan war sein eifrigstes Bemühen der Hebung des Schulwesens gewidmet, die er durch sehr energische und glückliche Maßregeln, wie Einführung des Schulzwanges, Erklärung der Gemeindeschule zur konfessionslosen Volksschule, Verbannung des Konfessionalismus, Gründung von Lehrerbildungsanstalten,[855] pädagogischen Vereinen, Bibliotheken etc., zu bewerkstelligen wußte. Auch die Mittelschulen und die Pester Universität gedachte er in den Kreis seiner Reformen zu ziehen, als ein plötzlicher Tod seinem segensreichen Wirken ein Ziel setzte. Er wurde mit großen Ehren in Ercsi beigesetzt. Das von ihm entworfene Religionsgesetz, das allen Staatsbürgern das Recht freier Religionsübung gewährleistet, trat erst nach seinem Tod in Kraft. E. war seit 1856 zweiter, seit 1866 erster Präsident der von ihm neuorganisierten ungarischen Akademie und seit 1847 Präsident der Kisfaludy-Gesellschaft und bis an seinen Tod ein treuer Anhänger und Förderer der Wissenschaft. Seine akademischen Gedenkreden auf die hervorragendsten ungarischen Dichter und Schriftsteller (»Magyar irók és államférfiak«, gesammelte Ausg., Budap. 1868) gelten als literarische Musterstücke, wie er denn auch als Redner eine glänzende Begabung besaß, die ihn in der parlamentarischen Debatte ebenso bewundert wie gefürchtet machte. Noch sind zu erwähnen: »Die Nationalitätenfrage« (1865; deutsch von M. Falk, 1865; 2. Ausg. 1888) und eine u. d. T. »Gondolatok« (»Gedanken«; deutsch, 3. Aufl., Wien 1878) veröffentlichte Sammlung philosophischer, literarischer und politischer Aphorismen, die hohes Ansehen genießt. Eine Gesamtausgabe von E.' Werken erschien 1870 in Budapest (14 Bde.), eine neue Ausgabe in 20 Bänden ist gegenwärtig im Erscheinen; eine Sammlung seiner politischen Reden erschien 1875 u. 1886, 2 Bde. Sein Denkmal (Bronzestatue von Huszár) wurde 25. Mai 1879 in Budapest enthüllt. Seine jüngste Tochter, Marie, ist seit 1886 mit dem österreichischen Exfinanzminister Ernst v. Plener (dem jüngern) vermählte. Eine mit einem Internat verbundene Anstalt für Lehramtskandidaten in Budapest führt seinen Namen (»E.-Kollegium«); auch das Pensionsinstitut der ungarischen Volkslehrer »Eötvösalap« ist nach ihm benannt. – Sein Sohn Roland (Loranto), Baron von E., geb. 27. Juli 1848 in Budapest, studierte in Heidelberg und Königsberg Mathematik und Naturwissenschaft und wurde 1875 Professor für Experimentalphysik an der Pester Universität. 1889 wurde er zum Präsidenten der ungarischen Akademie der Wissenschaften erwählt. 1894 bis 1895 war er Minister für Kultus und Unterricht, trat ab er 1895 zurück und übernahm wieder seine Professur. Er ist Kurator des oben genannten E.-Kollegiums.

2) Karl von, ungar. Politiker, geb. 11. März 1842 in Mezö Szent György (Veszprém), war zuerst Professor an der protestantischen Rechtsakademie zu Papa, trat in den Dienst des Komitats, wurde in den Reichstag gewählt und schloß sich hier der Deákpartei an. 1878 von neuem gewählt, trat er der Unabhängigkeitspartei bei, zu deren Präsidenten er 1892 erhoben wurde; lange stand er an der Spitze der Opposition und bewährte sich als schlagfertiger Redner und Journalist. Seit 1887 ist er Mitglied des Reichstags, zugleich der ›48er‹ Partei und gehörte zum Freundeskreis L. Kossúths. Auch dessen Sohn Franz bahnte er den Weg in den Reichstag. 1878 ließ er sich in Budapest als Rechtsanwalt nieder und machte sich 1883 im Tisza-Eszlárer Mordprozeß als Verteidiger bekannt (vgl. seine Schrift »Der große Prozeß«, Budap. 1902). Er veröffentlichte noch (in ungar. Sprache): »Reise um den Plattensee« (Budap. 1900, 2 Bde.), »Gesammelte Erzählungen« (2 Bde.), »Ungarische Gestalten« und »Aus vergangenen Zeiten. Das große Jahr. Franz Deák« (2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 855-856.
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