[8] Kinderernährung. Im Säuglingsalter gibt die Ernährung durch die Milch der Mutter die meisten Garantien für das Gedeihen des Kindes wie für das Wohlbefinden der Mutter (natürliche Ernährung). Wenn die eigne Mutter nicht stillen kann, ist die Ernährung durch eine gesunde Amme der beste Ersatz. Von 100 Kindern, die von der eignen Mutter gestillt wurden, starben früher im ersten Lebensjahr nur 8, von solchen, die von Ammen gestillt wurden, 29 und bei künstlicher Ausfütterung bis zu 47. Die künstliche Ernährung durch Tiermilch und andre Ersatzmittel tritt ein, wenn die natürliche Ernährung aus irgend welchen Gründen nicht möglich ist; sie muß sich möglichst genau den Verhältnissen der natürlichen Ernährung anschließen, sowohl hinsichtlich der Quantität als der Qualität der Nahrung. Hierüber ergeben sich Anhaltspunkte zunächst aus folgender Tabelle.
Das tägliche Nahrungsquantum eines normalen Brustkindes von mittlerm Gewicht beträgt in der
Demnach steigt das Brustkind in den ersten Lebensmonaten sehr rasch mit seinem täglichen Nahrungsquantum an, erreicht das Maximum am Ende des ersten oder am Anfang des zweiten Vierteljahrs; im zweiten Vierteljahr macht sich bereits eine allmähliche Abnahme in der Tagesmenge bemerkbar. Das Maximum schwankt zwischen 900 und 1000 g für den Tag. Für den künstlich zu nährenden Säugling folgt aus obigem Gesetz als einzig naturgemäße Regel, daß die Nahrungsmenge in den drei ersten Monaten kontinuierlich gesteigert werden muß, bis sie schließlich auf 900 g pro Tag angelangt ist, daß dann aber diese Nahrungsgröße nicht mehr wesentlich überschritten werden darf. In der Praxis wird gegen diese Regel sehr häufig verstoßen und eine meist viel, oft sehr viel größere Tagesmenge, bis 1500 g und mehr, den Säuglingen verabreicht. Solche Mengen haben aber schädliche Folgen schon deshalb, weil sie aus rein mechanischen Gründen Erschlaffung des Magens bewirken. Eine solche Ernährungsweise ist auch dann verwerflich, wenn der so behandelte Säugling anscheinend ohne Schädigung seiner Gesundheit davonkommt. Die Größe der Einzelmahlzeiten soll am Ende der ersten Lebenswoche ca. 50 g betragen, die Tagesmenge bei acht Mahlzeiten ca. 400 g. Die entsprechenden Zahlen sind in der zweiten Woche 70 g und 490 g bei sieben Mahlzeiten, in der dritten 80 g und 560 g, in der vierten 100 g und 600 g bei sechs Mahlzeiten. Vom vierten Monat ab wird man 5 bis 6 Mahlzeiten von 150180 g darreichen. Frauenmilch enthält in 100 g 1,01,2 g Eiweiß, 3,54,0 g Fett, 6,57,0 g Milchzucker. Der Nährwert dieser 100 g, in Kalorien (Brennwert) berechnet, ist 70. Das nächstliegende Ersatzmittel für die Frauenmilch ist Tiermilch, die Milch der Eselin, der Ziege und Kuh. Die Milch der Eselin kommt in ihrer chemischen Zusammensetzung der Frauenmilch am nächsten. Den billigsten und bequemsten Ersatz der Frauenmilch bildet die Kuhmilch. Sie darf nur von gesunden und zweckmäßig gefütterten Kühen genommen werden. Es ist ratsam, die Milch nicht ausschließlich von einer Kuh zu nehmen, sondern die Milch von mehreren gesunden Kühen zu mischen, weil sie dadurch gleichmäßiger wird. In Großstädten ist die Beschaffung guter Kuhmilch, namentlich die rasche und reinliche Beförderung der Milch vom Ort der Gewinnung in die Hände der Konsumenten sehr erschwert. Den weniger bemittelten Bevölkerungsklassen ist daher eine rationelle K. mit Kuhmilch nur möglich, wenn der Milchhandel von Vereinen oder den Gemeinden organisiert und beaufsichtigt ist, wie dies neuerdings angestrebt wird. Die Kuhmilch darf nicht abgerahmt werden. Sie enthält in 100 g 3,5 g Eiweiß, 3,5 g Fett und 4,8 g Zucker, woraus sich ein Nährwert von 66,6 Kalorien ergibt. Es besteht also[8] ein großer Unterschied zwischen Frauen- und Kuhmilch insofern, als letztere viel mehr Käsestoff enthält. Dieser gerinnt im Magen des Säuglings zu derben, schwer verdaulichen Flocken, die nur schwer aufgelöst und daher nur mangelhaft verdaut werden können. Um diesen Übelstand, der bei den meisten Kindern zu Magen- und Darmstörungen führen würde, zu vermeiden, verdünnt man die Milch stark mit Wasser. Dann sind die im Magen sich bildenden Milchgerinnsel zwar nicht so feinflockig wie bei der Frauenmilch, aber doch leichter verdaulich. Auch dünner Hafer-, Gersten- oder Maisschleim ist hierzu gut brauchbar. Außerdem kommen noch zahlreiche Unterschiede zwischen dem Eiweiß der Kuhmilch und dem der Frauenmilch hinsichtlich des feinern chemischen Verhaltens in Betracht, aber doch erst in zweiter Linie. Der Grad der zweckmäßigen Verdünnung wird nicht ganz übereinstimmend angegeben. Von den stärkern Verdünnungsgraden (im ersten Monat 1 Teil Milch mit 23 Teilen Wasser, im zweiten 1 Teil Milch auf 1 Teil Wasser) ist man insofern zurückgekommen, als man sehr häufig von Anfang an Milch und Wasser, bez. Verdünnungsflüssigkeit zu gleichen Teilen verwendet. Im zehnten Lebensmonat wird Vollmilch fast ausnahmslos gut vertragen. Ausnahmsweise vertragen Kinder auch von der Geburt an reine Tiermilch ohne Schaden.
In der mit Wasser oder Haferschleim etc. verdünnten Kuhmilch sind nun die Nahrungsstoffe in wesentlich geringerer Konzentration vorhanden wie in der Frauenmilch; um ausreichende Nahrungsmenge zu erhalten, müßte der Säugling ganz unverhältnismäßige Flüssigkeitsmengen trinken. Man sucht daher die in der Mischung in unverhältnismäßig spärlicher Menge enthaltenen Bestandteile, Fett und Zucker, durch künstliche Zusätze zu vermehren. Am bequemsten geschieht dies durch Zuckerzusatz. Rohrzucker eignet sich hierzu weniger, gut dagegen Milchzucker. Die weit verbreitete Heubner-Soxhletsche Vorschrift lautet dahin, die Milch mit 7proz. Milchzuckerlösung zu verdünnen. Doch reicht dieser Zusatz bei weitem nicht hin, der Milch ihren durch die Verdünnung erlittenen Verlust an Nährstoffgehalt zu ersetzen. Stärkerer Milchzuckerzusatz verbietet sich durch abführende Wirkung. Dagegen kann der mit Wasser verdünnten Milch durch Zusatz von Malzzucker und dessen Vorstufen, der Dextrine, der wünschenswerte Nährgehalt ohne ungünstige Nebenwirkungen wieder zugeführt werden (Soxhlets Nährzucker). Etwas schwieriger gestaltet sich der Versuch, der verdünnten Milch durch Fettzusatz zu dem Fettgehalt der unverdünnten Muttermilch, bez. darüber hinaus, zu deren Nährwert zu verhelfen. Biedert empfahl teils zu diesem Zweck, teils um durch Fetteinlagerung die Eiweißgerinnsel lockerer zu machen, Rahmzusatz zur Milch (Biederts Rahmgemenge). Ein nach seiner Vorschrift jetzt fabrikmäßig dargestelltes Eiweiß, Milchfett und Zucker enthaltendes Präparat, Ramogen genannt, besteht aus einer sterilisierten dauerhaften Masse, die durch Auflösung in Wasser, allenfalls unter Zusatz von Milch, jede beliebige Nahrungsmischung unter gebührender Berücksichtigung des Fettes herzustellen gestattet. Reichlicher Fettgehalt bei Verminderung des unerwünschten reichlichen Eiweißgehaltes wird bei der Gärtnerschen Fettmilch und bei der Backhausschen Milch erzielt durch Zentrifugierung der vorher mit Wasser oder Molken verdünnten Milch; der hierbei abzentrifugierte Rahm ist eine vortreffliche Kindernahrung. Durch Zusatz von Labferment (Pagnin, von Dungern) kann man das Milcheiweiß zur Gerinnung bringen und ohne weitere Veränderung durch Schütteln feinflockig verteilen. Zahlreiche andere Milchpräparate und Verfahren, Tiermilch zur Säuglingsnahrung geeignet zu machen, müssen hier übergangen werden. Erwähnt seien nur die Milchkonserven, bestehend in unveränderter, durch komplizierte Verfahren dauernd sterilisierter, d. h. keimfrei gemachter Milch oder ebenso behandelter, zugleich aber durch Wasserverdunstung eingedickter Milch. Solche Konserven dürfen aber, wenn sie zur K. brauchbar sein sollen, nicht mit reichlichem Rohrzucker versehen sein. Lahmanns vegetabile Milch ist aus Mandeln und Nüssen gewonnen, enthält 7 Proz. Eiweiß, 25 Proz. Fett, 42 Proz. Zucker und dient als Zusatz zu einer aus gleichen Teilen Milch und Wasser gemischten Mahlzeit. Stärkemehl kann von Säuglingen nur unvollkommen verdaut werden, da bei ihnen die stärkelösende Kraft des Mund- und Bauchspeichels gering ist. Eine ausgezeichnete Kindernahrung, auch für Säuglinge, hat jedoch Liebig aus Weizenmehl dargestellt, indem er dieses mit Malzmehl und Wasser in der Wärme verrührte, wodurch die Stärke in die leicht verdaulichen Dextrine übergeführt wird. Diese Malzsuppe wird jetzt in Form eines trocknen dauerhaften Extrakts in den Handel gebracht (Liebe). In Dextrin verwandelte Stärke, wie in der Liebigschen Malzsuppe, ist auch der Hauptbestandteil der weitverbreiteten Kindermehle (s. d.), soweit sie gut sind. Sie sind in den spätern Monaten des ersten Lebensjahres gut brauchbar. Die meisten Verdauungsstörungen der Säuglinge rühren daher, daß in die Milch Krankheitserreger gelangen, die sich hier als auf einem vorzüglichen Nährboden, namentlich im Sommer, entwickeln und giftige Stoffwechselprodukte bilden und auch selbst in den kindlichen Körper eindringen und sich hier festsetzen können. Namentlich ist hier der beim Rind und in der Kuhmilch so verbreitete Tuberkelbazillus zu fürchten. Es ist daher erforderlich, die Milch in reinlich gehaltenen Ställen von sorgfältig ausgelesenen Kühen, die möglichst mit Trockenfutter zu füttern sind, zu gewinnen und möglichst schnell dem Verbrauch zuzuführen. Außerdem muß die Milch vor dem Verbrauch durch Kochen von lebensfähigen Krankheitskeimen befreit und dann vor erneutem Eindringen solcher bewahrt werden. Bei der K. erfreut sich das von Soxhlet angegebene Sterilisierungsverfahren der größten Verbreitung. Nach diesem wird die Milch in eigens dazu hergestellten Flaschen, die mit einem Gummiplättchen verschlossen sind, in einem zur Hälfte mit Wasser gefüllten und mit Deckel verschlossenen Topf etwa 10 bis 15 Minuten gekocht. In dem heißen Wasser und dem Wasserdampf werden die Milch und die Flaschen sterilisiert, d. h. die ihnen anhaftenden Bakterienkeime werden getötet. Allerdings überstehen einzelne, besonders dauerhafte, an sich nicht krankheitserzeugende Bakterien diese Erhitzung; aber wenn man die Milch kühl aufbewahrt, beugt man wenigstens für einige Tage ihrer Entwickelung und Vermehrung vor. Längeres Kochen würde die leichte Verdaulichkeit des Milcheiweißes beeinträchtigen. Zum Gebrauch werden die Flaschen durch Eintauchen in warmes Wasser auf den gewünschten Grad erwärmt, der Gummiverschluß wird abgenommen und durch einen Saugstopfen ersetzt. Jede Flasche enthält die je nach dem Alter des Kindes für jedesmal ausreichende Quantität Milch, 150200250 g. Man kocht die für den Tagesverbrauch erforderlichen Flaschen auf einmal. Das Soxhletsche Verfahren ist von außerordentlicher Bedeutung,[9] es schützt, konsequent angewandt, die Kinder vor den so gefürchteten Sommerdiarrhöen und schränkt dadurch die Kindersterblichkeit in hohem Maße ein. Sind bei Kindern Verdauungsstörungen, denen meistens Darm- und Magenkatarrhe zugrunde liegen, eingetreten, so ist häufig schon allein die genaue Befolgung der (vorher meistens vernachlässigten) oben angegebenen Vorschriften, besonders die peinliche Sterilisierung, geeignet zur Heilung zu führen. Häufig vertragen Kinder eine sonst zweckmäßige Kostform schlecht, während sie bei etwas veränderter Nahrung gut gedeihen. Bei ganz kleinen Kindern erfordern alle Darmstörungen größte Fürsorge und rechtzeitige ärztliche Hilfe, da sie sich leicht zu schwerster Krankheit entwickeln können. Treten sie akut auf, so ist häufig kurzdauernde völlige Nahrungsentziehung mit oder ohne Anwendung eines Abführungsmittels das beste, oder man reicht zunächst nur abgekochtes Wasser, dünne Brühen, dünne Mehlabkochungen oder Eiweißwasser. Wird dies erbrochen und verarmt der Körper durch die dünnen Stuhlgänge bedenklich an Wasser, so sind Infusionen von schwacher Kochsalzlösung unter die Haut oft nützlich. Der Wiederbeginn geregelter Ernährung muß langsam und vorsichtig erfolgen. Zur Verhütung solcher Störungen ist auch besonders große Sorgfalt auf die Reinigung des Mundes zu verwenden, um so mehr, je kleiner die Kinder sind. Wird der Mund nach jeder Mahlzeit durch ein reines, in Wasser getauchtes Leinwandläppchen, das man über den Finger stülpt, sorgfältig ausgewischt, so bleibt das Kind von Erkrankungen der Mundschleimhaut verschont. Absolut verwerflich ist die Unsitte, den Kindern sogen. Lutscher (Schnuller, Schlotzer, Zulpe etc.) in den Mund zu geben, weil der Zulp oft stundenlang in der Mundhöhle verbleibt, in saure Gärung übergeht, Pilzbildungen auf der Mundschleimhaut bedingt und katarrhalische Entzündung des Mundes, des Magens und Darmkanals herbeiführt und unterhält.
Die Entwöhnung der Kinder von der Brust der Mutter, bez. der Amme, wird zu verschiedenen Zeiten vorgenommen. Sie muß stattfinden, wenn ein Stillstand oder Rückgang im Gewicht der Kinder anzeigt, daß die Nahrung für dasselbe nicht mehr ausreicht. Gewöhnlich tritt dies im elften Monat ein, oft aber auch viel früher. Auch das Durchbrechen von mehreren Schneidezähnen hat man als geeigneten Zeitpunkt zur Entwöhnung angegeben. Selten wird man länger als 13 Monate das Kind an der Brust ernähren. Am besten ist die allmähliche Entwöhnung unter steigender Zugabe von Kuhmilch.
Im zweiten Lebensjahr spielt ebenfalls die Milch noch die Hauptrolle unter den Nahrungsmitteln. Daneben aber können in steigender Menge Milchbreie mit feinen Mehlen, Reis, weichgekochte Eier, feingeschabtes oder geschnittenes Fleisch, Kakao, Weißbrot gereicht werden. Im dritten Lebensjahr können außer den genannten Nahrungsmitteln zarte Gemüse, Kartoffeln und ähnliches genossen werden. Genußmittel, wie Kaffee, Tee, Wein, Bier, sind als nachteilig aus der Kostordnung junger Kinder gänzlich zu verbannen, auch bei ältern Kindern am besten zu vermeiden. Vgl. Ammon, Die ersten Mutterpflichten (39. Aufl., Leipz. 1905); Biedert, Die Kindernahrung im Säuglingsalter (5. Aufl., Stuttg. 1905); Pfeiffer, Regeln für die Wochenstube etc., 2. Teil (4. Aufl. Weim. 1895); Baginsky, Die Pflege der gesunden und kranken Kinder (3. Aufl., Stuttg. 1885); Sommerfeld, Die chemische und kalorimetrische Zusammensetzung der Säuglingsnahrung (das. 1902); Uffelmann, Handbuch der privaten und öffentlichen Hygiene des Kindes (Leipz. 1881); Czerny und Keller, Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie (Wien 190104, 5 Tle.).
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