Lassalle

[209] Lassalle, Ferdinand, Gelehrter und Begründer der Sozialdemokratie in Deutschland, geb. 11. April 1825 in Breslau, gest. 31. Aug. 1864, Sohn eines reichen israelitischen Seidenhändlers, Lassal (Ferdinand L. schrieb sich »Lassalle« erst nach einem Pariser Aufenthalt im J. 1846), der ihn für den Handelsstand[209] bestimmt hatte und deshalb auf die Leipziger Handelsschule schickte. Aber L., der keine Neigung für den kaufmännischen Beruf hatte, verließ im Sommer 1841 heimlich Leipzig, machte das Abiturientenexamen und studierte nun auf den Universitäten Breslau und Berlin Philosophie, Philologie und Archäologie. Schon während seiner Universitätszeit begann er sein Werk über Heraklit, das ihm die akademische Laufbahn eröffnen sollte. Früh trat er in freundschaftliche Beziehungen zu hervorragenden Gelehrten, so namentlich in Berlin zu A. Böckh, A. v. Humboldt u.a. 1844 ging er auf Reisen und hielt sich einige Zeit in Paris auf. Nach Deutschland zurückgekehrt, lernte er im Winter 1844/45 in Berlin die Gräfin Sophie Hatzfeldt kennen, die mit ihrem Manne im Ehescheidungsprozeß lebte (s. Hatzfeldt 3). Gerührt von dem Unglück der schönen, von ihren Verwandten verlassenen Frau, bot er derselben sein Vermögen und seine Dienste an, begab sich mit ihr nach der Rheinprovinz und führte nun fast 10 Jahre ihre Prozesse mit dem Grafen, die er schließlich auch gewann. L. und die Gräfin lebten dann bis zu seinem Tode fortwährend an denselben Orten und in dem engsten freundschaftlichen Verkehr. In jenem Rechtsstreit wurde L. auch in einen Kriminalprozeß, der seinerzeit viel Aufsehen machte, verwickelt, indem er als intellektueller Urheber des Diebstahls einer Kassette der Mätresse des Grafen, der Baronin von Meyendorff, in der ein für den Fortgang des Prozesses wichtiger Kontrakt aufbewahrt war, angeklagt, aber nach einer glänzenden Verteidigungsrede freigesprochen wurde. 1848 stürzte L. sich in die politische Agitation. Seine Anschauungen waren die der radikalen Demokratie. Unter deren Führern nahm er sofort neben Marx, Freiligrath, Becker etc. einen hervorragenden Platz ein, durch den Verkehr mit Marx wurde er auch zum Sozialisten. Wegen einer zu Neuß gehaltenen Rede 22. Nov. 1848 verhaftet und angeklagt, die Bürger zur Bewaffnung gegen die königliche Gewalt aufgereizt zu haben, wurde er nach sechsmonatiger Untersuchungshaft 3. Mai 1849 von den Geschwornen zu Düsseldorf freigesprochen. Die »berühmte« Assisenrede (»Meine Assisenrede etc.«, Düsseld. 1849) ist von L. nicht gehalten worden. Trotz der Freisprechung wurde aber L. nicht aus dem Gefängnis entlassen, sondern jetzt wegen derselben Rede eines geringern Vergehens, die Bürgerwehr zur Widersetzlichkeit gegen die Beamten aufgefordert zu haben, angeklagt und vom Korrektionstribunal 5. Juli 1849 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Beendigung der Hatzfeldtschen Prozesse (1854) nahm L., zuerst in Düsseldorf, dann in Berlin, wohin er 1857 übersiedelte, seine wissenschaftlichen Studien wieder auf, vollendete sein Buch über »Die Philosophie Herakleitos' des Dunklen von Ephesos« (Berl. 1858, 2 Bde.) und schrieb »Das System der erworbenen Rechte, eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie« (Leipz. 1860, 2 Bde.; 2. Aufl. 1880), zwei Werke, die ihm wegen ihrer Originalität einen geachteten Namen in der Gelehrtenwelt verschafften. Zwischendurch erschien auch sein historisches Trauerspiel »Franz von Sickingen« (Berl. 1859), ein Werk voll kühner, genialer Gedanken trotz aller Schwächen in ästhetischer und formaler Beziehung und von hohem Interesse durch die deutschnationale Gesinnung des Dichters, eines begeisterten Anhängers des deutschen Einheitsstaates. Diese Gesinnung tritt noch stärker hervor in der während des italienischen Krieges erschienenen Broschüre »Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens« (Berl. 1859), in der er die preußische Neutralität Frankreich gegenüber billigte, aber riet, Preußen solle den günstigen Augenblick der Beschäftigung seiner Gegner benutzen, um den Dualismus in Deutschland zu beseitigen und die deutschen Stämme mit Ausschluß Österreichs unter einer nationalen demokratischen Regierung zu einigen, ebenso in der Abhandlung »Fichtes politisches Vermächtnis und die neueste Gegenwart« (in Walesrodes »Demokratischen Studien«, Hamb. 1860) und in seiner Festrede auf Fichte 19. Mai 1862. »Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes« (Berl. 1862). Im März 1862 erschien als eignes Buch eine Kritik der Julian Schmidtschen Literaturgeschichte, zu dem auch der L. nahe befreundete Lothar Bucher als »Das Setzerweib« Beiträge geliefert hat (»Herr Julian Schmidt, der Literarhistoriker«, Berl. 1862). In der Konfliktszeit versuchte L. die Fortschrittspartei zum passiven Widerstand, zur Niederlegung des Mandats in Masse, zu bewegen und hielt auch in diesem Sinne öffentliche Vorträge: »Über Verfassungswesen« (Berl. 1862), »Was nun?« (das. 1862). Da die Fortschrittspartei diese Politik verwarf, glaubte L. die Zeit gekommen, eine eigne demokratische Partei bilden zu können. Er versprach sich einen Erfolg aber nur bei einem Programm, das zugleich Vorschläge über die Lösung der sozialen Frage enthielte. Zu diesem Zweck hielt er 12. April 1862 in einer großen Arbeiterversammlung einen Vortrag: »Über den besondern Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes« (gedruckt u. d. T.: »Arbeiterprogramm«, Berl. 1862). Auf Grund dieses Vortrags wurde L. wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens durch öffentliche Anreizung der Angehörigen des Staates zum Haß gegeneinander angeklagt und 16. Jan. 1863 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, aber in zweiter Instanz freigesprochen. Anläßlich dieses Prozesses veröffentlichte L. folgende Schriften: seine Verteidigungsrede »Die Wissenschaft und die Arbeiter« (Zürich 1863), »Der Lassallesche Kriminalprozeß« (das. 1863), »Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen« (das. 1863). Sein Auftreten für die Arbeiterklasse veranlaßte 10. Febr. 1863 ein Arbeiterkomitee in Leipzig, das damals einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß berufen wollte, sich an L. zu wenden und seine Ansicht über den Kongreß und über die Arbeiterfrage zu erbitten. L. antwortete nach 14 Tagen in einer Broschüre: »Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee etc.« (Zürich 1863), in der er sein sozialistisches Programm entwickelte. Er riet dem Komitee, dies Programm, dessen Hauptpunkt die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Hilfe des Staatskredits war, anzunehmen, den Kongreß nicht zu halten, aber einen allgemeinen deutschen Arbeiterverein zu gründen, der sich zunächst nur die eine Aufgabe stelle, für das allgemeine gleiche direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung zu agitieren, um, wenn dies erreicht sei, mit Hilfe des Stimmrechts die Macht im Staat für den Arbeiterstand zu erlangen und dann das sozialistische Programm durchzuführen. Das Komitee folgte dem Rat, L. wurde von ihm veranlaßt, in Leipzig 16. April (Lassalles Rede »Zur Arbeiterfrage«), in Frankfurt 17. und 19. Mai (»Arbeiterlesebuch«, Frankf. a. M.) und andern Orten zu sprechen; am 23. Mai 1863 wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in Leipzig mit etwa 600 Mitgliedern gegründet und L. zum Präsidenten gewählt. In dieser Stellung entfaltete er eine umfassende agitatorische Tätigkeit, aber seine Erfolge[210] waren sehr gering. Kaum einige tausend Arbeiter gelang es ihm zu gewinnen. Sein Hauptkampf war gegen Bourgeoisie und Liberalismus gerichtet. Dieser Kampf verwickelte L. in eine Reihe von Kriminalprozessen, schließlich sogar in einen Hochverratsprozeß auf Grund einer gedruckten Ansprache: »An die Arbeiter Berlins« (Berl. 1863), in der er ausführte, daß die oktroyierte preußische Verfassung nicht zu Recht bestehe, und die Arbeiter aufforderte, in den Verein zu treten, um diese Verfassung zu stürzen. Er wurde in diesem Prozeß 12. März 1864 freigesprochen, aber in andern verurteilt. Die Agitation hatte Lassalles Gesundheit zerrüttet. Um sich zu stärken, ging er, nachdem er noch im Mai 1864 am Rhein in den ihm ergebenen Arbeiterdistrikten einen Triumphzug gehalten, im Juni 1864 nach der Schweiz. L. traf dort mit Helene v. Dönniges, der Tochter eines bayrischen Diplomaten, zusammen, die, ihm selbst schon von früher her bekannt, damals mit einem Walachen, Janko von Rakowitz, verlobt war. Sein Verhältnis zu dieser Dame führte zu einem Pistolenduell zwischen L. und Rakowitz in Genf 28. Aug. 1864, in dem L. tödlich verwundet wurde. – Die gegenwärtige Sozialdemokratie hat die Ideen Lassalles für veraltet erklärt, und sie mußte dies nach der Entwickelung, die sie genommen, tun; denn die moderne Sozialdemokratie ist international und staatsfeindlich geworden, während der Sozialismus Lassalles durchaus national war. Aber das ändert nichts an der historischen Bedeutung dieses Mannes, die darin liegt, daß er es verstanden hat, in Deutschland zuerst eine nachhaltige Arbeiterbewegung ins Leben zu rufen und den Arbeiterstand für seine eignen Interessen zu begeistern. Sein Bildnis s. Porträttafel »Sozialisten II«. – Außer den erwähnten Agitationsschriften erschienen noch: »Macht und Recht« (Zürich 1863); »Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag« (Düsseld. 1863); »Der Hochverratsprozeß wider Ferdinand L. etc.« (Berl. 1864); »Die Agitation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« etc., Lassalles letzte Rede (das. 1864) und Lassalles letztes wissenschaftliches Werk: »Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit« (das. 1864), eine Polemik gegen die manchesterlichen Anschauungen über die soziale Frage und der Versuch, seinen sozialistischen Standpunkt wissenschaftlich zu begründen. Eine Gesamtausgabe seiner »Reden und Schriften« besorgte im Auftrage des Vorstands der sozialdemokratischen Partei E. Bernstein (Berl. 1891–94, 3 Bde.). Eine neue Ausgabe seiner »Gesamtwerke« (Bd. 1–4, Leipz. 1899–1901) besorgte E. Blum; sein »Tagebuch« (aus der Jugendzeit) gab P. Lindau (Bresl. 1891) heraus. Von Lassalles Briefen sind erschienen: »Briefe an Hans v. Bülow 1862–1864« (Dresd. 1885 u. ö.), an R. Rodbertus (Berl. 1878), an G. Herwegh (Zürich 1896), an Karl Marx und Friedrich Engels (Stuttg. 1902). Vgl. B. Becker, Geschichte der Arbeiteragitation F. Lassalles (Braunschw. 1874); G. Brandes, Ferdinand L. (deutsch, 4. Aufl., Leipz. 1900); A. Aaberg, Ferdinand L. (das. 1883); E. v. Plener, L. (das. 1884); Diehl, Artikel »Lassalle« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaft«, Bd. 5 (2. Aufl., Jena 1900); G. Mayer, L. als Sozialökonom (Berl. 1894); Brandt, F. Lassalles sozialökonomische Anschauungen und praktische Vorschläge (Jena 1895); H. Oncken, L. (Stuttg. 1904); E. Bernstein, Ferd. L. und seine Bedeutung für die Arbeiterklasse (Berl. 1904); Seillière, Études sur Ferd. L. (Par. 1897).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 209-211.
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209 | 210 | 211
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