Spiritismus

[755] Spiritismus (neulat., Spiritualismus), der uralte, in der Neuzeit wieder stark entwickelte Glaube, daß sich die Geister der Gestorbenen unter bestimmten Voraussetzungen den Menschen kundgeben. Solche Kundgebungen werden nur durch bestimmte Mittelspersonen (Medien) vermittelt (daher auch Mediumismus statt S.). Die Art der Kundgebungen ist verschieden. Die gewöhnlichste bilden die Klopftöne: in Gegenwart des Mediums hört man an verschiedenen Stellen, in Tischen, Wänden etc., Klopftöne, durch die man sich mit den Geistern verständigt, indem einmaliges Klopfen Nein, zweimaliges vielleicht, dreimaliges Klopfen Ja bedeutet. Die Verständigung geschieht mitunter auch so, daß beim Klopfen das Alphabet gesagt wird und bei dem von dem Geiste gemeinten Buchstaben das Klopfen aufhört. In dieser Weise werden allmählich ganze Worte buchstabiert.[755] Außer den Klopftönen verursachen die Geister auch Bewegungen, so daß meist in verdunkelten Räumen Gegenstände von einem Ort zum andern gelegt werden; auch wird auf Gitarren, die an Orten liegen, wo sie für das Medium und andre Personen anscheinend unerreichbar sind, gespielt und mit dem Psychographen (s. d.), oder auf einer Tafel, auf die ein Stift gelegt ist, geschrieben. Hierher gehört auch das Tischrücken. Ferner wurden gewisse Phänomene, die für unsre Begriffe vollkommen unverständlich sind, angeblich durch Geister ausgeführt: ein Knoten wird in eine endlose Schnur geknüpft; angeblich solid gearbeitete Ringe verschlingen sich infolge der Durchdringung der Materie; die Schwerkraft wird aufgehoben, so daß z. B. Medien und Tische, anscheinend ohne mechanische Ursache, in die Höhe gehoben werden. Bei den höchsten Phänomen, den Materialisationen, manifestieren sich die Geister der Verstorbenen durch einen sichtbaren Körper: sie sprechen und unterhalten sich mit den Anwesenden. Durch Photographien und Gipsabdrücke wurde festgestellt, daß es sich dabei um Körper und nicht um Halluzinationen handelt.

Die verschiedenen Medien haben ihre besondere Art zu »arbeiten«; fast jedes hat seine Spezialität. Das eine ruft Bewegungen von Gegenständen hervor, Schreibmedien sind für den Psychographen geeignet, Klopfmedien für Klopftöne, andre für Materialisationen. Um Betrug durch die Medien auszuschalten, werden sie gewöhnlich gefesselt, aber fast jedes Medium hat seine eigne Art der Fesselung. Viele Medien fallen beim Eintritt der Phänomene in einen der Hypnose ähnlichen Zustand, Trance (engl., spr. trännß), der zur Kundgebung der Geister notwendig ist. Oft müssen alle Anwesenden Kette bilden, d. h. sich gegenseitig die Hände festhalten, um die »magnetische Strömung« zu verstärken.

Mindestens ein sehr großer Teil der spiritistischen Manifestationen ist auf Betrug durch die Medien und deren Helfershelfer zurückführbar. Ihrer Fesseln wissen sich die Medien sehr gewandt zu entledigen, sie sind aus Fesseln herausgekommen, bei denen alle Anwesenden glaubten, daß es unmöglich sei, und haben dann im Dunkeln allerlei ausgeführt. Nach der Erhellung des Raumes ist das Medium dann wieder in seinen Fesseln, ohne daß die Siegel verletzt sind. Viele Manifestationen, die zuerst durch ein bestimmtes Medium dem Publikum als spiritistische gezeigt wurden, wurden später Gemeingut der Taschenspieler. Klopftöne werden zum großen Teil mechanisch von den Medien erzeugt, mit Vorliebe durch die Zehen. Die angeblichen Geister entpuppten sich nicht selten als weiße, künstlich gefaltete Lappen, die das Medium trotz seiner Fesselung sehr gewandt zu benutzen versteht. Fast niemals unterwerfen sich die Medien strengen wissenschaftlichen Bedingungen, wenn sie es auch vorher versprechen. Mißtrauische Personen werden fast stets entfernt, weil »Skepsis das Zustandekommen der Phänomene stört«. Neben den Betrügereien kommt die Selbsttäuschung der Anwesen den in Betracht. In dem fast ganz verdunkelten Raum unterliegen die Anwesenden häufig allerlei Sinnestäuschungen. Sie glauben Objekte zu sehen, jedes zufällige Geräusch wird für einen Klopston erklärt, und durch ein psychisches Kontagium übertragen die Anwesenden diese Täuschungen auseinander. Ob diese Erklärungsversuche für alle Fälle genügen, kann wegen der Schwierigkeit der Untersuchung noch nicht entschieden werden. Die Spiritisten nehmen an, daß der Geist durch eine ätherartige Substanz (das Perisprit) an den Körper gebunden sei, diesen nach dem Tode (gelegentlich auch im Leben) verlasse und eine selbständige Existenz führe. Manche Personen (die Medien) besitzen einen Überschuß von Perisprit und sind dadurch imstande, freie Geister zu binden, zu materialisieren. Manche Spiritisten glauben, daß Dämonen in unsrer Mitte verkehren (Wesen wie Menschen, aber unter normalen Verhältnissen für unsre Sinnesorgane unsichtbar), und daß sie, nicht aber die Geister der Verstorbenen, den Spuk vollführen. Andre, z. B. Crookes, Wallace, Lombroso, nehmen an, daß eine psychische Kraft von den Medien ausgeht, die imstande ist, Bewegungen von Körpern zu veranlassen; Eduard v. Hartmann nahm an, daß das Medium einen fernwirkenden Einfluß auf alle Anwesenden ausübe und bei diesen dadurch gleichzeitige Halluzinationen bewirke. Der Körper, der bei den Materialisationen auftritt, wird von einzelnen Spiritisten als Astralleib bezeichnet, der unter normalen Verhältnissen eine ätherische Hülle für die Seele sei. – Bei den heutigen Naturvölkern findet sich weit verbreitet der Glaube an die Möglichkeit eines Verkehrs mit den Geistern Verstorbener, er ist um so ausgeprägter, je wilder und roher die Völker sind (vgl. Schamanismus). Auch im Altertum und im Mittelalter spielt dieser Glaube eine große Rolle; er wurde neu erweckt im 18. Jahrh. durch Swedenborg und durch die Lehre vom tierischen Magnetismus und erhielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. neue Nahrung durch die Schellingsche Naturphilosophie. Der neuere S. begann mit den Klopftönen der Geschwister Fox in Hydesville bei New York 1848. Von hier aus verbreitete sich das Geisterklopfen. woran sich die Tischrückerei an schloß, allmählich weiter, gewann in Nordamerika eine außerordentliche Verbreitung und kam auchn ach Europa. Der Mathematiker Hare, der Richter Edm on ds in Amerika beschäftigten sich viel mit der Frage. Andreas Jackson Davis verfaßte in Amerika eine große Anzahl Schriften, angeblich durch Inspiration. In Frankreich suchte Allan Kardec in Paris den S. populär zu machen und teilte die Geister in eine größere Zahl von Gruppen. In England haben sich, wie schon erwähnt, hervorragende Männer der Wissenschaft, wie Wallace, Crookes, mit der Frage beschäftigt und haben zum Teil die Richtigkeit der Phänomene anerkannt, sie aber auf die psychische Kraft zurückzuführen versucht. In Deutschland hat der russische Staatsrat Aksákow durch die »Psychischen Studien« (Leipz. 1874 ff.) literarisch für die Ausbreitung gewirkt, ebenso Perty, Zöllner, du Prel und Hellenbach. Auch die von 1886–96 erschienene Zeitschrift »Die Sphinx«, herausgegeben von Hübbe-Schleiden, hat dem S. zu dienen versucht. Vgl. »Bibliothek des Spiritualismus für Deutschland« (hrsg. von Aksakow, ins Deutsche übersetzt von Wittig), daraus besonders das Werk »Animismus und S.« (2. Aufl., Leipz. 1894); Crookes, Der S. und die Wissenschaft (deutsch, 3. Aufl., das. 1898); Wallace, Die wissenschaftliche Ansicht des Übernatürlichen (deutsch, das. 1874) und Eine Verteidigung des modernen Spiritualismus (deutsch, das. 1875); J. H. Fichte, Der neuere Spiritualismus (das. 1878); Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen (das. 1877–81, 4 Bde.); Kiesewetter, Geschichte des neueren Okkultismus (das. 1891–94, 2 Bde.); Baudi di Vesme, Storia dello spiritismo (Turin 1896; deutsch, Leipz. 1898–1900, 3 Bde.); E. v. Hartmann, Der S. (2. Aufl., Leipz. 1898) und Die Geisterhypothese des S. (das. 1891); Hennig, Wunder und Wissenschaft, Bd. 2. Der moderne Spuk- und Geisterglaube (Hamb. 1906);[756] auch die Schriften von Perty und Prel; »Zeitschrift für S.« (das., seit 1897, seit 1899 vereinigt mit den »Neuen spiritualistischen Blättern«); »Wahres Leben«, Organ deutscher Spiritualistenvereine (Leipz., seit 1390); »Spiritistische Rundschau«, Organ des deutschen Spiritualistenbundes (Chemn., seit 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 755-757.
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