Öffentlichkeit u. Mündlichkeit

[228] Öffentlichkeit u. Mündlichkeit, in dieser Zusammenstellung gebraucht, charakterisirt eine bestimmte Form des Proceßverfahrens. Ö. u. M. kann stattfinden sowohl in Civil- als in Strafsachen. A) Im Strafverfahren. Das öffentlich-mündliche Strafverfahren bildet den Gegensatz zu dem geheimen u. schriftlichen. Mit Rücksicht darauf, daß in dem ersteren die Erhebung u. Durchführung der Anklage stets einer von dem Strafrichter verschiedenen Person übertragen ist, während in dem letzteren sich Ankläger u. Richter in ein u. derselben Person vereinigt finden, wird jenes auch das accusatorische od. Anklageverfahren, dieses das inquisitorischeod. Untersuchungsverfahren genannt. Diese principielle Verschiedenheit der Proceßform bei den einzelnen Arten des Strafverfahrens bezieht sich jedoch nur auf die Hauptuntersuchung, wo das in der Voruntersuchung gesammelte Material dem erkennenden Richter zur Fällung seiner richterlichen Entscheidung vorgeführt wird, denn in der Voruntersuchung, wo das Beweismaterial für das Geschehensein der verbrecherischen That u. für die Schuld od. Unschuld des dieses Verbrechens Bezichtigten blos gesammelt wird, ist auch bei dem sogenannten öffentlich-mündlichen Strafprocesse das Verfahren, mit nur wenigen Ausnahmen, ein schriftliches u. nicht öffentliches. Die Mündlichkeit, die Voraussetzung der Öffentlichkeit, im Strafprocesse ist gleichbedeutend mit Unmittelbarkeit. Im mündlichen Strafverfahren nämlich erfährt der erkennende Richter die Umstände, auf welche er sein Urtheil bauen soll, nicht auf dem Wege der Acten u. durch Berichterstatter daraus, sondern er vernimmt den Angeklagten selbst über die demselben zur Last gelegte Beschuldigung; Zeugen u. Sachverständige müssen persönlich vor ihm erscheinen u. in Gegenwart des Angeklagten ihre Angaben machen; Abweichungen verschiedener Angaben unter sich werden durch persönliche Gegenüberstellung der Aussagenden auszugleichen gesucht; der erkennende Richter schöpft unmittelbar aus der Quelle, welche seiner Beurtheilung unterworfen ist, u. die schriftliche Aufzeichnung beschränkt sich hier auf die Aufnahme eines kurzen Protokolls über den Verlauf der Sitzung. Wo einmal das Princip der Mündichkeit im Strafverfahren eingeführt ist, wird an demselben auch streng festgehalten, u. es ist meist bei Strafe der Nichtigkeit untersagt, an Stelle mündlicher Vernehmung eines Zeugen od. Sachverständigen die Verlesung der von demselben in der Voruntersuchung abgegebenen [228] Aussagen eintreten zu lassen. Ausnahmen hiervon finden nur statt bei Zeugen u. Sachverständigen, welche verstorben, od. verschollen, od. sonst auf keine Weise zum persönlichen Erscheinen vor Gericht zu bringen sind, od. als Soldaten im Felde stehen, zunächst auch bei den Mitgliedern der fürstlichen Häuser. In diesen Fällen werden bei der mündlichen Hauptverhandlung die in der Voruntersuchung gemachten Angaben aus den Acten verlesen. Das Wesen der Öffentlichkeit besteht darin, daß bei der Hauptuntersuchung alle Verhandlungen, also die erhobene Anklage, die Vernehmung des Angeklagten, die Angaben der Zeugen, die Aufnahme des gesammten Ansehuldigungs- u. Entlastungsbeweises überhaupt, die Vertheidigung u. zuletzt die Verkündigung des Urtheils nicht allein in Gegenwart der unmittelbar dabei Betheiligten, sondern auch unter Zulassung des Publicums erfolgen. Ausnahmen hiervon in letzter Beziehung pflegen nur dann einzutreten, wenn durch die Öffentlichkeit der Verhandlung die Sittlichkeit verletzt werden würde. Indeß erfolgt auch in diesen Fällen wenigstens die Verkündigung des Endurtheils in öffentlicher Sitzung. Überhaupt machen manche Gesetze Beschränkungen rücksichtlich des zuzulassenden Publicums, indem sie nicht jeder unbetheiligten Person den Zutritt verstatten, sondern nur Erwachsenen, od. nur Erwachsenen, welche im Vollgenusse der bürgerlichen Ehre sind, od. auch nur bestimmten Kategorien von Personen, wie Richterbeamten, Anwälten etc. B) Im Civilprocesse. Was hier zunächst die Mündlichkeit anlangt, so ist dieselbe nur von untergeordneter Bedeutung. Im Criminalproceß kann das Princip der Mündlichkeit in seiner ganzen Reinheit durchgeführt, im Civilproceß kann dagegen eine schriftliche u. bindende Grundlage nicht entbehrt werden. Die Verschiedenheiten, die hier stattfinden, sind begründet in der Verschiedenheit der Rechte, welche in beiden Processen verfolgt werden, u. in dem Unterschiede zwischen absoluter u. relativer Wahrheit. Im Criminalprocesse handelt es sich um die unverzichtbaren Rechte des Lebens, der Freiheit u. Ehre. Um über sie zu entscheiden, sollen alle Mittel aufgeboten werden, absolute Wahrheit zu erreichen. Das Object des Civilprocesses dagegen sind frei veräußerliche Rechte der Parteien, auf welche sie beliebig ganz od. zum Theil verzichten können. Hier ist nur das zu entscheiden, was zwischen den Parteien streitig ist; was sie bindet, bindet auch den Richter; der Richter hat nur das zu prüfen, was die Parteien ihm vortragen, er hat nur relative Wahrheit festzustellen. Eben weil aber die Erklärungen der Parteien den Richter binden u. ihm die Grenzen seiner Thätigkeit festsetzen, müssen diese Erklärungen der Parteien mittelst der Schrift fixirt werden. Eben so muß, um für die höheren Instanzen die Grundlagen des zu fällenden Urtheils zu sammeln, der Inhalt der Beweisthümer, bes. die Aussagen der Zeugen, in Schriften aufbewahrt werden. Alles Übrige dagegen, namentlich die Deductionen der Parteien zu Begründung ihrer Anträge, kann Gegenstand der mündlichen Verhandlung mittelst Reden vor versammeltem Gericht sein. Doch sind neuere Civilproceßgesetze noch weiter gegangen, indem sie die Abgabe der wechselseitigen Erklärungen in Termine verlegt haben, in welchen von den Parteien mündlich verhandelt wird u. die Erklärungen nur zu Protokoll gegeben werden.

Dadurch wird das Verfahren bedeutend abgekürzt. Ein Auskunftsmittel für schwierigere Processe bleibt auch bei dem letzteren Princip damit gegeben, wenn es den Parteien verstattet wird, ihre Erklärungen (Klagen, Einreden etc.) vor dem Termine schriftlich einzugeben u. sich darauf dann in den Terminen zu beziehen. Da Öffentlichkeit mit Schriftlichkeit unvereinbar ist, so ist die erstere auch im Civilprocesse so weitausgeschlossen, als schriftliches Verfahren stattfindet, für das mündliche Verfahren ist sie dagegen zulässig.

Bei den Griechen u. Römern gehörte die Verfolgung von Rechtsansprüchen, so wie von Anklagen wegen Verletzungen, zu den gemeinsamen Angelegenheiten, welche mündlich verhandelt u. vor Allen berathen u. entschieden wurden. Das Volk selbst übte in Volksgerichten die Richtergewalt, u. hier mit war Ö. u. M. von selbst geboten. Auch als unter den römischen Kaisern mit dem allmäligen Untergange bürgerlicher Freiheit die alten Quaestiones u. Criminalvolksgerichte verschwanden, die Zahl der Crimina extraordinaria sich häufte u. ständige Richter erkannten, erhielten sich dennoch Ö. u. M. mit Anklageproceß, welche sich auch noch im Strafproceß der justinianischen Zeit vorfinden; s. Rom (Ant.), Griechenland (Ant.), Athen (Ant.). Auch bei den Deutschen war die richterliche Gewalt ursprünglich nur bei dem Volke, welches unter dem Vorsitz königlicher Beamten (Comites, Missi dominici) in den großen Volksgerichten Anfangs in voller Versammlung entschied, bis später aus den erfahrensten u. ältesten Mitgliedern der Gemeinde eine gewisse Zahl von Schöffen sich bildete. Das Verfahren war durchweg öffentlich u. mündlich u. mit Anklageproceß verbunden. Die Verwandlung des öffentlichen u. mündlichen Processes in den geheimen u. schriftlichen schreibt sich von der Rechtspflege beim Päpstlichen Stuhl u. der Inquisitionsgerichte her, deren Praxis die im Jahre 1532 erschienene Peinliche Halsgerichtsordnung aufnahm u. noch weiter ausbildete. Zunächst gab Papst Innocenz III. dem Verfahren in Sachen der geistlichen Gerichtsbarkeit dadurch eine veränderte Gestalt, daß er die Untersuchung von Amtswegen (Inquisition) einführte. Die weitere Ausbildung dieser Proceßart übernahm nun die Praxis. Die geistlichen Gerichte, welche nicht unabhängig von dem Oberhaupte der Kirche waren, mußten diesem Oberhaupte Kenntniß von allen Verhandlungen geben, u. hierin lag der Grund, warum die damals noch mündlichen Verhandlungen in Schriften aufbewahrt wurden. Bald entwickelte sich nun so in den geistlichen Gerichten ein Gemisch sich durchkreuzender, halb mündlicher, halb schriftlicher Verhandlungen. Mit der Aufnahme des kanonischen Processes in die weltlichen Gerichte ging auch dies Verfahren in die letzteren über, bis durch die Peinliche Halsgerichtsordnung das mündliche Verfahren sowohl für den damals noch beibehaltenen Anklage- als für den Untersuchungsproceß aufgehoben u. an deren Stelle das Princip der Schriftlichkeit gesetzt wurde. Mit der Mündlichkeit verschwand die Öffentlichkeit des Verfahrens von selbst. Das öffentlich-mündliche Verfahren ist auf deutschem Boden zuerst wieder in denjenigen Ländern eingeführt worden, welche durch Napoleon I. unter französische Herrschaft gebracht wurden. Jetzt ist es in den meisten deutschen Staaten wieder eingeführt worden. In England haben sich neben dem Schwurgerichte die altgermanischen [229] Institutionen der Ö. u. M. sowohl im Civil- als im Criminalverfahren unausgesetzt erhalten u. zwar in einer Ausdehnung, daß selbst ein Theil der Voruntersuchung mit Rücksicht darauf, daß über die Versetzung in den Anklagestand dort durch Geschworene (Anklage-Grand Jury) erkannt wird, öffentlich u. mündlich verhandelt wird. Frankreich hatte fast dasselbe Schicksal wie Deutschland. Auch dort wurde erst durch Decrete vom 4., 6., 8. u. 11. August 1789 das öffentlich-mündliche Gerichtsverfahren wieder eingeführt u. besteht seitdem uneingeschränkt fort. In Strafsachen ist Ö. u. M. keineswegs nothwendig mit Schwurgerichten verbunden, so wurde z.B. im Königreich beider Sicilien durch Gesetz vom 21. Nov. 1819, in Parma durch Gesetz vom 13. Dec. 1820, in Toscana durch Gesetz vom 23. Aug. 1838, im Königreich Sardinien im Jahre 1840, im Königreich der Niederlande im Jahre 1837 u. im Königreich Preußen, jedoch nur versuchsweise für Berlin durch Gesetz vom 17. Juli 1846, Ö. u. M. im Strafverfahren, aber ohne Geschworene eingeführt, vgl. Geschwornengericht. Für Civilsachen galt in Deutschland außer in denjenigen Theilen, in welchen das Französische Recht gilt, auch in Preußen theilweise für einzelne Proceßarten seit 1833 mündliches u. bedingt öffentliches Verfahren, welches seit 1847 auch auf andere Proceßarten ausgedehnt worden ist. Vgl. Hadamar, Die Vorzüge der öffentlich-mündlichen Rechtspflege, Mainz 1815; Mittermaier, Die öffentlich-mündliche Strafrechtspflege u. das Geschwornengericht in Vergleichung mit dem deutschen Strafverfahren, Landsh. 1819; Gutachten der königlich preußischen Immediatcommission über das öffentlich-mündliche Verfahren in Untersuchungssachen etc., Berl. 1819; Grävell, Prüfung des Gutachtens der Immediatcommission, Lpz. 1819; Feuerbach, Über Ö. u. M., Gießen 1821–25; Klain, Gedanken vor der öffentlichen Verhandlung der Rechtshändel, Gött. 1825; Jagemann, Die Öffentlichkeit des Strafverfahrens, Heidelb. 1835; Leue, Der mündlich-öffentliche Anklageproceß, Aachen 1840; Hepp, Anklageschaft, Ö. u. M. des Strafverfahrens, Tüb. 1842; Braun, Hauptstücke des öffentlich-mündlichen Strafverfahrens, Lpz. 1845; Jagemann, Der Gerichtssaal, Zeitschrift für volksthümliches Recht, bes. für öffentlich-mündliches Verfahren etc., 4. Jahrg., Erlang. 1849–52.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 228-230.
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