Criminalgericht

[528] Criminalgericht (Judicium poenale, J. criminale), diejenige Behörde, welcher verfassungsmäßig die Ausübung der Criminalgerichtsbarkeit in einem bestimmten Bezirke u. über bestimmte Personen od. Verbrechensfälle übertragen ist. Da in Deutschland für den Criminalproceß, wie für den Civilproceß der Grundsatz besteht, daß dieselbe nicht von dem Inhaber der Justizhoheit ausgeübt werden darf (Verbot der Cabinetsjustiz, s.d.), so ist das Bestehen besonderer C-e für jeden deutschen Staat eine Nothwendigkeit. Dagegen kommt es oft genug vor u. ist sogar durchgängige Regel, daß die Ausübung der Criminalgerichtsbarkeit u. der Civilgerichtsbarkeit denselben Gerichten im Staate anvertraut ist. Eine ganz gleiche Einrichtung der C-e hat in Deutschland nie bestanden, doch lassen sich gewisse allgemeine Grundzüge der Criminalgerichtsverfassung allerdings aufstellen, wobei man indessen zwischen dem Systeme des gemeinen Criminalprocesses u. dem Systeme der neueren Strafproceßordnungen zu unterscheiden hat. I. Für das System des gemeinen Criminalprocesses besteht ein Unterschied zwischen Untersuchungsgerichten, denen nur die Führung der Untersuchung übertragen ist, u. erkennenden Gerichten, welche darauf das Urtheil zu sprechen haben. A) Die untersuchenden Gerichte werden, od. wurden (da die Einrichtung in den meisten Ländern sich geändert hat) hier durch die zugleich mit der Civilgerichtsbarkeit, Polizei u. anderen Verwaltungsgeschäften betrauten Untergerichte mit den verschiedenen, aber ganz dasselbe besagenden Namen von Bezirksämtern, Landgerichten, Amtsgerichten, sowie durch die ihnen gleichgestellten Stadtgerichte u. Patrimonialgerichte gebildet. Nur in einigen Staaten bestanden für die Führung der Untersuchung besondere Gerichte, wie z.B. in Sachsen-Weimar, u. in Preußen die Inquisitoriate, welche als ständige Deputationen des bei den Oberlandesgerichten eingerichteten Strafsenates betrachtet wurden. Die Untersuchungsgerichte hatten die Untersuchung von Amtswegen vor besetzter Gerichtsbank zu führen, wozu der Regel nach die Gegenwart folgender Personen nothwendig ist: a) die des Richters (Criminalamtmann, Strafrichter, in Preußen Inquirent), welcher den ganzen Proceß leitet; b) des Criminalgerichtsschreibers (Actuar, s.d.), welcher über alle zur Untersuchung gehörenden Vorgänge entweder förmliches Protokoll od. eine kürzere Registratur niederzuschreiben, u. alle den Criminalproceß betreffenden Schriften in ordentliche Acten zu sammeln hatte; c) mehrere Schöppen (Scabini, Gerichtsassessoren, Gerichtsbeisitzer), welche als Urkundspersonen zur größeren Solennität u. zur größeren Beglaubigung der in ihrer [528] Gegenwart vorgenommenen Handlungen zugezogen werden, bei minder wichtigen Acten aber auch fehlen konnten. War die Untersuchung beendigt, so wurden die Acten an das erkennende Gericht eingesendet. B) Als erkennende Gerichte erster Instanz bestanden nach dieser Einrichtung dieselben Hof- od. Appellations- od. Kreisgerichtshöfe, Justizkanzleien od. Landesjustizcollegien, welche in der Regel für die Civilsachen zugleich das Gericht zweiter Instanz bildeten. Diese Gerichte, collegialisch eingerichtet, entschieden in Versammlungen von mindestens 3, oft auch verfassungsmäßig von 5 Mitgliedern. Über ihnen standen wieder die ebenfalls collegialisch eingerichteten Oberhof- u. Appellationsgerichte od. Obertribunale, an welche als Gerichte letzter Instanz die Entscheidung dann gelangte, wenn wider das Erkenntniß des ersterkennenden Gerichtes appellirt wurde. Die Hof- u. Appellationsgerichte bildeten auch die Instanz über einzelne Anfragen u. Beschwerden, die gegen das Untersuchungsgericht ergingen, sowie sie überhaupt die nächstaufsehende Gewalt über alle Untersuchungsgerichte ihres Bezirkes ausübten. Über geringere Vergehen war auch wohl nach einigen Verfassungen den Untersuchungsgerichten selbst die Entscheidung eingeräumt. Die Execution der ergangenen Urtheile fiel jedenfalls wiederum den Untersuchungsgerichten zu. Mit dieser gemeinrechtlichen Gerichtsverfassung ließen sich II. die Grundsätze der neueren Strafproceßordnungen nicht vereinigen. Die frühere Gerichtsverfassuug war auf Heimlichkeit u. Schriftlichkeit des Verfahrens berechnet, während die neueren Strafproceßordnungen auf Öffentlichkeit u. Mündlichkeit basirt sind. Wie dieselben hierbei im Ganzen dem Muster des französischen Code d'instruction criminelle (s. u. Code u. Criminalproceß) gefolgt sind, so war man daher auch genöthigt, im Wesentlichen A) die französische Gerichtsverfassung anzunehmen. Entsprechend der Eintheilung der strafbaren Handlungen in die drei Klassen der Crimes, Délits u. Contraventions beruht dieselbe auch auf einer Dreitheilung der C-e, indem a) die Aburtheilung der bloßen Polizeiübertretungen (Contraventions), welche Strafen von nicht über 15 Fr. od. 5 Tage Gefängniß nach sich ziehen, vor die Friedensrichter (Juges de paix); b) die der Zuchtpolizeifälle (Délits), welche mit Strafen bis zu fünfjähriger Einsperrung bedroht sind, den Tribunalen erster Instanz (Tribunaux de police correctionelle); c) die der übrigen, mit Leibes-, Lebens- od. entehrenden Freiheitsstrafen belegten eigentlichen Verbrechen (Crimes), den Assisenhöfen (Cours d'assises) überwiesen sind; neben ihnen besteht noch d) der Cassationshof (s.d.). Die Friedensgerichte bestehen aus dem Friedensrichter als Hauptperson, einem Greffier als Gerichtsschreiber u. daneben einem Localpolizeibeamten, welcher die Functionen des öffentlichen Anklägers versieht u. als solcher die Stellung der Strafanträge besorgt. In gewissen Fällen übt neben ihnen in solchen Gemeinden, die nicht zum Hauptort des Cantons erklärt sind, auch der Gemeindebürgermeister (Maire) eine concurrirende Criminalgerichtsbarkeit, wenn nämlich eine Polizeiübertretung in Rede ist, die im Umfange seiner Gemeinde von Personen begangen wurde, welche man entweder auf frischer That ertappt hat, od. welche wenigstens in der Gemeinde wohnhaft u. anwesend sind. Bestand die zuerkannte Strafe in Gefängniß od. Geldstrafe von mehr als 5 Fr., so steht dem Verurtheilten noch eine Appellation an das Zuchtpolizeigericht offen. Diese, die Zuchpolizeigerichte, erkennen in einem Collegium von 3 Richtern. Bezüglich der vor ihnen zu verhandelnden Vergehen wird die Untersuchung zunächst durch ein Mitglied als Untersuchungsrichter geleitet; nach deren Schluß erkennen sie zugleich als Rathskammer (Chambre de conseil) in geheimer Sitzung über die Zulässigkeit od. Unzulässigkeit der vom Staatsprocurator erhobenen Anklage, u. im Falle der Zulässigkeit in öffentlicher Sitzung, in welcher die Sache mündlich verhandelt wird, unter Zuziehung eines Greffier, über das Vergehen selbst. Gegen alle u. jede Urtheile der Zuchtpolizeigerichte kann an den Appellhof (Cour d'appel) appellirt werden, welcher alsdann in der Zahl von 5 Richtern entgültig entscheidet. Aus den Appellhöfen gehen auch die Assisenhöfe hervor. Hat sich aus der bei dem Tribunal erster Instanz geführten Untersuchung ergeben, daß ein Verbrechen (Crime) in Frage ist, so gelangt die Sache zunächst an die Anklagekammer des Appellhofes (Chambre de mise en accusation), welche mit 5 Richtern, ähnlich der Rathskammer des Tribunals erster Instanz, darüber entscheidet, ob die Anklage für begründet zu erachten u. deshalb zur Hauptverhandlung vor den Assisenhof zu verweisen sei. Dieser wird dann durch den Präsidenten des Appellhofes in der Weise gebildet, daß derselbe einen Präsidenten u. 2 rechtsgelehrte Richter ernennt, welche dann in Verbindung mit den 12 Geschworenen (s. u. Geschworenengericht) die Sache in thatsächlicher u. rechtlicher Beziehung zu entscheiden haben. Der Cassationshof tritt nur als Gerichtshof über etwa bei der Verhandlung vorgekommene Nichtigkeiten ein. In gleicher Weise findet sich nun dem analog B) in den deutschen Ländern a) als unterste Instanz für die geringeren Übertretungen Einzelgerichte, welche hier nur gewöhnlich mit den Ämtern od. Landgerichten verbunden sind; b) für die Vergehen collegialisch organisirte Mittelgerichte unter dem Namen Kreis- od. Bezirks-, auch Zuchtpolizei- od. correctionelle Gerichte; c) für die Verbrechen höhere Landesgerichte (Appellations-, Ober-, Hof-, Oberlandesgerichte), aus denen dann auch, wie in Frankreich, die Schwurgerichte, wenn dieselben überhaupt nach der Strafproceßordnung angenommen sind, durch Anordnung des Präsidenten hervorgehen; endlich d) der höchste Landesgerichtshof als Cassations- u. Revisionsinstanz. Innerhalb dieser Gerichte werden die Behörden für Instruction der Untersuchung, sowie für die Beurtheilung der Anklage durch besondere Abtheilungen (Senate od. Kammern) u. bezüglich durch Anordnung eines Untersuchungsrichters bestellt. Da, wo schon in erster Instanz collegialisch eingerichtete Untergerichte bestehen, wie z.B. in Preußen, wird auch der Einzelrichter für die Übertretungen als ein Deputirter aus der Mitte dieses Gerichtes genommen. Verschieden ist die Grenzlinie festgestellt, innerhalb deren die einzelnen Gerichte thätig zu werden haben. Im Allgemeinen herrscht dabei das Streben vor, die Competenzen der Einzelrichter u. der Mittelgerichte mehr auszudehnen, als in Frankreich, u. dagegen die Competenzen der Schwurgerichte[529] od. der ohne solche erkennenden oberen Landesgerichte zu beschränken. Vgl. Geschworenengericht.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 528-530.
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