Juden

[505] Juden, vorherrschender Name der Hebräer seit dem 70jährigen Exil; über die Geschichte der J. in Palästina von Cyrus Zeit bis auf Hadrian (534 v. Chr. bis 138 n. Chr.) s. die Art. Hebräer, Jerusalem, Makkabäer (Jonathan, Judas, Simon), Herodes, Hoher Priester, Barkochba, Hadrian. – Die Geschichte der J., welche sehr zahlreich in abgeschlossenen Colonien oder vereinzelt in den babylonischen Ländern zurückblieben, eigene Exilfürsten bekamen und lange vor Christus bis China sich ausbreiteten, ist dunkel und fabelhaft wie die Geschichte eines jüdischen Reiches in Arabien oder die des jüdischen Reiches der Chazaren (Gazzari s. Katarrher) am kaspischen Meer. Die seit der Zerstörung Jerusalems in alle Länder versprengten J. haben gar keine Geschichte mehr, sondern nur einen beständigen vielgestaltigen Wechsel von Duldung und Verfolgung von Seite des herrschenden Volkes. Im Ganzen bleibt richtig: 1. Die J. hatten im Morgenlande weniger zu dulden als im Abendlande, weil ihr orientalisches Wesen dorthin paßt, das Christenthum dort keinen dauernden Gegensatz bildete und ihrem rührigen Geschäftsgeiste der des herrschenden Volkes selten feindselig begegnet. 2) Ihre Abgeschlossenheit u. Feindseligkeit gegen die Christen ist nicht etwa die Frucht von Verfolgungen, denn abgeschlossen bleiben die Juden auch da, wo sie Duldung und sogar Gleichberechtigung haben und ihr Haß gegen die Christen hat sich von Anbeginn an bei jeder Gelegenheit, namentlich zur Zeit der Christenverfolgungen durch die heidnischen Römer. Neuperser und Mohammedaner, Luft gemacht. 3) Allerdings trug der religiöse Fanatismus der christlichen Völker namentlich in den Zeiten der Kreuzzüge zur Verfolgung der J. bei, indem sie als Nachkommen der Mörder Jesu Christi, als ein von Gott gekennzeichnetes Volk und als Urheber alles öffentlichen Unglücks betrachtet wurden, allein die Kirche als solche ist dem Verfolgungsgeist entschieden entgegengetreten. Anderseits haben die J. denselben durch ihr Benehmen und einzelne Verbrechen, besonders auch durch ihren Wuchergeist, gegen sich aufgestachelt. [505] – Die J. im Orient lebten nach der Zerstörung Jerusalems unter den Neupersern ziemlich ruhig, kämpften mit diesen gegen die Römer und erst im 5. Jahrhundert trafen sie schwere Verfolgungen, verschlimmerten sie ihr Loos durch Aufstände unter der Anführung eines falschen Messias. Als viele bis Kranganor u. Kochin in Indien auswanderten, waren noch genug übrig, um mit den Neupersern 610 n. Chr. Jerusalem zu erobern und die Christen daselbst zu ermorden. Der Mohammedanismus vertrug sich anfangs gut mit den J. und begnügte sich später damit, dieselben niederzuhalten und große Abgaben von ihnen zu erpressen. Unter den Khalifen hatten die J. ihre geistlichen und weltlichen Oberhäupter, viele gelangten zu Einfluß u. Macht, ihre Literatur blühte und als im 10. Jahrhundert ihr letzter Geon (Schulvorstand). Hiskia, hingerichtet worden und namentlich in Aegypten eine von 996–1021 v. Chr. dauernde Verfolgung ausbrach, kam für sie unter den Mauren in Spanien eine goldene Zeit (s. Jüd. Literatur u. Schulwesen), und namentlich war es das Finanz- und Münzwesen, was durch sie besorgt wurde. Die Kreuzzüge brachten auch im Orient Bedrängnisse, zumal die J. mit den Saracenen gegen die Christen zusammenhielten, doch war die Verfolgung keine allzustrenge und eine vorübergehende. – Unter der Römerherrschaft litten die J. durch Marc Aurel (161–180), aber unter diesem Kaiser gewannen sie doch ein s. g. Patriarchat zu Tiberias, das bis 429 n. Chr. bestand. Septimius Severus (193 bis 211) verfolgte die J., weil sie zu den Parthern gehalten. Konstantin d. Gr. sah sich veranlaßt, ihnen bei Todesstrafe zu verbieten, Christen und namentlich J.christen zu verfolgen, christliche Sklaven zu halten und Proselyten zu machen. Unter Konstantius führte ein Aufstand der J. zu Verheerungen in Palästina; Julianus Apostata (361 bis 363) gab ihnen Gelegenheit, ihren Christenhaß zu bethätigen und sie versäumten nichts, was die kurze Regierungszeit dieses Kaisers zuließ. Unter Theodosius und dessen Nachfolgern hatten die J. keinen Anlaß, über besondern Druck zu klagen, dagegen brachen mit Justinian (527–565) schlimme Zeiten auch im Abendland für sie herein. Nicht nur daß er selbst vom Grundsatze ausging, die J. alle Staatslasten mittragen und ihnen dagegen keinen Vortheil zu lassen, so verschlimmerte sich durch seine Siege ihre Lage in Italien. wo die Ostgothenherrschaft ihnen günstig gewesen war. Als die Westgothen unter Reccared ihrem Arianismus entsagten, wurden nicht nur Justinians Gesetze auf die J. angewendet, sondern denselben sogar die öffentliche Feier ihres Gottesdienstes untersagt. In Gallien, wo sie mit den Gothen gegen Chlodwig (481 bis 511) gekämpft, hatten sie ein rauhes Loos sich selber vorbereitet und Dagobert I. (622–638) ließ ihnen lediglich zwischen Auswanderung und Bekehrung die Wahl. Unter den Karolingern dagegen war die Lage der J. mehr als erträglich; Karls d. Gr. Gesandter bei Harun al Raschid war ein J. Ludwig d. Fr. erlaubte den Juden sogar den Sklavenhandel. Mit dem 11. Jahrhundert aber begannen im Abendlande überall Verfolgungen, die in größerem Maßstabe bis 1745 währten, u. deren Nachklänge bis in die neueste Zeit hereinreichen. In Spanien richteten 1064 die Mauren zu Granada ein Blutbad unter den J. an und kurz darauf beschloß der christliche König Ferdinand, einen Feldzug gegen das maurische Sevilla mit der Ermordung aller J. einzuleiten. Uebrigens standen die J. im christlichen Spanien unter dem Schutz der Könige u. Bischöfe, hatten eigene Stadtviertel (Juderia) inne, dazu eigene Gerichtsbarkeit, konnten Grundstücke erwerben u.s.w. Die Verfolgung von Toledo 1212 war eine vereinzelte Erscheinung, dagegen kamen um 1320 von Frankreich aus durch die s. g. Pastorellen (Hirten, welche vorgaben einen Kreuzzug machen zu wollen) u. 1328 in Navarra schreckliche Verfolgungen der J., wie dies in der Zeit der Kreuzzüge und in dem durch öffentliches Unglück ausgezeichneten 14. Jahrhundert in ganz Europa geschah. Kreuzzüge begann der Auswurf der Kreuzfahrer gerne mit Ermordung[506] der J. einer Gegend. die einen Christen gekreuziget eine Hostie entweiht, die Brunnen vergiftet haben sollten u.s.w., letzteres namentlich im 14. Jahrh., wo die J. 1348 an den Erdbeben am Rhein sowie am schwarzen Tod, der allenthalben wüthete, schuld sein mußten. Nur sofortige Bekehrung und Geldopfer retteten viele vom Untergang; bei den Königen fanden sie Schutz gegen unerschwingliche Abgaben und wurden am Ende doch aus vielen Ländern verjagt; am erträglichsten ging es ihnen noch in Italien. indem Päpste, Bischöfe u. Heilige z.B. Bernhard gegen die J.verfolgungen eiferten, sowie im deutschen Reich, wo sie als Kammerknechte des Kaisers Schutz fanden u. von den Kaisern nur in Bezug auf ihre besondern Abgaben, den s. g. J.zins, abgetreten u. verkauft wurden. J.verfolgungen in Frankreich im 11. Jahrh. heftiger im 12., ebenso im 13. durch die Könige Philipp August, Ludwig IX. und Ludwig X., Vertreibung durch Philipp den Schönen 1306 u. 1311, abermals durch Karl VI. 1393, und bis 1550 blieb Frankreich den J. verschlossen. Aus Spanien wurden sie weit später als aus Frankreich, nämlich 1492 (s. Ketzergericht, weltliches), vertrieben, in Folge dessen aus Sicilien verjagt, durch Emanuel d. Gr. 1496 aus Portugal; wiederholte Vertreibung aus Spanien 1603. In Italien wurden wie überall nur die bekehrten J., die s. g. Neuchristen (Maranos in Spanien) u. Verbrecher der Inquisition unterworfen; den eigentlichen J. war Neapel von 1540 bis 1740 verschlossen, dagegen lebten sie in Rom ruhig in ihrem Judenviertel (Ghetto) und mußten sie wie überall besondere Abzeichen auf den Kleidern tragen, so genossen sie dafür an vielen Orten z.B. in Livorno große Vortheile. Aus der Schweiz und vielen deutschen Städten wurden die Juden in der Mitte des 14. Jahrhunderts vielfach vertrieben, nachdem sie 1096 namentlich in Köln. Mainz, Worms und Speier, im 12. Jahrhundert in Böhmen, später in München, durch die Horden eines Ritters Rindfleisch und nachher durch die eines Bauern Armleder, 1346–47 namentlich zu Frankfurt a. M. verfolgt worden waren. Seit der Reformationszeit waren Philipp von Hessen, Georg II. von Brandenburg und andere protestantische Fürsten wie Städte nichts weniger als tolerant gegen die J.; 1614 wurden sie wiederum in Frankfurt und noch 1819 zu Frankfurt, Meiningen u.s.w. verfolgt, doch wurde man in protestant. Gegenden allmälig sehr tolerant gegen sie, während die Katholiken mehr oder minder in den Stand der alten Schutz-J. herabgedrückt blieben, namentlich in Schweden. Norwegen. Dänemark, in Basel, lange genug in England. In den Niederlanden fanden die aus Spanien einwandernden J. besonders 1603 ein erträgliches Asyl. J.verfolgungen in England 1189, 1279; Vertreibung durch Eduard I. (1272 bis 1297), die bis 1663 dauerte. Aus Osteuropa (in der heutigen europäischen Türkei, in Ungarn und Siebenbürgen waren die Juden sehr frühe zahlreich) wie aus Deutschland u. der Schweiz wanderten die J. in Polen u. Rußland ein. Sie wurden 1648 vorübergehend verfolgt, 1745 aus Rußland vertrieben, doch kamen sie wieder zurück, sind namentlich in Polen sehr zahlreich (wohl 1 Mill. 200000), haben fast den ganzen Groß- und besonders den Kleinhandel sinne, gelten mit ihren zahllosen Schnapsschenken als eine wahre sittliche Landplage des gemeinen Mannes und wurden in neuester Zeit von Rußland zur Militärpflicht gezogen. Während noch im 17. Jahrhundert die J.verfolgungen sich auf Amerika erstreckten, indem die J. 1654 aus Brasilien vertrieben wurden. begann im 18. Jahrhundert im Gegensatz zu den Kreuzzugszeiten das Naturalisiren u. Emancipiren der J. schaft und ihr Ringen darnach. Schon 1753 ging in England eine Naturalisationsbill durch, aber noch 1853 scheiterte die s. g. J. bill, die den J. den Eintritt ins Parlament verschaffen sollte. In Oesterreich ließ Maria Theresia durch ihre »J.ordnung« den J. manche Freiheit, Kaiser Joseph II. ersetzte die Beschränkungen der J.ordnung mildere. Nachdem die J. als »Bekenner des alten Testamentes« in Nordamerika [507] Gleichberechtigung mit den Christen erlangt, machte die französ. Revolution 1791 die J. zu Vollbürgern, Napoleon J. schien das große Sanhedrin von Paris (1807) zum Mittelpunct der J.schaft der ganzen Erde machen zu wollen. Nach dem Muster der ersten französ. Republik erhob 1796 die batavische die J. zu Vollbürgern, laut dem Willen Napoleons J. gab Hieronymus Napoleon 1808 den J. des Königreichs Westfalen volles Bürgerrecht und errichtete in Kassel ein jüdisches Consistorium. Auch Preußen emancipirte sie 1812; in Dänemark wurden sie 1814 so ziemlich naturalisiert, in Bayern hob man 1813, in kleinern deutschen Staaten vorher und nachher, frühere Beschränkungen der J.schaft auf. In Spanien dürfen die J. seit 1837 wieder leben; ob die Adresse von 1855, die aus Deutschland an die spanischen Cortes erging, hinsichtlich der J.emancipation guten Erfolg haben werde, ist noch nicht entschieden. Das Jahr 1848 brachte in Frankreich J. Ministerportefeuilles, anderseits brachen, namentlich im Elsaß, wo von den 60000 J. Frankreichs viele leben, Unruhen gegen die J. aus, weil dieselben trotz aller Emancipation nicht Gewerbe und Ackerbau, sondern Wucher und Schacher zum Hauptgeschäfte machen, gegen die Christen fest zusammenhalten, die Uebertragung von Gemeindeämtern an sie zum Volksaussaugen mißbrauchen sollen u. dgl. In Deutschland waren 1848 die politischen Theoretiker fast allenthalben für volle Emancipation der J., doch wurde vielfache Unzufriedenheit im Volk dagegen laut. mancherorts (z.B. im badischen Oberland), mußten J.verfolgungen unterdrückt und Zugeständnisse aus jener Zeit seit 1850 wieder mehr oder minder zurückgenommen werden, während an vielen Orten selbst das Jahr 1848 den J. das Niederlassungsrecht nicht oder nur scheinbar gab. Von 3600000 J., welche Zahl auf Erden leben soll, finden sich mindestens 350000 in Deutschland, 250000 in Ungarn und Siebenbürgen. Hinsichtlich der J. emancipation ist zu bemerken, daß dieselbe unmöglich gute Früchte haben kann, so lange die J. J. bleiben (s. Col-Nidre) oder – wie das s. g. Jungisrael gethan – jede positive Religion abwerfen und verfolgen, endlich daß sich der Katholik schon aus Gründen seiner kirchlichen Gesetzgebung nicht für die Emancipation erklären kann. – Vgl. Josts allgem. Gesch. des jüdischen Volks, Berlin 1831–32, 2 B.; den Artikel J. in der Encyklopädie von Ersch u. Gruber. II. Sect. 27. B.; Klübers deutsches Bundesrecht.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S. 505-508.
Lizenz:
Faksimiles:
505 | 506 | 507 | 508
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Die Nächste und andere Erzählungen 1899-1900

Die Nächste und andere Erzählungen 1899-1900

Sechs Erzählungen von Arthur Schnitzler - Die Nächste - Um eine Stunde - Leutnant Gustl - Der blinde Geronimo und sein Bruder - Andreas Thameyers letzter Brief - Wohltaten Still und Rein gegeben

84 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon