Finnen

[581] Finnen, ein Zweig der mongolischen Rasse und des uralaltaischen Sprachstammes, dessen Ursitze im Ural und Altai lagen, und die heute noch über ganz Nordwestasien und Nordeuropa und in Europa noch weiter südlich wohnen. Man teilt den finnischen Stamm in folgende vier Familien: 1) die ugrische (Ostjaken, Wogulen, Magyaren); 2) die wolga-bulgarische (Tscheremissen und Mordwinen); 3) die permische (Permier, Syrjänen und Wotjaken); 4) die finnische im engern Sinn (europäische F., Esthen, die fast gänzlich erloschenen Liven und die Lappen). Die meisten der hierher gehörigen Völker haben schon seit grauer Vorzeit durch den Einfluß zivilisierter Völker sich als Viehzüchter und Ackerbauer an ein ansässiges Leben gewöhnt. Nur die Ostjaken und Wogulen sowie die Lappen haben ihr Renntiernomadenleben fortgesetzt. Einzelne der sinn ischen Völker haben das Christentum und mit ihm auch die Zivilisation des Abendlandes angenommen. Zwei sind auch in der Geschichte handelnd aufgetreten und haben selbständige Staaten gebildet: die Magyaren und Bulgaren (s.d.). Während aber die Bulgaren ihre Sprache und Nationalität eingebüßt und diejenige ihrer Unterworfenen, der südlichen Slawen, angenommen haben, ist es den Magyaren gelungen, beide zu behaupten. Die F. haben heute einen sehr gemischten Charakter. Während der Völkerwanderung vermischten sich türkische Völter mit ihnen; andre F., schon früher in Europa wohnhaft, erfuhren germanische und slawische Einwirkung; endlich beteiligten sich an dieser Vermischung noch nordsibirische Völker. Der Körperbau ist meist stark, die Statur aber klein, ihr Kopf fast rund, die Stirn wenig entwickelt, niedrig und gebogen, das Gesicht platt; die Backenknochen sind vorstehend, wie bei den übrigen Mongolen, die Augen meist grau und schräg gestellt; die Nase ist kurz und flach, der Mund hervortretend; die Lippen sind dick, der Nacken ist sehr stark, so daß der Hinterkopf fast eine gerade Linie mit dem Genick bildet; der Bart ist schwach und zerstreut, das Haar schwarz, auch braun, rot und blond, die Gesichtsfarbe bräunlich. Mit Ehrlichkeit und Gastfreiheit, Treue und Beharrlichkeit nebst einem empfindlichen Sinn für persönliche Unabhängigkeit verbinden sie Starrsinn, Rachsucht und Unbarmherzigkeit. Zu welchen Zeiten die F. von ihren Verwandten in Asien (Samojeden, Sojoten etc.) sich losgerissen haben und in Nordeuropa eingewandert sind, ist schwer zu bestimmen. Jedoch muß dieses geraume Zeit vor Beginn unsrer Zeitrechnung geschehen sein, da Ptolemäos und Tacitus sie unter dem Namen Fenni und Phinni ungefähr in ihren heutigen Wohnsitzen gekannt haben. Über die Sprache der F. vgl. den besondern Artikel »Finnische Sprache uno Literatur«.

F. im engern Sinn oder Tschuden sind die am nördlichen und östlichen Gestade des Baltischen Meeres verbreiteten Stämme. Sich selbst nennen sie Suomalaiset, ihr Land Suomi, was nach einigen als Sumpfvolk und Sumpfland zu deuten ist; den europäischen Namen F. haben sie von den deutschen Nach barn erhalten, und dieser hängt mit Fenn (Torfmoor) zusammen. Diese baltischen F. haben sich vielfach mit Germanen und Slawen vermischt und von ihnen eine Anzahl Wörter für Kulturwerkzeuge und mit den Wörtern auch die Gegenstände selbst entlehnt. Als Haustiere züchteten sie nur den Hund, das Pferd und das Rind; von Getreidearten bauten sie nur Gerste. Im Sommer lebten sie in Lederzetten, im Winter in halb unterirdischen Jurten, wie alle Polarvölker der Alten Welt. Wohnsitze und Anzahl der F. im engern Sinn und der zu ihnen gehörigen Karelier, Liven und Esthen s. in diesen Artikeln und im Art. »Russisches Reich«. Die Charaktereigenschaften der eigentlichen F. decken sich im allgemeinen mit den oben geschilderten der F. überhaupt. Ein Hauptzug des finnischen Nationalcharakters ist Achtung vor fremdem Eigentum. Als Schatten seiten desselben sind Jähzorn und Rachsucht zu bezeichnen. An mechanischen Geschicklichkeiten fehlt es den F. nicht. Bemerkenswert ist ihre Siedelungsweise: sie wohnen fast nirgends in Dörfern, sondern in Einzelhöfen, inmitten ihrer Felder und Wiesen. Die Wohnungen der F., »Pörten« (pirtti) genannt, boten sonst einen abschreckenden Anblick dar; jetzt findet man in den meisten Gegenden gute Holzhäuser mit reinlichen Zimmern. Das Baden ist eine Nationalsitte der F., und fast jeder Bauer hat neben seinem Haus eine besondere Badestube. Tracht und Sitten haben manches Besondere und Altnationale, z. B. die Hochzeitsgebräuche. Die christlichen Feste werden z. T. mit großem Jubel und lustigen Spielen und Aufzügen gefeiert, Weihnachten besonders mit Wohlleben, Allerheiligen ist zugleich das Erntefest. Die F. besitzen eine reiche und schöne alte Volkspoesie (s. Finnische Sprache und Literatur), wie denn das Volk noch heute viel Neigung zur Naturdichtung zeigt. Die finnischen Bauern führen z. T. Familiennamen, z. T. hängen sie, wie die schwedischen Bauern, dem Vornamen das Wort poika (»Sohn«) an (z. B. Juhaupoika); auch nennen sie sich nach dem Namen des Hofes, den sie gerade bewohnen. Die eigentlichen F. bekennen sich zur lutherischen Konfession, eine verhältnismäßig sehr geringe Zahl ist für die griechisch-russische Lehre gewonnen (vgl. Finnland). Sie leben vorzugsweise von Ackerbau, Viehzucht und Fischerei.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 581.
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