Sand [4]

[536] Sand (spr. ßang, auch ßangt), George, mit dem eigentlichen Namen Aurore Dupin, verehelichte Dudevant, franz. Romanschriftstellerin, geb. 2. Juli 1804 in Paris, gest. 7. Juni 1876, die Tochter eines französischen Offiziers, dessen Mutter die natürliche Tochter des Marschalls Moritz von Sachsen war, verlebte auf dem Familiengut Nohant in Berri eine frische Dichterjugend, kam dann in die Pension der englischen Augustinerinnen zu Paris, wo sie drei Jahre (1817 bis 1820) verweilte, und verheiratete sich, nach Nohant zurückgekehrt, 1822 mit dem Baron Dudevant. Die Ehe war indessen keine glückliche, und nach neun Jahren begab sich die Frau, im Einverständnis mit ihrem Gatten, für die Hälfte des Jahres nach Paris, um endlich eine ihren geistigen Bedürfnissen angemessene Atmosphäre zu atmen, nebenbei auch, um sich Geld zu verdienen. Nachdem sie sich in verschiedenen Industrien (Übersetzungen, Handarbeiten, Malen auf Nippsachen etc.) ohne großen Erfolg versucht hatte, wagte sie sich auf Zureden ihres Freundes Jules Sandeau (s. d.) an die Romanschriftstellerei, zunächst in Gemeinschaft mit Sandeau. Ihr gemeinsames Werk »Rose et Blanche« (unter dem Pseudonym Jules Sand, 1831, 5 Bde.) hatte indessen keinen durchschlagenden Erfolg. Um so mehr Bewunderung errang die Schriftstellerin mit dem nächsten, von ihr allein geschriebenen Roman »Indiana« (1832). Sie nannte sich George S. (weil George der Spitzname ihrer[536] Landsleute von Berri ist) und hat diesen Namen für immer beibehalten. Noch in demselben Jahr erschien »Valentine«, im folgenden »Lélia«, zwei Werke, die einen wahren Sturm glühender Sympathien wie auch leidenschaftlicher Opposition erregten. Im Sommer 1833 unternahm S. mit dem Dichter Alfred de Musset, der sich zu ihr mächtig hingezogen fühlte, eine Reise nach Venedig; aber noch in der Lagunenstadt, wo Musset schwer erkrankte, erfolgte der Bruch des an Zwischenfällen aller Art reichen Verhältnisses, über das sich S. selbst in »Le secrétaire intime« (1832), »Les lettres d'un voyageur« (1834) und viel später in »Elle et lui« (1859) ausgesprochen hat, und zwar in dem letztern Werke so rücksichtslos, daß der Bruder des Dichters, Paul de Musset, ihr in »Lui et elle« noch viel unbarmherziger antwortete (s. Musset). Die »Lettres d'un voyageur«, in denen auch Liszt und die Gräfin d'Agoult unter sehr durchsichtiger Maske auftreten, zeigen das beschreibende Talent der Verfasserin in ihrem vollen Glanz. S. erlangte 1836 endlich auch die gerichtliche Scheidung von ihrem Manne, dem sie später noch eine namhafte Summe ausbezahlte. Von Romanen waren »Jacques« (1834), »Leone Leoni« (1835), »André« (1835) und »Simon« (1836) zu den frühern hinzugekommen. Unter den Berühmtheiten, die sich um den Umgang der Dichterin bewarben, sind besonders Chopin, Lamennais, der Republikaner Michel de Bourges und der Sozialist Pierre Leroux namhaft zu machen. Zu dem Erstgenannten trat sie in ein intimes, lange andauerndes Verhältnis und begleitete ihn 1838 auf einer zur Wiederherstellung seiner Gesundheit unternommenen Reise nach Mallorca, die sie in »Un hiver à Majorque« (1842) beschrieb. Während der Jahre 1833 bis 1838 füllten die Romane: »Lavinia«, »Metella«, »Mathéa«, »La marquise«, »Mauprat«, »La dernière Aldini«, »Les maîtres mosaïstes«, »L'Uscoque« die Spalten der »Revue des Deux Mondes«. Unter dem Einfluß Lamennais' und der beiden demokratischen Denker, zu denen vorübergehend auch der Sozialist Cabet trat, entstanden daneben die »Lettres à Marcie« (1837 im »Monde« erschienen), ferner der unerquickliche mystische Roman »Spiridion« (1839) und das Phantasiestück »Les sept cordes de la lyre« (1840). Als sich S. mit der »Revue des Deux Mondes« überworfen hatte (1841), gründete sie mit Leroux, Viardot, Lamennais etc. die »Revue indépendante«, schrieb die mehr oder weniger politischsozialistischen Romane: »Le compagnon du tour de France« (1840), »Le meunier d'Angibault« (1845), »Le péché de M. Antoine« (1847), »Consuelo« (1842, 8 Bde.), ihr großartigstes Werk, dessen Fortsetzung die »Comtesse de Rudolstadt« (1843, 5 Bde.) bildet, ferner: »Pauline« (1841), »Horace« (1842), »Isidora« und »Teverino« (1846) und »Lucrezia Floriani«, »Le Piccinino« und »Le château des désertes« (1847) und bereicherte die Literatur ihres Landes mit Dorfgeschichten, wie: »Mouny-Robin« (1841), »Melchior« (1841), »Jeanne« (1844), »La mare an diable« (1846), »François le champi« (1847) und »La petite Fadette« (1849), kleinen Meisterwerken, die ein großer Kritiker die »französischen Georgiken« genannt hat. Die Fackel der Revolution von 1848 zündete im Herzen der Dichterin gewaltig. Sie gründete eine Wochenschrift: »La cause du peuple«, schrieb für Ledru-Rollin Bulletins und Zeitungsartikel, erließ die schwärmerischen »Lettres an peuple« und trug mit schwerem Herzen die bald folgende Ernüchterung, obgleich sie zu dem Kaiser Napoleon III., der aus der Gefangenschaft von Ham einen Briefwechsel mit ihr angeknüpft hatte, während der ganzen Dauer seiner Regierung in zwar reservierten, aber freundschaftlichen Beziehungen stand. Ihre Arbeitslust und Arbeitskraft blieben ihr treu, ja ihre Kunst zeigt sich in den spätern Schöpfungen vielfach reiner als in den Werken ihrer von Leidenschaften und krankhaften oder überspannten Ideen bewegten Jugend, so in: »Mont Revêche«, »La filleule«, »Les maîtres sonneurs« (1853). Ihre zahlreichen dramatischen Dichtungen finden sich gesammelt im »Théâtre de Nohant« (1864) und »Théâtre complet« (1866–67, 4 Bde.). Von Romanen sind aus der spätern Zeit noch zu erwähnen: »Le marquis de Villemer« (1861); »Mademoiselle de la Quintinie« (1863; gegen Feuillets »Sibylle« gerichtet); »Laura« (1865); »La confession d'une jeune fille« (1865); »Monsieur Sylvestre« (1866); »Pierre qui roule« (1870); »Mademoiselle Azote« (1870); »André Beauvray« (1870). Die zuerst in der »Presse« erschienene Autobiographie der Schriftstellerin: »Histoire de ma vie« (1854–55, 20 Bde.) befriedigte trotz ihrer Ausführlichkeit die gehegten Erwartungen nicht; die psychologischen und philosophischen Erörterungen überwuchern den historischen Kern. Sie starb als Freidenkerin, wie sie gelebt hatte, auf ihrem Schlosse Nohant. In La Châtre bei Nohant wurde ihr 1881 ein Denkmal (von Millet), zur Hundertjahrfeier ihres Geburtstages 1904 ein solches (von Sicard) im Garten des Palais Luxembourg in Paris errichtet; 1877 wurde ihre Statue (von ihrem Schwiegersohn Clésinger) im Foyer des Théâtre-Français aufgestellt. In ihren Werken erscheint George S. mit einer Tiefe des Blickes, zugleich mit einer Kraft, die gewonnenen Eindrücke zu gestalten, begabt wie noch selten eine ihres Geschlechts. Liebe, in und außer der Ehe, Politik, Volkswirtschaft, Religion, das Höchste für den Menschen wie für die Völker, erfüllt ihre Seele und führt ihre Feder, und viele ihrer Schöpfungen sind durch und durch nur zu sichtlich von der Tendenz getränkt. Am größten ist die Dichterin gleichwohl da, wo sie sich tendenzlos dem Zug ihres Genius für Darstellung des Naturlebens und des menschlichen Treibens überläßt, wie in »Consuelo« und namentlich in ihren reizenden Dorfgeschichten. Noch sind der Vollständigkeit wegen ihre »Souvenirs« (1862) und »Autour de la table« (1862), Sammlungen literarischer und kritischer Essays, zu erwähnen, denen sich die nach ihrem Tode veröffentlichten »Dernières pages« (1877) und »Questions d'art et de littérature« (1878) anreihen. Ihre Werke erschienen in mehreren Gesamtausgaben, zuletzt in 55 Bänden (in deutscher Übersetzung, Leipz. 1847–56, 35 Bde., sowie 1843–1847, 87 Bde.), ihre gesammelten Briefe 1882–84 in 6 Bänden; dazu die »Correspondance de George S. et A. de Musset« (Brüss. 1904) und »Correspondance entre G. S. et Gustave Flaubert« (Par. 1904). Vgl. Haussonville, Etudes biographiques et littéraires. George S., etc. (Par. 1879); Caro, George S. (das. 1888, 3. Aufl. 1904); H. Amic, George S., mes souvenirs (das. 1893); Devaux, George S. (das. 1895); Mariéton, Une histoire d'amour: George S. et A. de Musset (neue Aufl., das. 1902); Karénine, George S., sa vie et ses œuvres (das. 1899, 2 Bde.); A. Le Roy, George S. et ses amis (2. Aufl., das. 1903); Faguet, Amours d'hommes de lettres (das. 1906).

Ihr Sohn Maurice S., geb. 23. Juni 1823, gest. 4. Sept. 1889 in Nohant, schrieb ein anziehendes Buch[537] über die Charakterrollen der italienischen Komödie: »Masques et bouffons« (1859, 2 Bde., mit Bildern von Manceau), »Le théâtre des marionnettes« (1890), sowie mehrere Romane.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 536-538.
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