Drahtlose Telegraphie

[162] Drahtlose Telegraphie (Funkentelegraphie; hierzu Tafel »Drahtlose Telegraphie« I und II und Tafel III mit Text). Die Versuche, ohne verbindenden Draht zu telegraphieren, beginnen schon in der Mitte des 19. Jahrh. Eine 1849 von Wilkings angegebene Einrichtung bezweckte, zwischen England und Frankreich durch elektrische Induktion Zeichen zu geben, aber erst 1893 gelang es Preece, in dieser Weise auf 8 km durch die Luft zu telegraphieren. Rathenau erreichte 1894 durch Wasser auf 4,5 km, Strecker 1896 durch Erdreich als Leiter auf 8 km Verständigung. Die Vorschläge Edisons (1892), mit[162] elektrisch geladenen, auf hohen Antennen angebrachten Platten, und diejenigen Zicklers (1898), mittels ultravioletter Strahlen zu telegraphieren, sowie die Braunschen hydrotelegraphischen Versuche (1898) blieben ohne praktischen Erfolg. Es ist Marconis unbestrittenes Verdienst, durch kritische Auswahl und Vervollkommnung vorhandener wissenschaftlicher Apparate eine lebensfähige und praktisch brauchbare d. T. mittels elektrischer Wellen durch den Äther zuerst ausgeführt zu haben. Sir William Thomson bewies 1855 mathematisch, von welchen Eigenschaften die schon 1847 von Helmholtz für möglich gehaltene oszillatorische Entladung der Leidener Flaschen abhängt, Feddersen zeigte 1858 die Oszillationen (5mal 105 in der Sekunde) auf der photographischen Platte, und Hertz wies 1887 durch seine weltberühmten Versuche nach, daß die elektrischen Wellen (deren Schwingungszahl er 1888 auf 5mal 108 steigerte) die Gesetze des Lichtes befolgen. Dem 1890 von Branly erfundenen Kohärer (Tafel II, Fig. 7) gab Lodge 1893 den Klopfer als Entfritter bei, auch gelang es ihm, damit auf 180 m drahtlos zu telegraphieren, während Popoff in Kronstadt u.a. den Fritter in Verbindung mit einer Antenne als Gewitteranzeiger benutzte. Inzwischen waren die Hertzschen Versuche in Bologna von Righi fortgesetzt worden, dessen Vorlesungen (Righi-Oszillator) Marconi hörte. Letzterer machte auf dem Landgut seines Vaters die ersten Versuche mit drahtloser Telegraphie, indem er Antenne und Erdleitung anwendete. Marconis erstes deutsches Patent datiert vom 3. Dez. 1896. Nach weitern Versuchen in England, im Juli 1896, wechselte Marconi 1897 im Golf von Spezia die ersten Funkentelegramme auf 12 km zwischen Land und Schiff. Er gestaltete die korrespondierenden Stationen symmetrisch und fügte zur Erreichung der Abstimmung den Transformator bei. 1898 erfand Braun in Straßburg den geschlossenen Schwingungskreis (Patentanmeldung vom 14. Okt. 1898); in diese Zeit fällt auch die Erfindung des Antikohärers (s. d.) durch Aschkinaß, Neugeschwender und M. Béla-Schaefer, während der sich selbst entfrittende Kohlenpulverkohärer von Tommasina erst 1900 bekannt wurde. Bei dem auf der Semaphorenstation von Livorno seit 1900 verwendeten, nach Castelli benannten Selbstentfritter (Tafel II, Fig. 8) befinden sich zwischen den äußern Kohlenelektroden und der mittlern Eisenelektrode Quecksilbertröpfchen, auf denen eine dünne Schicht Kohlenpulver liegt. Er ähnelt dem Responder von De Forest. Der 1903 bekannt gewordene, sich gleichfalls selbstentfrittende Scheibenkohärer von Lodge-Muirhead besteht aus einem scharfrandigen kleinen Metallrädchen, das eine auf Quecksilber schwimmende Ölschicht berührt und nur beim Auftreffen elektrischer Wellen mit dem Quecksilber in Kontakt tritt. Slaby und Arco arbeiteten seit 1898 an der Ausbildung ihres Systems; ihre und die Braunschen Patente werden seit Juni 1903 von nur einer GesellschaftGesellschaft für drahtlose Telegraphie« in Berlin) einheitlich ausgebeutet und ausgestaltet. Die Versuche, ein störungsfreies Arbeiten zu erreichen, werden eifrig fortgesetzt. Braun hat Einrichtungen angegeben, durch Anordnung geeigneter Metallschirme um die Senderantenne die Zeichengebung nach bestimmten Richtungen auszuschließen, sowie unbegrenzt Energiemengen auszusenden und trotz kurzer Antennen sehr lange Wellen (bis 3000 m) zu erzeugen. Nikola Tesla wendet am Geber- und Empfangsorte je zwei auf verschiedene Frequenzen abgestimmte Antennen an; die Empfangsantennen wirken gemeinsam auf ein Relais, das nur anspricht, wenn beide Antennen gleichzeitig von beiden Senderantennen erregt werden.

Im Mai 1900 wurde die erste deutsche Funkentelegraphenstation auf Borkum Leuchtturm in Betrieb genommen. Mehrere Seetelegraphenanstalten, z. B. Kuxhaven, Helgoland, Hörnum auf Sylt, Brunsbüttelkoog, Bülk, Marienleuchte auf Fehmarn, Arkona, Jershöft, Rixhöft, Memel etc., wurden von der Marine für d. T. eingerichtet und können Seetelegramme in Form des Funkspruchs (s. d.) austauschen. Guarini erprobte 1901 in Mecheln sein Relais für d. T. zur automatischen Übertragung der Telegramme von Brüssel nach Antwerpen. Im Dezember 1901 übermittelte Marconi den Buchstaben »S« drahtlos über den Atlantischen Ozean, und 21. Dez. 1902 gelang es ihm, die ersten wirklichen Telegramme zwischen den Stationen Glace Bay (Kanada) und Poldhu (Cornwallis) drahtlos auszutauschen; der regelmäßige transatlantische Telegrammverkehr (10 Cent das Wort) ist noch nicht eröffnet (August 1903); die »Times« haben jedoch schon Marconigramme gebracht.

Das spezifische Anwendungsgebiet der drahtlosen Telegraphie ist die von Tageszeit und Witterung unabhängige Verbindung der Schiffe untereinander und mit der Küste. Überland und von Land zu Land ist die d. T. nur in seltenen Fällen mit der gewöhnlichen Telegraphie in Wettbewerb getreten, z. B. in Alaska, im Kongostaat, zwischen Südseeinseln, zum Anschluß von Bergstationen (Zugspitze-Eibsee), auch zur Übermittelung von Zeitsignalen zur Bestimmung der geographischen Länge da, wo Telegraphen fehlen; eine Kopenhagener Finanzgruppe ist der Herstellung der Verbindung Schottland-Island näher getreten; durch Errichtung einer Station auf Spitzbergen soll die d. T. selbst in den Dienst der Polarforschung gestellt werden. Nach dem gegenwärtigen Stande der Funkentelegraphentechnik nehmen die Kabelgesellschaften an, daß die Kabel nach wie vor in demselben Umfange benutzt werden, selbst wenn die Telegraphiergeschwindigkeit der Kabel erreicht werden sollte; sie betrachten die d. T. nicht als eine gefährliche Mitbewerberin, sondern als schätzenswerte Gehilfin und rüsten ihre Kabelschiffe mit Stationen für d. T. aus. Die Ausrüstung der Küstenstationen aller Art (Schiffsmelde- und Marinesignalstationen, Leuchttürme, Feuerschiffe etc.) mit drahtloser Telegraphie schreitet in allen Ländern stetig vorwärts. Die italienische Küste wird in Abständen von 300 km für militärische und Handelszwecke mit Marconistationen ausgestattet (Punta di Vela, Montemario, Capo di Leuca auf Elba etc.). Die englische Gesellschaft Lloyd's, die sich mit Schiffahrtsangelegenheiten aller Art befaßt und namentlich Schiffsmeldungen verbreitet, hat sich verpflichtet, auf ihren über die ganze Erde verbreiteten Stationen nur Marconisysteme einzuführen. Auf den Dampfern der Cunardlinie werden die unterwegs eingegangenen Funkentelegramme täglich durch eine Zeitung, »Cunard Bulletin«, veröffentlicht. Zahlreiche Kriegsschiffe aller seefahrenden Nationen haben Funkentelegraphen an Bord (50 deutsche Schiffe das System Slaby, viele österreichische, dänische etc. das System Braun). Auf einer Fahrt von der russischen bis zur holländischen Grenze, selbst im Nordostseekanal befinden sich die deutschen Schiffe dauernd im Bereich einer Funkspruchstation. Die englische Kriegsmarine wendet jährlich 400,000 Mk. für d. T. auf. Außer in England haben sich in Amerika, Kanada etc. kapitalkräftige Gesellschaften für d. T. gebildet. Die Marconi Wireleß Telegraph[163] Co. hatte Ende September 1902: 25 Stationen, 32 englische Regierungsschiffe und 30 andre Dampfer für d. T. ausgerüstet. Auf 200 km, in einzelnen Fällen auch bis 300 km wird heute schon von kleinern Kraftstationen aus drahtlos sicher gearbeitet; mit den Passagierdampfern der Strecke Dover-Calais (118 km) besteht eine regelmäßige Verbindung für d. T. In Schönweide bei Berlin hat die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft eine Station nach dem System Slaby-Arco mit größerer Reichweite und einer Höchstspannung von 40,000 Volt errichtet. Diese Gesellschaft sowie Siemens u. Halske haben für Feldzwecke fahrbare funkentelegraphische Stationen gebaut, die sich bei den Manövern bewährt haben; die Antennen aus Metalldrähten werden durch Ballons oder Drachen hochgeführt. Nachdem schon im Oktober 1902 zwischen Toronto und Montreal mit fahrenden Eisenbahnzügen durch d. T. Verständigung erzielt war, ist anfangs 1903 auf der Militäreisenbahn Berlin-Zossen das System Braun auch im Eisenbahnsicherheitsdienst mit Erfolg eingeführt worden. Selbst zur Verbreitung von Börsennachrichten (in Paris und New York) sowie zur Betätigung von Feueralarmsignalen (in London) wird die d. T. benutzt. In Italien, wo in den nächsten 14 Jahren nur Marconisysteme eingeführt werden dürfen, hat das Parlament eine große Summe zur Herstellung einer Verbindung für d. T. mit Südamerika (Argentinien) bewilligt. Die De Forest-Gesellschaft errichtet bei Kap Flattery, der Nordwestspitze der Vereinigten Staaten von Amerika, eine große Station für d. T. zur Überbrückung des Stillen Ozeans, namentlich zum Verkehr mit Japan und Kamtschatka.

Die Staaten mit Telegraphenregal, z. B. das Deutsche Reich, Frankreich, England etc., haben für den Bereich des Regals die Anlage von Stationen für d. T. von der staatlichen Genehmigung abhängig gemacht, so daß das von der Marconigesellschaft angestrebte Weltmonopol sich nicht durchführen lassen wird. Für die einheitliche Regelung des Funkentelegraphenverkehrs werden gesetzgeberische Maßregeln und internationale Verträge mit Vorschriften über die Errichtung von Stationen für d. T., über die Verpflichtung der Schiffe und Stationen zur Entgegennahme der Telegramme, über die anzuwendenden Wellenlängen, über Fernhaltung gegenseitiger Störungen etc. auf die Dauer nicht entbehrt werden können. Auf Anregung des Deutschen Reiches sind Delegierte verschiedener Staaten zur Beratung über die Grundlagen eines derartigen Abkommens zusammenberufen worden; eine Vorkonferenz hat im August 1903 stattgefunden. Über die bei der drahtlosen Telegraphie angewendeten Apparate s. die beifolgenden Tafeln I-III.

Vgl. Blochmann, Die Entwickelung der asymptotischen Telegraphie (Berl. 1898); Lodge, Signalling across space without wires (3. Aufl., Lond. 1900); Fahie, History of wireless telegraphy, 1838–1899 (das. 1899); Braun, Drahtlose Telegraphie (Leipz. 1901) und Notizen über d. T. (das. 1903); Slaby, Funkentelegraphie in der Marine (Berl. 1900); Turpain, Les applications pratiques des ondes électriques (Par. 1902); Prasch, Die Telegraphie ohne Draht (Wien 1902); Righi und Dessau, Telegraphie ohne Draht (Braunschw. 1903); H. Bauer, Telegraphie ohne Draht, Röntgenstrahlen etc. (Berl. 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 162-164.
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