Friesen [1]

[150] Friesen (Frisii, Frisones, in ihrer eignen Sprache Frisan), Name eines germanischen Volksstammes, der, als die Römer ins Land kamen, im nordwestlichen Germanien an der Nordseeküste zwischen Rhein und Ems wohnte (s. Karte »Germanien etc.«) und nach Tacitus, der aber Näheres über die Wohnsitze nicht angibt, in die größern und kleinern F. zerfiel. Die F., ein emsiges, auf die Ausbeutung des Meeres wie auf Viehzucht und Ackerbau bedachtes Volk, wurden von Drusus bei seiner Fahrt an der nordwestlichen Küste Deutschlands den Römern zinspflichtig gemacht und leisteten diesem wie Germanicus bei deren Unternehmungen in Deutschland großen Vorschub. Infolge der durch den Centurio Olennius bei Eintreibung des Tributs verübten Gewalttätigkeiten empörten sie sich 28 n. Chr., wurden 47 von neuem unterworfen, werden aber nach 58 nur gelegentlich als kühne Seeräuber genannt; Teile des Stammes gründeten neben Augeln und Sachsen in Britannien Niederlassungen. Im frühen Mittelalter erstreckt sich Friesland an der Nordseeküste von dem Fluß Sincfala im W. (dem heutigen Flüßchen 't Zwin, das nördlich von Sluys mündet) bis zur Weser im O. und zerfällt in drei Teile: Westfriesland (die heutigen Provinzen Seeland, Süd- und Nordholland und einen Teil von Utrecht), Mittelfriesland (die heutige Provinz Friesland) und Ostfriesland (die heutige holländische Provinz Groningen, das preußische Ostfriesland und ein Teil von Oldenburg). Außerdem gibt es an der Westküste Schleswigs von der Eider bis Tondern und auf den vorliegenden Inseln Nordstrand, Föhr, Sylt u. a. Nord-o der Strandfriesen. Die F., seit dem 6. Jahrh. mit den Franken in feindlicher Berührung, zerstörten die von Dagobert (s.d.) in dem Grenzkastell Utrecht erbaute Kirche, aber 40 Jahre später erhielt der Sachse Wilfried. Erzbischof von York, von ihrem Herzog Aldgisl I. die Erlaubnis zu Predigt und Mission. Dessen Sohn und Nachfolger Ratbod verlor 689 nach der Schlacht bei Wyk te Duerstede Westfriesland an Pippin. Der heilige Willibrord nahm nun mit mehr Erfolg die Mission auf, gelangte bis zu der durch ein altes Heiligtum berühmten Insel Fositesland (Helgoland), doch nach Pippins Tode (714) befreite sich Ratbod von der Herrschaft der Franken, zerstörte die Kirchen und stellte den heidnischen Kultus wieder her. Nach Ratbods Tode 719 verlor sein Nachfolger Aldgisl II. Westfriesland wieder, und Willibrord, während des Krieges flüchtig, kehrte nach Utrecht zurück, das von nun ab ununterbrochen Bischofssitz für diese friesischen Lande war. Indessen weiter östlich drang das Christentum nicht vor; dort ward noch Bonifatius (s.d.) nebst dem Bischof Eoban von Utrecht 754 von den Heiden erschlagen. Inzwischen hatte Karl Martell 734 Aldgisls Nachfolger Pappo besiegt; letzterer fiel, und seitdem gibt es keinen Herzog über das gesamte Friesland mehr. Trotzdem hatte noch Karl d. Gr. im Anschluß an die Sachsenkriege eine letzte Erhebung der F. niederzuschlagen, ehe sie dem Christentum und dem fränkischen Reich völlig unterworfen waren. Insbesondere Handel und Schiffahrt werden in dieser Zeit als ihre Beschäftigung erwähnt; ihre Schiffer fuhren in slawische Lande (einmal die Elbe hinauf bis zur Havel), und friesische Kaufleute finden sich überall im Frankenreich, aber auch in England etc. Schon früher begonnen, ward die Auszeichnung des friesischen Gesetzbuches, der Lex Frisionum (s. Friesisches Recht), unter Karl d. Gr. vollendet. Im allgemeinen wurde die Organisation der karolingischen Verfassung auch in Friesland durchgeführt, doch erhielten sich manche Institutionen aus altgermanischer Zeit.

Durch den Vertrag von Verdun 843 kam Friesland an Kaiser Lothar, bildete später einen Teil von Lothringen (s.d.), blieb aber, als sich nach dem Tode Ludwigs des Kindes 911 Lothringen von Deutschland lossagte und den westfränkischen König Karl anerkannte, Konrad I. treu, löste sich von dem Verband der Länder, an denen der Name Lothringen haften blieb, und bildete während des ganzen Mittelalters eine besondere Landschaft, deren Grenze gegen Sachsen die Weser, ein Nebenfluß derselben, die Wapel, und eine Linie von da westlich nach der Ems zu waren, während es im S. gegen Lothringen sich bis zur Mündung der Maas und des Rheins erstreckte (s. die »Geschichtskarte von Deutschland I«). In der Folge hatte Westfriesland ein besonderes Geschick, denn die Landeshoheit der Grafen von Holland, deren Geschlecht sich bis zum Ausgang des 9. Jahrh. zurückverfolgen läßt, und die des Bischofs von Utrecht entwickelte sich hier: so hörten die spätern Provinzen Holland, Seeland und Utrecht auf, als Teile Frieslands zu gelten; westlich von der Flie behauptete sich der Name nur auf einigen Inseln, wie Texel, und in Nordholland, das, erst im 13. Jahrh. den Grafen von Holland unterworfen, noch jetzt den Namen Westfriesland führt. Die übrigen F., nicht nur den benachbarten Dynasten, sondern auch im großen und ganzen der Reichsgewalt gegenüber unabhängig, führten ein selbständiges Dasein und entwickelten eine ganz eigentümliche, freie Landesverfassung, in der im Gegensatz zu den ringsumher emporgekommenen feudalen Ordnungen altgermanische Rechtssatzungen fortbestanden. Die sieben friesischen Seelande bildeten nun einen Bund: jedes derselben zerfiel in Gaue und diese wieder in Bauerschaften, an deren Spitze aus der Mitte der Volksgenossen hervorgehende Richter und gewählte Talemänner (Sprecher) standen. Es gab gemeine Versammlungen der einzelnen Gaue und Seelande; aber über allen stand die alljährlich am dritten Pfingsttag zusammentretende feierliche Versammlung von Abgeordneten aller F. am Upstallsboom (Obergerichtsbaum) unweit Aurich; hier wurde über Krieg und Frieden, Änderung der Landrechte u. dgl. beschlossen. In kirchlicher Beziehung dem Erzbischof von Bremen und den Bischöfen von Münster und Utrecht untergeben, behaupteten sie auch dem Klerus gegenüber ihre Unabhängigkeit. Die zwischen Weser und Jade wohnenden Stedinger (s.d.), gleichfalls dem Stamm der F. angehörig, erlagen 1234 in der Schlacht von Altenesch einem gemeinschaftlichen Angriff der benachbarten Fürsten. Allmählich kamen in den einzelnen Teilen Frieslands Häuptlinge oder Dynasten empor, und infolge der immerwährenden Fehden zwischen ihnen und der fortgesetzten Angriffe von außen gingen im Laufe des 14. Jahrh. Eintracht und Freiheit zugrunde; die Geschicke von Mittel- und Ostfriesland trennten sich.[150]

In Mittelfriesland bekämpften sich im 14. Jahrh. die reichen Vetkoopers (Fetthändler) im Ostergo und die ärmern Schieringer im Westergo, die ihren Namen von der Aalfischerei hatten (Frieslands Schieraal); erstere suchten oft die Hilfe der Groninger und der Grafen von Holland, letztere verfochten die alte Volksfreiheit. Trotzdem ward das Land weder den Grafen von Holland noch Philipp von Burgund, seit er Holland in Besitz genommen hatte, untertan; vielmehr verbriefte noch 1457 Kaiser Friedrich III. die Reichsunmittelbarkeit der F. Erst Herzog Albrecht (s.d. 23) von Sachsen, den Kaiser Maximilian zum Lohn für geleistete Dienste zum erblichen Reichsstatthalter (1498 erblicher Potestat und ewiger Gubernator von Friesland) ernannt hatte, bezwang die Freiheit des Volkes. Seitdem 1524 die Erbstatthalterschaft an Kaiser Karl V. kam, teilte Friesland die Geschicke der burgundisch-habsburgischen Niederlande, doch bewahrte die Verfassung noch immer Spuren der alten Freiheit. Die niederländische Provinz Friesland nebst Groningen hatte 1606–1747 besondere Statthalter aus einer Seitenlinie des oranischen Hauses, Nassau-Dietz.

In Ostfriesland (s.d.) tobte das ganze 14. Jahrh. hindurch ein furchtbarer Kampf zwischen den einzelnen Häuptlingen, unter denen Focko Ukena und Ockoten Brok besonders bekannt sind, bis 10. Nov. 1430 ein neuer »Bund der Freiheit« geschlossen und Edzard Cirksena (gest. 1441) zum Anführer gewählt wurde. Von den Hamburgern, die damals in Ostfriesland sehr mächtig waren, erlangte er die Abtretung der bis dahin von Hamburg behaupteten Herrschaft über die schnell emporblühende Stadt Emden. Auf Edzard I. folgte sein Bruder Ulrich (gest. 1466), der vom Kaiser Friedrich III. 1454 zum Reichsgrafen erhoben und mit der Reichsgrafschaft Ostfriesland (zwischen Ems und Weser) erblich belehnt wurde. Nach Ulrichs Tod dehnten seine Witwe und sein Sohn Graf Edzard I. ihre Macht auch in den östlichen Bezirken, wie Ostringen und Rüstringen, aus. Dagegen wurden die Butjadinger (zwischen Weser und Jade) vom Grafen von Oldenburg unterworfen. Als das Haus Cirksena mit dem Tode des Fürsten Karl Edzard (25. Mai 1744) erlosch, nahm Preußen auf Grund einer 1694 erhaltenen Anwartschaft Besitz von Ostfriesland (s.d.). Vgl. die »Geschichtskarten von Deutschland« (Bd. 4). – Nationalblume der F. ist die Swanneblom, Schwanenblume, die Blüte von Nymphaea alba (weiße Wasserrose), deren Blätter sich noch heute in der friesischen Flagge sowie im Wappen der niederländischen Provinz Groningen befinden. Vgl. »Groot Placaaten Charterboek van Friesland« (hrsg. von Baron toe Schwartzenbergen Hohenlausberg, Leeuw. 1768ff., 4 Bde.); Heimreich, Nordfriesische Chronik (hrsg. von Falck, Tondern 1819, 2 Bde.); »Ostfriesisches Urkundenbuch« (hrsg. von E. Friedländer, Emden 1878–81, 2 Bde., bis 1500). Umfassend behandeln die Geschichte des Volkes außer den ältern Werken von Ubo Emmius (1616), Pirius Winsemius (1622), Sjoerd Pietar (1698): Wiarda, Ostfriesische Geschichte (Bd. 1–9, Aurich 1791–1813; Bd. 10, Bremen 1817), dessen Werk aber durch andre, namentlich Richthofen (s.d. 2 und Friesisches Recht) überholt ist; de Crane, Gesta Frisonum (Workum 1837); Clement, Lebens- und Leidensgeschichte der F. (Kiel 1845); O. Klopp, Geschichte Ostfrieslands (Hannov. 1854–58, 3 Bde.); »Friesisches Archiv« (hrsg. von Ehrentraut, Oldenb. 1847–54, 2 Bde.). Lediglich der mittelalterlichen Geschichte der F. sind gewidmet: Leding, Die Freiheit der F. im Mittelalter (Emden 1878); Hooft van Iddekinge, Frieslanden de Friezen in de middeleeuwen (Leiden 1881); Prinz, Studien über das Verhältnis Frieslands zu Kaiser und Reich im Mittelalter (Emden 1884); Blok, Friesland im Mittelalter (deutsch, Leer 1891); Jaekel, Die Grafen von Mittelfriesland aus dem Geschlechte König Ratbods (Gotha 1895); Heck, Die altfriesische Gerichtsverfassung (Weimar 1894); His, Das Strafrecht der F. im Mittelalter (Leipz. 1901). Besondere Seiten friesischer Zustände behandeln: Ledebur, Die fünf Münsterschen Gaue und die sieben Seelande Frieslands (Berl. 1836). Klumker, Der friesische Tuchhandel zur Zeit Karls des Grof;en und sein Verhältnis zur Weberei jener Zeit (Leipziger Dissertation, 1899). Vgl. auch die Literatur unter »Ostfriesland«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 150-151.
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