Voltaire

[251] Voltaire (spr. woltǟr'), François Marie Arouet de, der vielleicht einflußreichste aller franz. Schriftsteller, geb. 21. Nov. 1694 in Paris, gest. daselbst 30. Mai 1778, war der Sohn eines Finanzbeamten, Arouet, der ihn in dem Jesuitenkollegium Louis le Grand erziehen ließ, sollte nach Beendigung der Gymnasialstudien (1711) die Rechte studieren, fand aber daran keinen Geschmack und wandte sich ausschließlich der Philosophie und den schönen Wissenschaften zu, worin ihn sein Pate, der Abbé de Châteauneuf, bestärkte, der ihn in die geistreichen und frivolen Zirkel der vornehmen Gesellschaft einführte. In diese Zeit fallen seine ersten Oden und der Entwurf zur Tragödie »Œdipe«. Um ihn auf andre Gedanken zu bringen, sandte ihn der erzürnte Vater 1713 als Pagen mit dem Marquis de Châteauneuf, der als französischer Gesandter nach Holland ging, nach dem Haag. Wegen eines Liebeshandels mit einem Fräulein Dunoyer, der Braut des Kamisardenführers Cavalier, nach Paris zurückgeschickt, wurde er Schreiber bei einem Anwalt. Bald darauf folgte er dem Marquis de Caumartin auf sein Landgut St.-Auge bei Fontainebleau; die Begeisterung seines Wirtes für Heinrich IV. und die genaue Kenntnis desselben vom Zeitalter Ludwigs XIV. gaben V. die ersten Anregungen zu zweien seiner Hauptwerke. Der Autorschaft einer nach Ludwigs XIV. Tod erschienenen Satire auf den Regenten verdächtig, mußte er in die Bastille wandern (1717), wo er während seiner elfmonatigen Gefangenschaft die »Henriade« entwarf und die Tragödie »Œdipe« vollendete. Die begeisterte Aufnahme dieses Stückes bei der Ausführung (1718) söhnte ihn mit seinem Vater aus; hier signiert er auch zum erstenmal mit »V.«, dem Anagramm von Arouet l. j. (le jeune). Die unvorsichtige Teilnahme an einer Hofintrige hatte bald darauf seine Ausweisung aus Paris zur Folge. Er kam indessen 1720 zurück, um seine Tragödie »Artémire« ausführen zu lassen, die jedoch durchfiel. Nach dem Tode seines Vaters machte er eine Reise nach Holland mit Frau v. Rupelmonde, kehrte aber 1723 nach Paris zurück und ließ die »Henriade« u. d. T. »La Ligue, ou Henri le Grand« in Rouen (angeblich in Genf) drucken. Ein Streit mit dem Chevalier von Rohan-Chabot, der ihn durch seinen Bedienten prügeln ließ, und den er zum Zweikampf forderte, brachte ihn 1726 zum zweitenmal in die Bastille. Nach einigen Wochen erhielt er die Freiheit wieder, zugleich aber den gemessenen Befehl, das Königreich zu verlassen. V. wählte England zu seinem Aufenthaltsort (1726–29), studierte eifrigst die Literatur, Philosophie, Geschichte und Politik des Landes und begeisterte sich für Shakespeare. Hier schrieb er das Leben Karls XII. und die Tragödie »Brutus«, den Versuch über die epische Poesie und die philosophischen oder englischen Briefe, durch die er seine Landsleute mit den neuesten Ergebnissen der englischen Forschung und philosophischen Spekulation vertraut machte. Auf Verwendung seiner Freunde kehrte er 1729 nach Paris zurück. Wegen einiger Verse auf den Tod der Schauspielerin Lecouvreur, der die Geistlichkeit ein ehrliches Begräbnis verweigerte, fand er für geraten, eine Zeitlang unter fremdem Namen in Rouen zu leben, wo er seine »Histoire de Charles XII« und die »Lettres philosophiques« heimlich drucken ließ. Die letztern wurden 1734 durch Henkershand verbrannt. Von mehreren Tragödien, »Zaïre« (1732), »Eriphyle« (1732), »Adélaïde Duguesclin« (1734), die er damals schrieb, machte nur die erste Glück; auch »Brutus« (1731) war kühl aufgenommen worden. Das Gedicht »Le temple du goût« (1733), worin der Dichter die gepriesensten Schriftsteller seiner Zeit schonungslos beurteilte, machte großen Lärm und verschloß ihm die Pforten der Akademie. Um den allenthalben losbrechenden Angriffen zu entgehen, begab sich V. 1734 mit seiner gelehrten Geliebten, der Marquise du Châtelet, auf deren Landgut Cirey in Lothringen, wo er mit einigen Unterbrechungen 15 Jahre blieb. Hier entstanden die »Éléments de la philosophie de Newton« (1738); außerdem die berüchtigte »Pucelle d'Orléans«, dann die Tragödien: »Alzire« (1736), »Zulime« (1740), »Mahomet« (1741), »Mérope« (1743), das Lustspiel: »L'enfant prodigue«, die sieben »Discours sur l'homme« (nach Pope, 1738) u. a. Unterdessen war Voltaires Ruhm ein europäischer geworden. Der Kronprinz von Preußen (Friedrich II.) schrieb V. die schmeichelhaftesten Briefe und lud ihn zu einer Zusammenkunft ein; ja selbst Papst Benedikt XIV. genehmigte die Dedikation des (in Frankreich nicht zur Ausführung zugelassenen) »Mahomet« und segnete den Verfasser. 1746 verschaffte ihm ein Singspiel: »La princesse de Navarre«, zur Feier der Vermählung des Dauphins, den langersehnten Sitz in der Akademie und das Amt eines Historiographen. Doch Eifersucht gegen Crébillon und Ärger über die Hofintrigen gegen ihn veranlaßten ihn, mit der Marquise du Châtelet nach Cirey zurückzugehen, von wo aus er häufige Besuche an dem Hofe des Königs Stanislaus in Lunéville abstattete, und wo er seine Tragödien »Sémiramis«, »Rome sauvée« und »Oreste« (1750), bestimmt, den Ruhm seines Rivalen Crébillon zu vernichten, und sein Lustspiel »Nanine« vollendete. Nach dem Tode der du Châtelet (1749) begab sich V. auf die wiederholten Einladungen Friedrichs II. 1750 nach Berlin, wo er eine Wohnung im Schloß, den Orden pour le mérite, den Kammerherrnschlüssel und 20,000 Livres Gehalt erhielt. Streitigkeiten mit Maupertuis, dem Präsidenten der Berliner Akademie, und seine eine, spottsüchtige, habgierige Natur störten jedoch bald sein gutes Verhältnis zum König; und als dieser seine Spottschrift gegen Maupertuis: »Diatribe du docteur Akakia« (1752) öffentlich verbrennen ließ, bat V. um seine Entlassung, mußte sich aber auf der Rückreise 1753 in Frankfurt eine ziemlich gewalttätige Untersuchung seines Gepäcks nach den Gedichten Friedrichs gefallen lassen. Diese Behandlung hat V. dem König trotz ihrer Aussöhnung und des fortgesetzten Briefwechsels nie vollständig verziehen. Sein Berliner Aufenthalt war aber nicht unfruchtbar gewesen. Er[251] hatte sein berühmtes Werk »Siècle de Louis XIV« (Berl. 1751, 2 Bde.) vollendet, seine Studien zu einer Universalgeschichte begonnen, die er nachher veröffentlichte in dem »Essay sur les mœurs et l'esprit des nations« (vollständig zuerst Genf 1756, 7 Bde.; deutsch von Wachsmuth, Leipz. 1867, 6 Bde.), und mehrere Tragödien geschrieben (»Amélie, ou le duc de Foix« u. a.), besonders aber das dem König gewidmete »Poème sur la loi naturelle« (1752, gedruckt 1756), das wiederum von dem Pariser Parlament zur Verbrennung verurteilt wurde. Da ihm der Aufenthalt in Paris noch immer verboten war, kaufte er ein Landgut bei Genf, »Les Délices«, dann die Herrschaften Tourney und Ferney in dem französischen Grenzländchen Gex. Hier verlebte der Patriarch von Ferney, wie er sich gern nennen hörte, die letzten 20 Jahre seines Lebens, umgeben von fürstlichem Luxus und im Genuß einer Rente von 140,000 Livres. Er erhob den armen Flecken nach und nach zur wohlhabenden Stadt und baute eine Kirche mit der Inschrift: »Deo erexit Voltaire«. Die bedenklichen Schwächen in seinem Charakter traten grell hervor, solange er noch danach strebte, Vermögen und Einfluß zu gewinnen. Später, wo ihm beides reichlich zu Gebote stand, stellte er seine Mittel und Geisteskräfte vorwiegend in den Dienst edler Zwecke, der Toleranz und der Aufklärung. Unerschrocken trat er als Hort und Verteidiger unschuldig Verfolgter auf und brachte es beispielsweise durch seine rastlosen Bemühungen dahin, daß der Prozeß des unschuldig hingerichteten Jean Calas (s. d.) wieder aufgenommen und die unglückliche Familie der Armut und Schmach entzogen wurde. Dabei entwickelte er eine ungemeine literarische Tätigkeit. Zunächst lieferte er zahlreiche Artikel für die »Encyclopédie«. Als die wichtigsten seiner Schriften in dieser Epoche sind sodann hervorzuheben: der Roman »Candide« (1758); »Histoire de Russie sous Pierre I« (1759); »Idées republicaines« (1762); »Sur la tolérance« u. »Catéchisme de l'honnête homme« (1763); »Contes de G. Vadé«; »Commentaire sur Corneille«; das »Dictionnaire philosophique« (1764); mehrere Tragödien (darunter »Agathocle«, »Tancrède«, »Socrate«, »Irène«), Oden und eine Übersetzung des »Julius Cäsar« von Shakespeare (1764) etc. Im Februar 1778 besuchte der Vierundachtzigjährige noch einmal Paris, wo er mit Ehrenbezeigungen überhäuft wurde, aber, vielleicht infolge der dadurch veranlaßten Aufregung, in eine Krankheit verfiel und starb. Die Geistlichkeit in Paris verweigerte ihm ein kirchliches Begräbnis, und sein Neffe Abbé Mignot, der ihn in der Abtei von Scellières beigesetzt hatte, ward sogar bestraft. 1791 wurden seine Gebeine auf Volksbeschluß im Panthéon beigesetzt. 1890 wurde ihm in Ferney eine Statue errichtet. Sein Bildnis s. Tafel »Klassiker der Weltliteratur II« (im 12. Bd.).

V. war Philosoph, Geschichtschreiber, gelegentlich Politiker, dramatischer und Romandichter. Den Grund zu seinen philosophischen und politischen Ansichten hat er in England gelegt. Seine sogen. philosophischen Schriften bestreiten wirkliche oder vermeinte Irrtümer oder Vorurteile oft mit kaustischer, unwiderstehlicher Schärfe, oft mit witzelnder Unkunde, oder sie tragen bald mit ermüdender Breite, bald mit absprechender Kürze den Locke-Condillacschen Sensualismus und Eudämonismus mit stetem Kampf gegen das Christentum vor. Indessen tritt er mit gleicher Entschiedenheit wie den christlichen Dogmen dem Atheismus entgegen und glaubt fest an das Dasein eines persönlichen Gottes. An den religiösen Gebräuchen teilzunehmen hielt er trotz seines freien Standpunktes für gestattet. Während er anfangs an die Freiheit des Willens glaubte, hat er sie später geleugnet. Noch schwankender urteilt er über die Unsterblichkeit der Seele. Als Politiker schätzt er die englische Verfassung als die beste. Er zuerst stieß den Ruf: »Freiheit und Gleichheit!« aus, definiert aber jene als nur vom Gesetz abhängig, diese als gleiche Berechtigung aller im Staate. Den Unterschied der Stände hält er für notwendig, verwirft aber bloße Geburtsvorrechte. Alles Heil erwartet er nicht von unten her durch eine Revolution, sondern von den Reformen einer aufgeklärten Regierung. Seine historischen Darstellungen ermangeln, bei trefflicher Anordnung des Stoffes und höchst geistreicher und ansprechender Darstellung, doch der Genauigkeit. Er war bei der wundersamsten Fülle von Kenntnissen ungründlich und oberflächlich, und wo nicht seine Unkunde zu Irrtümern führte, da taten es seine lebhafte Phantasie und sein Haß gegen Christentum und Kirche. Ein Meisterstück romanhafter Geschichtschreibung ist die »Histoire de Charles XII«. Wertvoll besonders durch Reichhaltigkeit des Stoffes und anziehende Darstellung ist auch der »Précis du siècle de Louis XV« (1768). Als Dichter zeichnete sich V. vor allem im Epigramm aus; sonst hat er weder in der Lyrik (am allerwenigsten in der Ode) noch in der Epik Großes geleistet. Die »Henriade« ist eine in wohllautenden Alexandrinern und mit glänzenden Deklamationen und Sentenzen reich ausgestattete, kalte historische Darstellung, die alles epischen Geistes ermangelt, und die »Pucelle« ein in sittlicher Beziehung höchst verwerfliches, auch in poetischer Hinsicht nicht bedeutendes Gedicht. Dagegen sind seine kleinen, meist satirisch gehaltenen Romane und ErzählungenZadig«, »Micromégas«, »Candide«, »Jeannot et Colin«, »L'ingénu«, »La princesse de Babylone« etc.) ausgezeichnete Leistungen, eine wunderbare Mischung von Ernst und Scherz, bezaubernder Leichtigkeit und Anschaulichkeit. Trotz des großen Fleißes, den V. auf seine Tragödien verwandte, und trotz seiner Produktivität hat er doch die großen klassischen Muster, Corneille und Raeine, nicht erreicht. Im Lustspiel hat er den größten Erfolg mit dem »Enfant prodigue« davongetragen. – Von den zahlreichen Ausgaben seiner Werke, von denen einen beträchtlichen Teil sein ausgedehnter, bis ins höchste Alter fortgeführter Briefwechsel ausmacht, erwähnen wir nur die von Beaumarchais, Condorcet und Decroix (Kehl 1785–89, 70 Bde.), die vortreffliche von Beuchot, dem Bibliographen Voltaires (das. 1829–1841, 72 Bde.), ferner die von Furne (1835–38, 13 Bde.), Barré (1856–59, 20 Bde.), Hachette (1859 bis 1862, 40 Bde.; neue Aufl. 1900 ff.), Didot (1859, 13 Bde.), Moland (1877–85, 52 Bde.). Die deutschen Übersetzungen von Mylius u. a. (Berl. 1783 bis 1791, 29 Bde.), Gleich, Hell u. a. (Leipz. 1825–1830, 30 Bde.) sind unvollständig und nicht besonders gelungen; eine Auswahl in 5 Bänden besorgte Ellissen (das. 1854). Voltaires Briefwechsel ist am vollständigsten in Molands Ausgabe, Bd. 33–49, herausgegeben (10,439 Briefe).

Vgl. Bungener, V. et son temps (2. Aufl., Par. 1851, 2 Bde.); Maynard, V., sa vie et ses œuvres (das. 1867, 2 Bde.); Strauß, Voltaire (sechs Vorträge, 8. Aufl., Bonn 1896; Volksausg., Leipz. 1908; mit Einleitung von Sakmann, Frankf. 1906); Rosenkranz im »Neuen Plutarch« (Bd. 1, Leipz. 1874); Campardon, V., documents inédits (Par. 1880); J. Parton, Life of V. (Lond. 1881, 2 Bde.); Kreiten,[252] V., ein Charakterbild (u. Aufl., Freiburg 1884); Mahrenholtz, Voltaires Leben und Werke (Oppeln 1885, 2 Bde.) und V. im Urteil seiner Zeitgenossen (das. 1883); Fa guet, Voltaire (Par. 1894); Käthe Schirmacher, V., eine Biographie (Leipz. 1898) und V., seine Persönlichkeit in seinen Werken (Stuttg. 1906); Crouslé, La vie et les œuvres de V. (Par. 1899, 2 Bde.); Tallentyre (Miß Hale), Life of V. (3. Aufl., Lond. 1905); Lanson, Voltaire (Par. 1906); Lord Brougham, V. et Rousseau (das. 1845); Horn, V. und die Markgräfin von Baireuth (Berl. 1865); Venedey, Friedrich d. Gr. und V. (Leipz. 1859); Desnoiresterres, V. et la société française du XVIII. siècle (2. Aufl., Par. 1887, 8 Bde.); Lucien Perey (Luce Herpin) und Maugras. La vie intime de V. aux Délices et à Ferney (das. 1885); E. Hertz, V. und die französische Strafrechtspflege im 18. Jahrhundert (Stuttg. 1887); Masmonteil, La législation criminelle dans l'œuvre de V. (Par. 1901); Vernier, Étude sur V. grammairien (das. 1888); Nourrisson, V. et le Voltairianisme (das. 1896); H. Lion, Les tragédies et les théories dramatiques de V. (das. 1896); Champion, V., études critiques (2. Aufl., das. 1897); Olivier, V. et les comédiens (das. 1900); Mangold, Voltairiana inedita (Berl. 1901); Calmettes, Choiseul et V. (Par. 1902); L. Robert, V. et l'intolérance (das. 1905); Bengesco, V.; bibliographie de ses œuvres (das. 1882–90, 4 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 251-253.
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