Archäologie

[700] Archäologie (griech.), im allgemeinen soviel wie Altertumskunde; im engern Sinne nach modernem Sprachgebrauch die Wissenschaft, die sich mit der bildenden Kunst und dem Kunstgewerbe des klassischen Altertums beschäftigt. Als solche bildet sie einen Teil der Altertumswissenschaft, anderseits auch einen Teil der allgemeinen Kunstwissenschaft, ist neben dieser aber als besondere Wissenschaft berechtigt, weil sie ein im wesentlichen abgeschlossenes und abgegrenztes Gebiet bearbeitet. Die literarischen Quellen geben ihr die erste Richtschnur; weit mehr aber als alle verwandten Wissenschaften richtet sie ihre Studien auf die aus dem Altertum erhaltenen Denkmäler selbst, die sie in ihrem ganzen Umfange heranzieht.

Das Wort A. wurde schon von den Griechen häufig gebraucht, vorzugsweise aber auf die Erforschung und Darstellung von vergangenen, für die Gegenwart nicht mehr wirksamen Dingen, namentlich der ältesten Geschichte, Staatsform und Sitte, angewendet. Mit dem Aufblühen der klassischen Studien im 15. Jahrh. bürgerte sich der Ausdruck Antiquaria für die A. ein, und noch Lessing handelte in seinen »Antiquarischen Briefen« durchaus von der antiken Kunst. Der jetzige Name A. hat sich erst seit Beginn des 19. Jahrh. allgemeine Geltung verschafft. Mit archäologischen Studien wurde in Italien zu Anfang des 15. Jahrh. begonnen, unter dem Einfluß derselben geistigen Richtung, die die Wiederbelebung des klassischen, speziell[700] des römischen Altertums bezweckte. Man sammelte, zeichnete und studierte mit Hilfe der alten Autoren die alten Skulpturen; die Hallen, Höfe und Treppen der Paläste schmückten sich mit antiken Statuen und Büsten; in Florenz machten sich Lorenzo del Medici, in Rom die Päpste selbst, wie Nikolaus V., Pius II., später Julius II. und Leo X., zum Mittelpunkt dieser Bestrebungen und gaben in dem vatikanischen Belvedere den gesammelten Schätzen einen glänzenden Raum. Kritik war vorläufig diesem begeisterten Treiben fremd. Die Frage nach dem Echten, dem Ursprünglichen fiel dieser Generation noch zusammen mit der Frage nach dem Schönen, dem Verständlichen; man ergänzte die z. T. verstümmelten Statuen, um sie zur Dekoration zu gebrauchen. Arbeiten der Gelehrten und Kunsttheoretiker schlossen sich an. Im 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrh. trat der literarische Betrieb der A. in den Vordergrund. In Rom freilich war zu dieser Zeit die Sammellust noch im Steigen, und fremde Fürsten, wie die Königin Christine von Schweden (1668–89 in Rom), und Kardinalnepoten, wie Aldobrandini, Borghese, Ludovisi, Barberini, schufen ihre herrlichen Sammlungen. Zu einer Auffassung der A. als einer Geschichte der antiken Kunst gelangte erst Joh. Joach. Winckelmann (s. d.), der das Wesen der alten Kunst in seiner »Geschichte der Kunst des Altertums« darlegte, wie er auch in seinen »Monumenti antichi inediti« eine neue Erklärung der Kunstwerke wenigstens anbahnte. Die von Winckelmann eingeschlagenen Bahnen wurden von Visconti und Zoega weiter verfolgt; Heyne und seine Schule brachten die neue Lehre vor das akademische Publikum, Böttiger und Millin traten als Popularisierer auf. Für die weitere Entwickelung der A. in diesem Jahrhundert sind vor allem wichtig die reichen Entdeckungen griechischer Originalskulpturen durch die Engländer, namentlich die Auffindung der Parthenongruppen durch Lord Elgin, die von Gottfr. Hermann und A. Böckh in verschiedener Weise geförderte Ausbildung der philologischen Kritik und Erklärung, die auch der A. feste Gesetze gab und von F. G. Welcker und O. Jahn mit dem feinsten Verständnis geübt wurde, endlich die 1829 unter dem Protektorat Preußens geschehene Gründung des Archäologischen Instituts (s. S. 702) in Rom. Letzteres und seine Veröffentlichungen sowie in fast allen europäischen Ländern zahlreich gegründete archäologische Gesellschaften (in Berlin 1841) bilden die belebenden Mittelpunkte für die Studien der Archäologen. Außer den Genannten sind noch hervorzuheben: E. Gerhard, Roß, Brunn, Friedrichs, Curtius, Michaelis, Conze, Kekulé, Benndorf und Furtwängler in Deutschland, Newton in England, Fiorelli und Lanciani in Italien, Lenormant, Rayet, Perrot, Reinach und Collignon in Frankreich. Vgl. O. Müller, Handbuch der A. der Kunst (3. Aufl. von Welcker, Berl. 1848; neuer Abdruck, Stuttg. 1878); Brunn, Geschichte der griechischen Künstler (2. Aufl., Stuttg. 1889, 2 Bde.), auf literarischen Quellen beruhend; Overbeck: Geschichte der griechischen Plastik (4. Aufl., Leipz. 1892–94, 2 Bde.), Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen (das. 1868) und Griechische Kunstmythologie (das. 1871–89, 5 Tle., mit Atlas); Welcker, Alte Denkmäler, erklärt (Götting. 1849–1864, 2 Bde.); Stark, Systematik und Geschichte der A. der Kunst (Leipz. 1880); »Denkmäler des klassischen Altertums«, herausgegeben von Baumeister (lexikalisch, Münch. 1885–89); v. Sybel, Weltgeschichte der Kunst (Marb. 1888); Sittl, A. der Kunst (Münch. 1895, Atlas 1897); Brunn-Bruckmann, Denkmäler griechischer und römischer Skulptur (das. 1888–1900); Reber und Bayersdorfer, Klassischer Skulpturenschatz (das. 1897–1900, 4 Bde.); Perrot und Chipiez, Histoire de l'art dans l'antiquité (Par. 1881–1902, Bd. 1–8); Rayet, Monuments de l'art antique (das. 1883, 2 Bde.); Babelon, Manuel d'archeologie orientale (das. 1889). Von Zeitschriften sind außer den Veröffentlichungen der Archäologischen Institute (s. d.) noch anzuführen: das »Journal of Hellenic studies« (seit 1879), das »American Journal ot Archaeology« (seit 1885), die »Revue archeologique« (seit 1844), die »Gazette archeologique«, die »Comptes rendus de la Commission imperiale archéologique« (Petersburg), das »Bulletino della Commissione municipale archeologica« und das »Giornale degli scavi« (Rom).

Seit dem 16. Jahrhundert bildete sich auch eine christliche A. aus, die sich zunächst auf die Erforschung des gesamten christlichen Altertums auf Grund der literarischen Quellen richtete. Eine monumentale Grundlage gewann sie erst durch die Wiederauffindung der römischen Katakomben (1578), deren wissenschaftliche Bearbeitung zuerst der Italiener Antonio Bosio in dem Werke »Roma sotterranea« (Rom 1632) unternommen hat. Die erste systematische Darstellung der christlichen A. versuchte der Straßburger Theolog Balthasar BebelAntiquitates ecclesiasticae«, Straßb. 1679, 3 Bde.). Doch wurden seine und seiner Nachfolger Arbeiten übertroffen durch das noch brauchbare Werk des Engländers Joseph Bingham: »Origines ecclesiae, or the Antiquities of Chr. Church« (Lond. 1708–22; neue Ausg., Oxford 1870, 9 Bde.; lateinische Übersetzung von Grischow, Halle 1724–30). Zu einer wirklichen Wissenschaft auf systematischer Grundlage, die sich in erster Linie auf den Denkmälervorrat stützte, wurde die christliche A. aber erst im Laufe des 19. Jahrh. erhoben. Am Anfang dieser Bestrebungen stehen die Lehrbücher des Leipziger Professor Augusti, welche die Denkmäler jedoch noch wenig berücksichtigten. Als die Hauptvertreter der neuern wissenschaftlichen Richtung sind zu nennen: H. Otte (s. d.), Fr. PiperMythologie und Symbolik der christlichen Kunst«, Weim. 1847–51), BaudryOrgan für christliche Kunst«, Köln 1851–73), F. X. KrausRealenzyklopädie der christlichen Altertümer«, Freiburg 1880–86; »Über Begriff, Umfang, Geschichte der christlichen A.«, das. 1879), Viktor Schultze (»A. der altchristlichen Kunst«, Münch. 1895), die Italiener G. B. de RossiRoma sotterranea cristiana«, Rom 186447, 3 Bde.; »Bulletino di archeologia cristiana«, das. 1863 ff.; »Nuovo Bulletino«, 1895 ff.), Garrucci (»Storia dell' arte cristiana«, 1884 beendet, 6 Bde. mit 500 Tafeln) und E. Reusens in LöwenElements d'archéologie chrétienne«, 2. Aufl. 1884–86, 2 Bde.). In Frankreich haben sich bes. der Vicomte de Caumont, Didron, der die »Annales d'archéologie chrétienne« (Par. 1844 bis 1870) begründete, und der Abbé MartignyDictionnaire des antiquités chrétiennes«, 2. Aufl., Par. 1877) verdient gemacht. Der Belebung der religiösen Kunst in der Gegenwart dient das 1857 von Schnaase, Grüneisen u. Schnorr begründete »Christliche Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus« (Stuttg., jetzt hrsg. von Merz und Zucker). Ausschließlich wissenschaftliche Zwecke verfolgt die 1888 gegründete »Zeitschrift für christliche Kunst« (hrsg. von Schnütgen in Köln). – Über Biblische A. s. d.

In England, Amerika und Rußland, mitunter[701] auch in Deutschland, wendet man den Ausdruck A. in seiner weitern Bedeutung insbes. auf Untersuchungen über die Geschichte, Gebräuche und Überbleibsel von Urvölkern oder ältern Landesbewohnern an und spricht von einer anthropologischen A., die einen wichtigen Teil der Kulturgeschichte (s. d.) ausmacht. In diesem Sinne wirken in England die schon 1572 gegründete Society of Antiquaries, in Schottland (seit 1780) die Scottish Society of Antiquaries, in Irland (seit 1786) die Royal Irish Academy, in Rußland die archäologischen Gesellschaften in Petersburg. Moskau, Odessa u.a. O. Vgl. Anthropologie und Prähistorie.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 700-702.
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