Wahl [1]

[307] Wahl (hierzu Textbeilage »Systeme der Proportionalwahl«), die Art und Weise, wie von mehreren befähigten und berechtigten Personen jemand zu einer besondern Stellung berufen wird. Bei Gesellschaften und Vereinen entscheiden die Satzungen über die W. der Vorstände und der sonstigen Organe. Öffentliche Körperschaften und Kollegien, wie Handelskammern, Innungen, Gemeindevertretungen, Kirchenvorstände, Kreisausschüsse u. dgl., werden nach besondern Gesetzen, Verordnungen und Wahlregulativen gewählt. Die W. von Schöffen und Geschwornen erfolgt nach bestehender Gesetzesvorschrift. Von besonderer Wichtigkeit sind die Wahlen der Volksvertreter, und zwar da, wo das Zweikammersystem besteht, die Wahlen für die Zweite Kammer (Volkskammer). Diese W. ist entweder eine unmittelbare (direkte), durch die Wahlberechtigten (Wähler) selbst, wie in England, den Vereinigten Staaten, Frankreich, Belgien und Italien, in den meisten Schweizerkantonen und bei den Wahlen zum deutschen Reichstag und einzelnen deutschen Staaten, wie Bayern, Württemberg, Baden, oder eine mittelbare (indirekte), indem die Wähler (Urwãhler) in der Urwahl Wahlmänner erwählen, durch die dann die W. der eigentlichen Abgeordneten selbst erfolgt, so in Spanien, Preußen und in andern deutschen Einzelstaaten. In Österreich ist die W. für die Landes- und Reichsvertretung in der Regel direkt; nur die Wählerklasse der Landgemeinden entsendet ihre Abgeordneten in den Landtag wie in den Reichsrat auf indirekte Weise, ebenso die den bisherigen vier Wählerklassen durch Gesetz vom 14. Juni 1896 angefügte fünfte »allgemeine« Wählerklasse. Die Befugnis zum Wählen (Wahlberechtigung, aktives Wahlrecht) und die Fähigkeit, gewählt werden zu können (Wählbarkeit, passives Wahlrecht), sowie das zu beobachtende Wahlverfahren (Wahlmodus) sind durch besondere Wahlgesetze (Wahlordnungen, Wahlreglements) festgestellt, soz. B. durch die preußische Verordnung vom 30. Mai 1849 und die preußischen Gesetze vom 24. Juni 1891 und 29. Juni 1893 sowie vom 28. Juni 1906, durch das bayrische Gesetz vom 9. April 1906, sächsische Gesetz vom 28. März 1896, württembergische Gesetz vom 16. Juli 1906, das badische vom 24. Aug. 1904 etc. Für das Deutsche Reich sind die für die Reichstagswahlen maßgebenden Bestimmungen in dem Bundes- (Reichs-) Gesetz vom 31. Mai 1869 und in dem Wahlreglement vom 28. Mai 1870 und vom 28. April 1903 enthalten. Es sind verschiedene Wahlsysteme zu unterscheiden. Zunächst finden sich nämlich noch Spuren des frühern ständischen Systems, wonach einzelne bestimmte Stände ihre VertreterLandstände«) wählten. Die meisten neuen Staatsverfassungen haben aber diesen Standpunkt verlassen und das Repräsentativsystem angenommen, wonach die Volksvertreter durch die Gesamtheit der Wahlberechtigten in lediglich geographischer (Wahlkreis-) Einteilung gewählt werden. Die meisten Wahlgesetze lassen zur W. der Volksvertreter nicht alle volljährigen Staatsangehörigen zu, sondern setzen Beschränkungen, höheres Alter (besonders das 25.), längern Besitz der Staatsangehörigkeit, insbes. auch einen Steuerzensus (Zensuswahlrecht) fest, wie z. B. in Bayern diejenigen, die mit keiner direkten Steuer veranlagt sind, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Das preußische Wahlgesetz vom 30. Mai 1849 hat für die (indirekte) W. zum Abgeordnetenhaus ein Dreiklassensystem eingeführt, wonach die Urwähler in Höchst-, Mittel- und Niedrigstbesteuerte zerfallen und jede dieser drei Klassen je ein Drittel der Wahlmänner zu wählen hat. Nach dem Gesetz vom 29. Juni 1893 kommen hierbei nicht bloß die direkten Staats-, sondern auch die Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialsteuern in Rechnung. Sachsen hat 1896 das Dreiklassensystem, allerdings mit verschiedenen Verbesserungen gegenüber dem preußischen System, eingeführt. In Österreich waren bis 1896 Personen, die nicht mindestens einen Gulden an landesfürstlichen direkten Steuern zahlten, in der Wählerklasse der Städte und Landgemeinden ausgeschlossen; nunmehr wählen aber auch solche in der »allgemeinen« Wählerklasse. In England steht den Haushaltungsvorständen das Recht zu, an den Wahlen für das Unterhaus teilzunehmen. In Österreich (Gesetze vom 2. April 1873 und 4. Okt. 1882) wurde bisher für das Haus der Abgeordneten in vier Klassen (Großgrundbesitzer, Städte, Handels- und Gewerbekammern, Landgemeinden) gewählt. Die Wahlreform des Ministeriums Badeni von 1896 hat ohne Veränderung der bisherigen vier Kurien eine fünfte Kurie des allgemeinen Wahlrechts hinzugefügt (72 neue Mitglieder zu den bisherigen 353). In Frankreich, in der Schweiz, in manchen nordamerikanischen Staaten, im Deutschen Reich und auch in einzelnen deutschen Staaten, wie Bayern, Baden, Württemberg, ist dagegen das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht (allgemeine Stimmrecht, s. d., Suffrage universel) eingeführt. Die Erfordernisse der Wählbarkeit sind in der Regel dieselben wie für die Wahlberechtigung. Für den deutschen Reichstag insbes. kann gewählt werden und wählen jeder Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat, sich im Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte befindet und rechtlich selbständig ist. Für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine, die sich bei den Fahnen befinden, ruht die Wahlberechtigung, nicht die Wählbarkeit. Um in den Reichstag gewählt werden zu können, muß der Kandidat einem deutschen Staal seit mindestens einem Jahr angehört haben. Mitglieder des Bundesrates können nicht zugleich dem Reichstag angehören. In manchen Staaten ist für die Abgeordneten ein höheres Lebensalter erforderlich, zumeist, wie in Preußen, Baden und auch Österreich, von 30 Jahren. Die Frage, ob Beamte zum Eintritt in die Volksvertretung des Urlaubs bedürfen, ist in den einzelnen Gesetzen verschieden beantwortet. Zum [307] Eintritt in den deutschen Reichstag ist für sie ein Urlaub nicht erforderlich.

Nach dem deutschen Wahlgesetz erfolgt die W. durch absolute Stimmenmehrheit aller im Wahlkreis abgegebenen Stimmen, d. h. der Wahlkandidat muß mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. Stellt sich bei einer W. eine absolute Stimmenmehrheit nicht heraus, so ist nochmals unter den zwei Kandidaten zu wählen, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten hatten (engere W., Stichwahl). Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los. In England und in einem großen Teil von Nordamerika ist die W. öffentlich und mündlich, dagegen bei den Wahlen zum deutschen Reichstag und in den meisten deutschen Einzelstaaten (aber nicht in Preußen) geheim, d. h. der Wähler übergibt seinen Stimmzettel dem Wahlvorsteher so zusammengefaltet, daß der auf dem Zettel verzeichnete Name verdeckt ist, und der Wahlvorsteher legt den Stimmzettel uneröffnet in das auf dem Wahltisch stehende Gefäß (Wahlurne). Die Stimmzettel, die außerhalb des Wahllokals mit dem Namen des Kandidaten, dem der Wähler seine Stimme geben will, zu versehen sind, müssen von weißem Papier und dürfen mit keinem äußern Kennzeichen versehen sein. Weitere Sicherungsmittel zur Wahrung des Wahlgeheimnisses brachte das Wahlreglement vom 28. April 1903 (sogen. Klosettgesetz). Abgestempelte Umschläge; in diese sollen die Stimmzettel in einem Nebenraum oder an einem Nebentische gelegt werden. Schutzmittel gegen Mißbräuche bei diesem Wahlverfahren sind die Öffentlichkeit der Wahlhandlung und der Ermittelung des Wahlergebnisses, ferner die Bestimmung, daß die Funktion der Vorsteher, Beisitzer und Protokollführer bei der Wahlhandlung in den Wahlbezirken und der Beisitzer bei der Ermittelung des Wahlergebnisses in den Wahlkreisen ein Ehrenamt ist, daß dasselbe nur von Personen ausgeführt werden kann, die kein unmittelbares Staatsamt bekleiden, und daß endlich das Wahlrecht nur in Person ausgeübt werden kann. Um eine Beeinflussung der spätern W. durch das Ergebnis der frühern zu vermeiden, muß die W. zum Reichstag im ganzen Reich an demselben Tage stattfinden. Zum Zwecke der W. ist das Bundesgebiet in Wahlkreise eingeteilt, die zum Zwecke der Abstimmung in Wahlbezirke zerfallen (vgl. die Kartenbeilage zum Artikel »Reichstag«). Für jeden Wahlkreis wird ein Wahlkommissar und für jeden Wahlbezirk ein Wahlvorsteher nebst Stellvertreter von der zuständigen Behörde ernannt. Jede Ortschaft bildet der Regel nach einen Wahlbezirk für sich; doch können einzelne bewohnte Besitzungen und kleine Ortschaften mit benachbarten Ortschaften zu einem Wahlbezirk vereinigt, große Ortschaften in mehrere Wahlbezirke geteilt werden. Kein Wahlbezirk darf mehr als 3500 Seelen nach der letzten allgemeinen Volkszählung enthalten. Für jede Gemeinde ist eine Liste sämtlicher Wahlberechtigten (Wahlliste, Wählerliste) anzufertigen und zu jedermanns Einsicht mindestens acht Tage lang öffentlich auszulegen. Innerhalb achttägiger Frist müssen auch etwaige Anträge auf Berichtigung und Vervollständigung der Wahlliste gestellt werden. Die Wahlhandlung (Wahlakt) dauert am bestimmten Tag von 10 Uhr vormittags bis 6 Uhr nachmittags. Während der Wahlhandlung dürfen im Wahllokal weder Erörterungen stattfinden, noch Ansprachen gehalten, noch Beschlüsse gefaßt werden, abgesehen von Verhandlungen und Beschlüssen des Wahlvorstandes, die durch die Leitung des Wahlgeschäfts bedingt sind. Zur Stimmabgabe sind nur diejenigen zuzulassen, die in die Wählerliste aufgenommen sind. Um 6 Uhr nachmittags erklärt der Wahlvorsteher die W. für geschlossen; die Stimmzettel werden aus der Wahlurne genommen, uneröffnet gezählt, und ihre Gesamtzahl wird zunächst mit der Zahl der Wähler verglichen, bei deren Namen der Abstimmungsvermerk in der Wählerliste durch den Protokollführer gemacht ist. Über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Wahlzettel entscheidet zunächst der Vorstand des Wahlbezirks nach Stimmenmehrheit der Mitglieder. Die Stimmzettel, über deren Gültigkeit es einer Beschlußfassung des Wahlvorstandes bedarf, sind mit fortlaufenden Nummern zu versehen und dem Wahlprotokoll beizufügen. Alle übrigen Stimmzettel sind zu versiegeln und so lange aufzubewahren, bis der Reichstag die W. geprüft und für gültig erklärt hat (s. auch Wahlprüfung). Für jeden Wahlkreis ist ein Abgeordneter zu wählen. Die Abgeordneten sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Wahlperiode (Legislaturperiode) wird der Zeitraum genannt, für den die Abgeordneten verfassungsgemäß zu wählen sind. Ihre Dauer ist für den deutschen Reichstag durch Reichsgesetz vom 19. März 1888 von drei auf fünf Jahre verlängert, für die deutschen Landtage verschieden, auf sechs, fünf, vier und drei Jahre, festgesetzt. Erledigt sich ein Abgeordnetensitz in der Zwischenzeit, so ist für den Rest der Wahlperiode eine Nachwahl vorzunehmen; bei Auflösung der Volksvertretung ist zu einer allgemeinen Neuwahl auf die volle Wahlperiode zu schreiten, und zwar für den Reichstag innerhalb 60 Tagen.

Die österreichische Wahlordnung ist vielfach kompliziert; meist bilden die Wahlberechtigten eines Wahlbezirks (zuweilen ein ganzes Land, zuweilen eine Stadt, zuweilen mehrere Gerichtsbezirke) einen Wahlkörper; in Böhmen wählen die Großgrundbesitzer in sechs Wahlkörpern, die Wahlberechtigten des städtischen Wahlbezirks von Triest wählen in drei Wahlkörpern; Mitglieder der Handels- und Gewerbekammern können für sich allein einen Wahlkörper bilden oder im Verein mit den Wahlberechtigten des städtischen Wahlbezirks. Jedes der Königreiche und Länder wählt eine bestimmte Zahl Abgeordneter, die unter die vier vor 1896 bestehenden Wählerklassen aufgeteilt ist; die Zahl der von der fünften »allgemeinen« Wählerklasse zu wählenden Abgeordneten ist für die einzelnen Königreiche und Länder bestimmt. Das Wahlrecht in den bis 1896 allein bestehenden vier Wählerklassen schließt die Ausübung des Wahlrechts in der »allgemeinen« Wählerklasse desselben Landes nicht aus. Die Mitglieder des Hauses der Abgeordneten werden auf sechs Jahre gewählt. Erledigt sich ein Mandat früher, so findet Nachwahl statt. Die Prüfung der Wahlakte wird durch das Abgeordnetenhaus vorgenommen. Sehr kompliziert sind die Wahl ordnungen für die einzelnen Landtage in Österreich; diese sind gerade in neuester Zeit vielfach neu geregelt worden, soz. B. für Mähren durch Gesetze von 1905. – Übrigens haben sich wiederholt Stimmen für eine Wahlreform und namentlich gegen die W. nach Wahlkreisen erhoben, indem man Landeswahlen an ihre Stelle setzen und auch den Minderheiten Berücksichtigung zuteil werden lassen will (Proportionalwahl, Weiteres über diese s. die Textbeilage). Von Pluralsystem spricht man, wenn gewisse Wähler mehrere Stimmen besitzen. Dies kann durch höhern Steuerzensus, höhere Bildung etc. begründet sein. In dieser Richtung hat das belgische Wahlgesetz vom 18. [308] April 1893 einen interessanten Versuch gemacht. Vgl. Tzschoppe, Geschichte des deutschen Reichstagswahlrechts (Leipz. 1890); F. Frensdorff, Die Aufnahme des allgemeinen Wahlrechts in das öffentliche Recht Deutschlands (das. 1892); J. Charbonnier, L'organisation électorale et représentative de tous les pays civilisés (2. Aufl., Par. 1883); G. Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht (Berl. 1901); L. v. Savigny, Das parlamentarische Wahlrecht im Reiche und in Preußen und seine Reform (das. 1907); »Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart«, Bd. 1 (Tübing. 1907). Vgl. auch die folgenden Artikel: Wahlprotest, Wahlprüfung, Wahlvergehen.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 307-309.
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