Bulle [1]

[446] Bulle, 1) eigentlich die Kapsel, worin das an einer Schnur befestigte Siegel der Urkunden hing; 2) Siegel von Gold, Silber, Blei, dergleichen Päpste u. Regenten an ihre Urkunden hängten; daher 3) eine kaiserliche Urkunde (z.B. die Goldene Bulle, s.d.), deren sich Byzantinische u. Fränkische Kaiser schon im 9. Jahrh. bedienten; bes. 4) eine zum Zeichen ihrer Echtheit damit versehene päpstliche Urkunde od. Verordnung von größerer Wichtigkeit; vgl. Breven. Im 7. Jahrh. kamen diese bleiernen B-n an päpstlichen Schreiben auf u. stellten in der Regel vorn die Brustbilder der Apostel Petrus u. Paulus, hinten den Namen des Papstes, seit dem 16. Jahrh. vorn, statt der Brustbilder, das Wappen des Papstes dar. Fertigt der Papst vor seiner Weihe B-n aus, so wird die vordere Seite des Siegels leer gelassen, daher sie halbe Bullen heißen. Eine in das Pergament geheftete Schnur, bei Gnadensachen, Verleihung geistlicher Würden etc., von gelb u. rother Seide, bei Aufträgen u. Entscheidungen in Streitsachen von grauem Hanf, hält das Blei an der Urkunde fest. Die bei allen B-n beobachtete Form sieht man auf der Überschrift: Pius Epscopus Servus Servorum Dei Ad Perpetuam Rei Memoriam, u. dem Datum: Romae Apud Sauctam Mariam Majorem Anno Incarnationis Dominicae.... (Jahreszahl n. Chr. u. Datum) Pontificatus Nostri Anno.... (Jahreszahl des Papates). Ist im Texte der B. vom Papste die Rede, so wird nicht Papa od. Episcopus, sondern Pontifex gesetzt. Kreuz-Bullen (Bullae cruciatae), sind solche, worin der Papst, von weltlicher Macht bekriegt, die Hülfe aller Fürsten anruft. Die feierlichsten sind die Kanonisations-Bullen, sie werden (wie bis in das 12. Jahrh. auch bei anderen B-n geschah) vom Papst u. allen in Rom anwesenden Cardinälen eigenhändig, alle anderen B-n aber jetzt gar nicht unterschrieben. Zur Entscheidung über kirchliche Lehre u. Verfassung, zur Sanction der Stiftung von Kathedralkirchen, Klöstern u. höheren geistlichen Würden, zur Verleihung von Prälaturen, Ablässen, zur Bestätigung der Wahl eines Bischofs, Abts, Priors, oberen Diguitars in den Hochstiftern sind nach päpstlichem Rechte B-n erforderlich. Hat der Papst die darum ansuchende Bittschrift von der Dataria erhalten u. mit seinem Fiat bezeichnet, so gelangt sie durch die Hände verschiedener Revisoren an die Dataria zurück, wo mehrere Beamten das Datum zusammensetzen, dann an die Registratur zum Registriren u. Vorlesen u. durch das Kanzleinotariat an die Abbreviatoren, welche das Concept zur B. (Minuta) entwerfen. Dies wird von den apostolischen Schreibern lateinisch in gothischer Schrift (an unirte Griechen griechisch), ohne alle Interpunction mundirt, das Mundum von anderen Beamten corrigirt, revidirt, plumbirt (mit dem Bleisiegel behangen), registrirt u. signirt; daher die Kostspieligkeit[446] einer B., weil alle diese Beamten dafür ihre Sporteln erhalten. Ihre Namen erhalten B-n nach ihren Anfangsworten; z.B.: In Coena Domini etc. Ex omnibus afflictionibus etc. Unigenitus etc. Dominus ac Redemtor noster etc. (s.d. a.) Im Kirchenstaate erhalten die B-n schon durch Anheften an die Thüren der Hauptkirchen Roms Gesetzeskraft, in anderen Staaten nur durch die landesherrliche Genehmigung (Placet od. Pareatis od. Exequatur), ohne welche keine B. publicirt werden darf. Die B-n sind wichtige historische Denkmale zu einer pragmatischen Geschichte des Papstthums. Daher sind auch große Sammlungen derselben unter dem Namen Bullaria veranstaltet. Das älteste Bullarium magnum romanum ist von Laertius Cherubini, Rom 1586, Fol. (von Leo I. bis Sixtus V.) fortgesetzt von seinem Sohne Angel, Maria Cherubini (bis Urban VIII.), Rom 1634, 4 Bde. Fol., vermehrt bis Clemens X. von Angel. a Lantusca u. Joh. Paul. a Roma, Rom 1670, 5 Bde. Fol., vermehrt, Leyd. 1692–97, 5 Bde. Fol., Rom 1733–48, 17 Thle. in 28 Bden., Fol., bis Benedict XIV., dessen B-n allein 4 Bände füllen, Luxemburg (Genf) 1727–1738, 19 Theile in 11 Bänden Fol.; ferner Bullarium romanum, herausgegeben von Coquelini, Rom 1733–48, 28 Bde. Fol.; Bullarium rom. magnum (von Clemens XIII. bis Pius VIII.), Wien 1834 f., 4 Bde. Fol., Fortsetzung von Spetia 1835–44. Diese Sammlungen, die auch Breven u. andere päpstliche Verordnungen enthalten, sind als Urkundensammlungen zuverlässig, haben aber, weil viele B-n nicht in allen katholischen Ländern publicirt u. angenommen wurden, nicht das Gewicht eines allgemein gültigen Gesetzbuches des Kanonischen Rechtes. Die Gerichtshöfe im Kirchenstaate lassen die Berufung auf die römischen Ausgaben des Bullarium zu. Einen Auszug aus den merkwürdigen B-n gibt Eisenschmids Bullarium, Neust. 1831, 2 Bde. Die Benedictiner, Cistercienser, Dominicaner, Franciscaner u. Kapuziner haben die, ihre Orden betreffenden päpstlichen Verordnungen in besonderen Bullarien gesammelt.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 3. Altenburg 1857, S. 446-447.
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