[116⇒] Hypothese – Das Wort, griech. hypothesis, ist unverändert in die modernen Sprachen, in die Sprachen aller Wissenschaften übergegangen; kaum daß lat. conditio, in seiner engeren Bedeutung Bedingung, an eine der Vorstellungen anklingt, die das griechische Wort in der Gemeinsprache erweckte, neben einigen andern Vorstellungen, die alle darauf hinausgingen, daß die hypothesis irgend einer andern Sache, Rede, Behauptung zur Unterlage diente; ein Versuch Campes, das Wort (mit einem richtigen Gedanken, aber mit schlechtem Geschmack) durch Wagesatz zu verdeutschen, ist fast ohne Folge geblieben. Die Zugehörigkeit des Wortes zur griechischen Gemeinsprache ist auch bei Platon, der es schon gebraucht, nacht überwunden; immer wieder verstand man unter Hypothesen, ohne eine klare Definition zu geben, Voraussetzungen, und meinte eigentlich, daß nur ein Grad-Unterschied bestehe zwischen verifizierten und noch nicht verifizierten Voraussetzungen. Man stellte praktische Regeln für die Erfindung von Hypothesen auf, die im Grunde auf die billige Weisheit hinausliefen: principia praeter necessitatem non sunt multiplicanda. Newton scheint die Scheu vor Hypothesen zuerst stark gefühlt zu haben; er stellte die große, noch heute aufrechte Hypothese der Gravitation auf, und wagte dennoch den berühmt stolzen Satz: hypotheses non fingo. Man erkannte allmählich die Hypothesen, ohne die man nicht auskommen konnte, als vorläufige Voraussetzungen an, und erst Comte und seine Schüler bildeten die Utopie aus, den Traum von einer voraussetzungslosen Wissenschaft. Dieser Traum ist nicht realisierbar. Selbst die Geometrie muß von vorläufigen Voraussetzungen ausgehen. So gewöhnte man sich denn [⇐116][117⇒] daran, vorläufig angenommene Ursachen oder auch vorläufig angenommene Gesetze Hypothesen zu nennen. War dann ein Zusammenhang durch die wissenschaftliche Erfahrung oder auch nur durch die theoretische Rechnung bestätigt, so sprach man selbstzufrieden von endgültigen Gesetzen, von sicher erkannten Ursachen. Nur erkenntnistheoretisch geschulte Forscher erkannten, daß auch die Verifizierung nur ein relativer Begriff ist; alle unsre Wissenschaften sind voll von Hypothesen; gerade die obersten Sätze unsrer Physik und unsrer Biologie sind Hypothesen. Nur in der Natur selbst gibt es keine Hypothesen, weil die Natur kein Wissen von sich hat und weil die Hypothesen in den Worten, Beweisen und Sätzen der menschlichen Sprache stecken.
Das habe ich (Kr. d. Spr. III 489 ff.) ausführlich darzustellen gesucht. »Worin besteht das Wesen der Hypothese? Doch nur darin, daß wir eine Prämisse vorläufig als richtig annehmen und sie solange nicht verwerfen, als formale Schlüsse aus ihr unsern Wahrnehmungen der Wirklichkeitswelt nicht widersprechen. Nun aber wissen wir, daß auch die angeblich sicheren Prämissen nur auseinandergelegte Begriffe sind. Bei unserm Zweifel an der Festigkeit unsrer Worte oder Begriffe werden wir nun gleich vermuten, daß sich kein einziger Begriff zu einer zuverlässigen Prämisse auseinanderlegen lasse, daß in allen begrifflichen Wissenschaften, also in der ganzen weiten Welt unseres Denkens, alle Prämissen nur vorläufigen Wert haben, daß demnach alle aus ihnen gezogenen Schlüsse doch nur Hypothesen sein werden. Jedes Wort unsrer Sprache enthält in seinen Merkmalen die Schlüsse, die aus ihm gezogen wenden können; jedes Wort enthält Beweise, Gesetze, jedes Wort enthält Hypothesen.«
Zu einer solchen Vorstellung hätte selbst die Logik gelangen müssen, wenn nicht just die Logik mit ganz besondrer Andacht zu der menschlichen Sprache als zu einem hohem Wesen aufgeblickt hätte; hatte aufblicken müssen, weil ohne den Glauben an die Festigkeit der Begriffe oder Worte das ganze Gebäude zusammenstürzte. Aber nahe genug kam die [⇐117][118⇒] modernere Methodenlehre der Logik doch solchen Gedanken. So hat Sigwart (Logik² II 297 f.) schon sehr gut darauf hingewiesen, daß die Hypothesenbildung ein heuristisches Prinzip sei und häufig auf Umkehrung gegebener Sätze hinauslaufe. Die Geometrie lehrt z.B., daß alle gleichschenkligen Dreiecke gleiche Basiswinkel haben; nach der formalen Logik hätten wir nur das Recht zu einer partikularen Umkehrung, dürften in der logischen Schulsprache nur schließen: einige Dreiecke mit gleichem Basiswinkel sind gleichschenklige Dreiecke; wir verallgemeinern aber die Umkehrung und sind geneigt, die vorläufige Hypothese aufzustellen, daß alle Dreiecke mit gleichen Basiswinkeln gleichschenklige Dreiecke seien. Diese Hypothese wird dann durch einen elementaren Beweis verifiziert. Nur daß (was auch Sigwart übersieht) dieser elementare Beweis auf einer schwierigen und nicht verifizierbaren Hilfshypothese beruht, auf dem Parallelenaxiom. Immerhin hat Sigwart da ein gutes Beispiel gegeben für die Art, wie wir uns durch Generalisierung einer Umkehrung neue Aufgaben stellen. Nun haben wir ums seit Bacon und noch mehr seit Mill davon überzeugen lassen, daß unsre sichern Sätze nicht auf Deduktion, sondern auf Induktion beruhen, also eigentlich immer auf Generalisierungen; die Umkehrungen solcher Sätze stellen demnach Hypothesen auf, die andre Hypothesen zur Grundlage haben. Weil aber unsre Begriffe oder Worte ihr Prädikat mitbezeichnen, so stecken alle Hypothesen schon in den Worten.
Ich habe (a. a. O. S. 498) versucht, mich durch eine Phantasie auf einen etwas hohem Standpunkt zu erheben. »Unsre Worte oder Artbegriffe, welche Platon für die Ideen der Erscheinungen erklärt hat, scheinen uns so zuverlässig zu sein, daß mancher den Kopf schütteln mag, wenn er auch so handgreifliche Begriffe wie Erde, Wasser, Eiche, Mensch für Hypothesen hallen soll. Wie aber, wenn wir uns einen Geist vorstellen, für den Millionen Jahre der Entwicklung wären wie ein Tag? Wie, wenn vor den Augen dieses Geistes die Urstoffe der Welt sich in wenigen Stunden dieses Geistes [⇐118][119⇒] gemächlich zu der Erdkugel ballen, glühen, erstarren, lebendig werden, erfrieren, zurückstürzen in die Sonne und sich in ihrer Glut neuerdings auflösen in die Urstoffe der Welt? Ist dann der Begriff Erde, der Name der Form eines flüchtigen Viertelstündchens, auch noch mehr als ein luftiges Wort? Ist dann der Name Ende noch mehr als die Hypothese eines Übergangszustandes der Urstoffe? Ist dann der Name Erde noch mehr als die Hypothese sieden, die wir von einer Übergangsform des Wassers gebrauchen? Und ist der Begriff Wasser, das einst auf Erden nicht war und dereinst wieder nicht mehr sein wird, nicht ebenso eine Hypothese zur Beruhigung des beschaulichen Geistes, der die Erde entstehen und vergehen sieht, wie das Kind die Farben auf einer Seifenblase, die schönen Farben, die doch gewiß Hypothesen sind? Und ist das Wort Eiche, die während des kurzen Viertelstündchens des Erdendaseins einmal aus andern Formen hervorging, wie eine Eisblume auf der Fensterscheibe einen neuen Kristall ansetzt, ist die Eiche mehr als eine Hypothese? Und der Mensch? Was sich auf dieser Erdkruste kribbelnd und krabbelnd formte und wandelte, bis es einmal flüchtig so wurde, wie der beschauliche Geist seit einigen Minuten Milliarden von Menschen sieht, ist er mehr als eine Hypothese?«
Bei dieser Phantasie liegt mir natürlich nichts ferner als die Meinung, alle Worte der Menschensprache seien gleichwertig, seien gleich unkontrollierbare Hypothesen. Da ist es aber merkwürdig, daß gerade die allerallgemeinsten Begriffe, deren Realität sich jeder Kontrolle entzieht, unter den Gedankendingen die ältesten und festesten Hypothesen der Menschheit sind: Gott, Ding, Raum, Zeit, Bewegung, Wärme, Einheit, Gesetz, Ursache. So stoßen wir plötzlich auf eine neue Schwierigkeit. Die strengere Methode der gegenwärtigen Wissenschaft betrachtet – wie gesagt – vorsichtig die notwendigen Hypothesen als vorläufig angenommene Gesetze oder Ursachen und baut auf diesen Hypothesen ihre Theorien auf mit dem Vorbehalte, die Hypothese fallen zu lassen, wenn die Theorie sich nicht in thesi bewährt hat. Nun aber haben wir [⇐119][120⇒] erfahren, daß auch die definitiv angenommenen Gesetze und Ursachen Hypothesen enthalten, ja daß der Begriff Gesetz, der Begriff Ursache schon eine Hypothese sei. So bedingt ist die Welterkenntnis des Menschen von den Worten seiner Sprache, daß er nur die Wahl hat zwischen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Hypothesen, sich zu unbedingten Urteilen niemals erheben kann. Goethe hat diese Anschauung oft und oft ausgesprochen und für den Ausdruck die Worte begrenzen, beschränken, bedingen gern gehabt; und auch über den Begriff der Hypothese hat er einmal (Spr. i. Prosa 920) ein weises Wort gesprochen: »Hypothesen sind Wiegenlieder, womit der Lehrer seine Schüler einlullt; der denkende, treue Beobachter lernt immer mehr seine Beschränkung kennen; er sieht, je weiter sich das Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein.« Und für Leute, denen Goethes Weisheit nicht fachwissenschaftlich genug ist, kann ich mich auf Poincaré berufen, der in seinem sehr lesenswerten Buche »La Science et l'Hypothèse« (S. 178 f.) fein zwischen den natürlichen, den gleichgültigen und den eigentlich generalisierenden Hypothesen unterscheidet, unmittelbar vorher aber die Warnung ausspricht: »Le ferme propos de se soumettre a l'expérience ne suffit pas; il y à encore des hypothèses dangereuses; ce sont d'abord, ce sont surtout celles qui sont tacites et inconscientes. Puisque nous les faisons sans le savoir, nous sommes impuissants à les abandonner.« Ich fürchte nur eben, daß alle unsre Begriffe oder Worte, die reichsten oder allgemeinsten zumeist, solche natürliche, stille, unbewußte Hypothesen mitbedeuten. [⇐120]
Avogadros Hypothese, s. Gase.
[845⇒] Hypothēse (grch.), Unterlage, Voraussetzung, Bedingung; insbes. Annahme eines nicht streng bewiesenen Lehrsatzes zur Erklärung einer Reihe von Erscheinungen. Hypothētisch, auf bloßer Voraussetzung beruhend, bedingungsweise. Hypothetisches Urteil, Urteil, in dem die Gültigkeit des Nachsatzes durch die des Vordersatzes bedingt ist. [⇐845]
[717⇒] Hypothēse (griech., »Unterstellung«), in der Logik ein angenommener, nur auf Wahrscheinlichkeit beruhender Satz. Daher auch, besonders in der Naturwissenschaft, eine zum Zweck der Erklärung gewisser tatsächlicher Erscheinungen gemachte, selbst aber unbewiesene Annahme. Die H. kann sich nun entweder (als provisorische H.) bloß auf Verhältnisse beziehen, die, wenn auch vorläufig noch nicht klargestellt, doch der direkten Beobachtung und somit späterer empirischer Feststellung fähig sind, oder aber (als theoretische H.) die Beschaffenheit und die Wirkungsgesetze der ihrem Wesen nach unwahrnehmbaren Ursachen der Erscheinungen betreffen. Zu der ersten Klasse gehört z. B. die H. der Existenz eines eisfreien Polarmeeres, die Hypothesen über die Entstehung der Gewitterelektrizität etc., zu der letztern die atomistische H. der Chemie, die Lichtätherhypothese etc. Die provisorische H. hat hauptsächlich eine heuristische Bedeutung, insofern sie einen Antrieb zu Forschungen gibt, durch die sie selbst entweder widerlegt oder bestätigt und damit zum Rang eines vollbewiesenen Erfahrungssatzes erhoben wird (vgl. Induktion). Die theoretische H. kann ihrer Natur nach niemals direkt und vollständig bewiesen, sondern nur zu immer größerer Wahrscheinlichkeit erhoben werden. Man hat sie deswegen vielfach ganz aus der Naturwissenschaft verbannen wollen (Comte, Mach, Ostwald und andre Vertreter des naturwissenschaftlichen Phänomenalismus); dann müßte jedoch zugleich auf den meisten Gebieten auf eine die Gesamtheit der Erscheinungen zusammenfassende und einheitlich erklärende Theorie (s. d.) verzichtet werden. Wenn selbstverständlich keine H. einen innern Widerspruch enthalten oder zu bekannten Tatsachen in direktem Widerspruch stehen darf, so muß eine wissenschaftlich berechtigte theoretische H. außerdem noch mit den Grundbegriffen unsrer Naturauffassung [⇐717][718⇒] übereinstimmen; so ist es z. B. logisch unzulässig, Substanzen mit veränderlichen Eigenschaften oder Kräfte, die an keinen materiellen Träger gebunden sind, vorauszusetzen. Sie muß ferner ausreichen zur Erklärung der Erscheinungen, darf aber auch nichtmehr enthalten, als zu diesem Zweck anzunehmen nötig ist. Diese Bedingungen in Verbindung mit der Forderung, daß auch keine Folgerung aus der H. der Erfahrung widerspreche, lassen der Willkür zumeist keinen sehr weiten Spielraum übrig. Vgl. Poincaré, Wissenschaft und H. (deutsch von Lindemann, Leipz. 1904). [⇐718]
Hofacker-Sadlersche Hypothese, s. Bevölkerung, S. 789.
[269⇒] Hypothese (gr. hypothesis) heißt Voraussetzung, Annahme, Bedingung.. Ihre einfachste Form ist das hypothetische Urteil: »Wenn A ist, so ist B«, in dem die Gültigkeit des Nachsatzes (thesis) durch die des Vordersatzes (hypothesia) bedingt ist. Hypothetisches Verhältnis heißt demnach das Verhältnis von Bedingung und Bedingtem, von Grund und Folge. Hypothetisch heißt daher eine Behauptung, welche, weil ihre Gültigkeit erst von einer anderen abhängt, ungewiß, zweifelhaft ist. – Hypothesen im engeren Sinne sind verallgemeinernde Annahmen, welche man macht, um für eine Menge von Naturerscheinungen das Gesetz, den Erkenntnisgrund zu finden. Jede Hypothese ist also ein Versuch, die Lücken unserer Erfahrung durch Begriffe auszufüllen und zu erklären, eine vorläufige Annahme einer Prämisse, die eine für wahr gehaltene Ursache festzustellen versucht. Sie ist keine willkürliche, aus der Luft gegriffene Behauptung, sondern das Resultat der Rückschlüsse aus Erfahrungen und zugleich die Prämisse für zu versuchende Deduktionen. Die Form der Hypothese ist der Weg zu den höheren abschließenden Begriffen; sie dient dazu, den logischen Zusammenhang der Tatsachen zu vermitteln. Eine gute Hypothese muß die einschlägigen Tatsachen wirklich erklären, so einfach als möglich sein, nicht viele Hilfshypothesen erfordern und keinem Vernunft- oder Naturgesetz widersprechen. Für erwiesen gilt sie, wenn entweder alle anderen Erklärungen sich als logisch undenkbar oder faktisch unhaltbar herausstellen, während sie selbst den Tatbestand genügend erklärt, oder wenn sie über Gebiete Licht verbreitet, die bisher unbekannt waren. Sie erlangt dadurch den Rang eines wissenschaftlichen Lehrsatzes; solche Hypothesen sind z.B. das Trägheitsgesetz, die Gravitationshypothese Newtons, Laplaces Hypothese von der Kosmogonie, die Annahme eines Äthers, die elektrische Lichttheorie, das Prinzip von der Erhaltung der Energie. Daß alle Hypothesen keinen dauernden Abschluß der Forschung bilden, und jede der beständigen Nachprüfung bedarf, da neue Erfahrungen gemacht werden können und auch unser Geist sich vervollkommnet, hat in feinsinniger Analyse der Begriffe, Zahl und Große, Raum, Kraft und Natur neuerdings Poincaré (Wissenschaft und Hypothese, Leipzig 1904, übersetzt v. Lindemann) gezeigt. Die Aufstellung von Hypothesen hängt ebensosehr von Gelehrsamkeit als von scharfsinniger Kombination und glücklichem Blick ab. Vgl. Apelt, [⇐269] [270⇒] Theorie der Induktion. J. St. Mill, Logik II. W. Wundt, Logik I. Sigwart, Logik. Tübingen 1873-78. [⇐270]
Young-Helmholtzsche Hypothese s. Helmholtzsche Hypothese.
[442⇒] Hypothese (hypothesis): Voraussetzung, Annahme, vorläufige Aufstellung eines Principes zur Erklärung von Tatsachen, aber auf Grund der Erfahrung und von Wahrscheinlichkeitsschlüssen, im Unterschiede von der bloßen Fiction (s. d.). Durch Verification kann die Hypothese in eine Theorie (s. d.) übergehen. Ohne Hypothesen kann die Forschung und kann das Erkennen überhaupt nicht auskommen, doch ist zu fordern, daß mit einem Minimum von Hypothesen gearbeitet werde (»principia praeter necessitatem non sunt multiplicanda«) und daß die Hypothesen gut fundiert seien.
Als Hypothesis wird zuerst der Satz bezeichnet, der an seinen Consequenzen geprüft werden soll, ein Verfahren, das schon ZENO VON ELEA befolgt. PLATO versteht unter Hypothesis die Festlegung eines allgemeinen Satzes als Voraussetzung und Begründung von anderen als dessen Folgen: hypothemenos hekastote logon, hon an krinô errhômenestaton einai, ha men an moi dokê toutô xymphônein, tithêmi hôs alêphê onta (Phaed. 100 A); hypothesin hypothemenos (1 c. 101 D); hypotheseis tas prôtas (l.c. 107 B); ex hypotheseôs (Rep. VI, 510 B; VII, 533 C). Der logische Zusammenhang von Voraussetzung und Folge macht eine Meinung erst zur Erkenntnis (vgl. Meno 98 A: aitias logismô vgl. GORGIAS 475 E, 482 C u. ff.). Die »Methode der hypothetischen Begriffserörterung« läuft darauf hinaus, »die Brauchbarkeit und Sicherheit eines im Denken gewonnenen Begriffs an der Richtigkeit der aus ihm abzuleitenden Folgerungen zu prüfen« (WINDELBAND, Plato S. 70). Nach ARISTOTELES ist Hypothesis eine Annahme, ein nicht evidenter Satz (Anal. post. I, 2; Anal. prior. I, 44, 50 a 16); ex hypotheseôs (Anal. prior. I, 10, 30 b 32; Met. IV, 2, l005 a 13). – M. PSELLUS definiert: hypothesis gar esti proslêpsis horou ousiôdous anti tinos (PRANTL, G. d. L. II, [⇐442][443⇒] 280). – Bei KEPLER bedeutet »hypothesis« die Voraussetzung, Grundlage einer Induction.
Vor dem Gebrauche willkürlicher, voreiliger Hypothesen warnt LOCKE (Ess. IV, ch. 12, § 12). Gute Hypothesen aber unterstützen das Gedächtnis und sind von heuristischem Werte (1. G. § 13). NEWTON gebraucht die Hypothese methodisch, ohne in willkürliche Hypothesenbildnerei verfallen zu wollen (»hypotheses non fingo«) Nach LAMBERT ist eine Hypothese »ein willkürlich angenommener Begriff von einer Sache, aus welchem man dieselbe erklären will« (N. Organ. § 567). Nach J. EBERT ist sie »ein angenommener möglicher Satz, dessen Wahrscheinlichkeit man aus der Übereinstimmung mit den bekannten Umständen zu zeigen sucht« (Vernunftl. S. 143). KANT definiert: »Eine Hypothese ist ein Fürwahrhalten des Urteils von der Wahrheit eines Grundes um der Zulänglichkeit der Folgen willen; oder kürzer: das Fürwahrhalten einer Voraussetzung als Grundes« (Log. S. 132). Hypothesen bleiben immer »Voraussetzungen, zu deren völliger Gewißheit wir nie gelangen können« (ib.) »Demohngeachtet kann die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese doch wachsen und zu einem Analogon der Gewißheit sich erheben, wenn nämlich alle Folgen, die uns bis jetzt vorgekommen sind, aus dem vorausgesetzten Grunde sich erklären lassen« (ib.). Mathematik und Metaphysik erlauben keine Hypothesen, aber in der Naturlehre sind sie nützlich und unentbehrlich (l.c. S. 134). »Was ich auch nur als Hypothese annehme, davon muß ich wenigstens seinen Eigenschaften nach so viel kennen, daß ich nicht seinen Begriff, sondern nur sein Dasein erdichten darf« (WW. III, 545; vgl. Kr. d. Urt. § 90). FRIES versteht unter Hypothesen Voraussetzungen, welche hintennach durch hypothetische Inductionen bewiesen werden (Syst. d. Log. S. 29l, 434). Nach G. E. SCHULZE sind Hypothesen (»Wageerklärungen«) »Voraussetzungen einer noch unbekannten Ursache des nach der Erfahrung Vorhandenen oder einer noch nicht bekannten Art und Weise, wie gewisse Kräfte in der Natur etwas bewirken« (Allg. Log.3, S. 183). BACHMANN bestimmt: »Eine Hypothese ist eine Voraussetzung, welche man in der Absicht aufstellt, um daraus gewisse Facta, Erscheinungen natürlich erklären zu können« (Syst. d. Log. S. 344). Regeln der Hypothesenbildung: 1) »Es muß ein objectiver Grund vorhanden sein, wodurch die Annahme derselben notwendig und gerechtfertigt wird. Die Tatsachen müssen gewiß, aber der Grund verborgen sein.« 2) »Sie sei so einfach als möglich.« 3) »Sie muß nicht bloß in sich frei von Widersprüchen sein, sondern auch mit den übrigen bekannten Naturgesetzen und überhaupt mit allen anderen Wahrheiten zusammenstimmen.« 4) »Sie muß mit den Phänomenen, um derentwillen sie angenommen wurde, in Harmonie stehen, d.h. es müssen sich diese mit allen ihren Eigentümlichkeiten aus ihr leicht und ungezwungen erklären lassen.« (l.c. S. 345). SCHOPENHAUER erklärt: »Eine richtige Hypothese ist nichts weiter als der wahre und vollständige Ausdruck der vorliegenden Tatsache, welche der Urheber derselben in ihrem eigentlichen Wesen und innerem Zusammenhang intuitiv aufgefaßt hatte. Denn sie sagt uns nur, was hier eigentlich vorgeht« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 12). Gegner aller metaphysischen Hypothesen ist COMTE, welcher betont: »Les hypothèses vraiment philosophiques doivent constamment présenter le caractère de simples anticipations sur ce que l'expérience et le raisonnement auraient pu dévoiler immediatement, si les circonstances du problème eussent été plus favorables« (Cours de philos. posit. I, leç. 28). Den Wert der Hypothesen erörtert J. ST. MILL (Log. II, 17). Nach LOTZE sind Hypothesen [⇐443][444⇒] »Vermutungen, durch welche wir einen in der Wahrnehmung nicht gegebenen Tatbestand zu erraten suchen, von dem wir meinen, daß er in Wirklichkeit vorhanden sein müsse, damit das in der Wahrnehmung Gegebene möglich, d.h. aus den anerkannt höchsten Gesetzen des Zusammenhangs der Dinge begreiflich ist« (Gr. d. Log. S. S4). ÜBERWEG nennt Hypothese »die vorläufige Annahme einer ungewissen Prämisse, die auf eine dafür gehaltene Ursache geht, zum Zweck ihrer Prüfung an ihren Consequenzen« (Log.4, § 134). Nach v. KIRCHMANN ist eine Hypothese »ein versuchsweise aufgestelltes Gesetz, bei welchem es dann darauf ankommt, seine Wahrheit zu beweisen« (Kat. d. Philos. S. 67). W. JAMES nennt Hypothese »alles, was mit dem Anspruch, geglaubt zu werden, an uns herantritt« (Wille z. Glaub. S. 2). Die Entscheidung zwischen zwei Hypothesen ist eine Option (l.c. S. 3). Nach WUNDT sind Hypothesen Voraussetzungen, welche notwendig zur Erklärung der Tatsachen gemacht werden (Log. I, 404; vgl. II2, 1). P. VOLKMANN definiert: »Hypothesen sind Vorstellungen und Anschauungen, mit denen wir uns über die Ungenauigkeit unserer sinnlichen Anschauung erheben, es sind also übersinnliche Vorstellungen und Anschauungen« (Erk. Gr. d. Naturw. S. 61, vgl. S. 63). – E. MACH ist Anhänger einer »hypothesenfreien« Wissenschaft. So auch W. OSTWALD. Nach ihm ist es Aufgabe der Wissenschaft, »die in ihr auftretenden Mannigfaltigkeiten in solcher Weise darzustellen..., daß nur die tatsächlich in den darzustellenden Erscheinungen angetroffenen und nachgewiesenen Elemente in die Darstellung aufgenommen werden, alle anderen ungeprüften Elemente aber fernzuhalten. Dadurch sind alle sogenannten anschaulichen Hypothesen oder physikalischen Bilder ausgeschlossen« (Vorles. üb. Naturphilos.2, S. 213 f.). Erlaubt sind höchstens vorläufige Annahmen, »Protothesen«, ohne der Sache fremde Voraussetzungen (l.c. S. 399 f.). Dagegen bemerkt E. v. HARTMANN: »Die Hypotheseophobie ist eine ebensolche Kinderkrankheit der Physik, wie der Glaube an absolute Gewißheit ihrer Lehren« (Weltansch. d. modern. Physik S. 226). Nach H. CORNELIUS ist der Ursprung aller Hypothesenbildung »die Erkenntnis von Analogien zwischen verschiedenen Erscheinungsgebieten«. Solange die Hypothese nur zur Fixierung des rein tatsächlichen Ähnlichkeitsverhältnisses gebraucht wird, bleibt sie auf empirischem Boden. »Sie leistet aber damit zugleich alles, was für den Erklärungsmechanismus erfordert wird, indem sie eben den umfassenden Gesichtspunkt aufzeigt, unter welchem die neuen, zu erklärenden Erscheinungen sich mit bereits bekannten Tatsachen verknüpft zeigen« (Einl. in d. Philos. S. 42). »Dogmatische Annahme von Hypothesen ist eines der hartnäckigsten Hindernisse des Fortschritts wissenschaftlicher Erkenntnis« (l.c. S. 43). Vgl. Materie, Metaphysik. [⇐444]
Kosmorganische Hypothese s. Organismus.
Kosmozoische Hypothese s. Urzeugung.
Helmholtzsche Hypothese s. Lichtempfindung.
[688⇒] Hypothese (Hypothĕsis, gr.), 1) Grund-, Unterlage; 2) Grundlage für eine Rede, Schrift, Grundgedanke; 3) ein durch Personen u. Umstände bestimmter Hauptsatz einer Rede (z.B. Pompejus ist zum Feldherrn gegen Mitbridates zu wählen), im Gegensatz vom Satze, Thesis (z.B. was wird zu einem guten Feldherrn erfordert); 4) (Conditionalsatz), der Grundgedanke, die Aufgabe, das Thema zu einer Abhandlung od. Rede in den griechischen Rhetorenschulen; 5) (Argumentum), der kurzgefaßte Inhalt einer Tragödie, mit den nöthigen Beigaben, welche zum Verständniß gehören, Dergleichen H-n finden sich vor den griechischen [⇐688] [689⇒] Tragödien, sie stammen aus später Zeit u. sind aus den Didaskalien (s.d.) zusammengesetzt; 6) Voraussetzung, Vermuthung, Bedingung; 7) (Hypothetischer Satz), ein wahrscheinlicher Satz, der mit wenn so gebildet wird, deshalb aufgestellt, um aus demselben etwas sonst nicht Erweisliches zu folgern od. zu erklären; 8) jede auf Wahrscheinlichkeit gegründete Behauptung; 9) in der angewandten Mathematik die Annahme über die physische Beschaffenheit der Größen, welche den Gegenstand einer mathematischen Untersuchung ausmachen, z.B. daß das Licht ein Ausfluß des leuchtenden Körpers sei. [⇐689]
[384⇒] Hypothese, griech.-deutsch, Untersatz, dann: Voraussetzung, Vermuthung, Annahme, Bedingung. Das Wesen der hypothetischen oder bedingten Urtheile, Schlüsse u. Beweise liegt darin, daß eine Folge aus einem Grunde abgeleitet, von den Folgen auf die Gründe geschlossen wird. Die hypothetischen od. Bedingungssätze beginnen gewöhnlich mit »wenn, insofern, vorausgesetzt daß« u.s.w., haben namentlich in der griech. Grammatik ihre Schwierigkeiten u. spielen in der Wissenschaft entschieden die Hauptrolle. Hypothetisch wird oft mit: zweifelhaft, problematisch, gleichbedeutend gebraucht und dies schon deßhalb mit Recht, weil H.n eben nur Wahrscheinlichkeiten sind und höchst selten zu Wahrheitsschlüssen werden. Soll letzteres der Fall sein, so müssen alle Folgen bekannt und alle aus dem aufgefundenen Grunde entsprungen sein. [⇐384]
[435⇒] Hypothese ist eine Voraussetzung, welche zur Erklärung gewisser Erscheinungen gemacht wird. Die Hypothesen treten besonders in den Naturwissenschaften auf. Man macht z.B. aus gewissen Lichterscheinungen eine Voraussetzung über die Natur des Lichts und sucht nun aus dieser Annahme alle andern Lichtphänomene zu erklären. Die Hypothesen geben daher nicht sowol das Wesen und die Wahrheit des Gegenstandes, als vielmehr den Zustand unserer Kenntniß von jener Wahrheit an, und wenn sich daher die Kenntnisse erweitern, müssen sich die Hypothesen ändern und vervollkommen. [⇐435]
[1346⇒] Die Hypothēse, plur. die -n, aus dem Griech. und Lat. Hypothesis, ein als wahr angenommener, als wahr vorausgesetzter Satz, dessen Wahrheit aber noch nicht bewiesen ist. [⇐1346]
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