[231] Männergesangvereine. Wenn auch ein 1673 gegründeter Männerverein in Greiffenberg (Hinterpommern) und die 1620 gegründete »Singgesellschaft zum Antlitz« in St. Gallen als die Vorläufer unsrer heutigen M. betrachtet werden können und in England schon im 18. Jahrh. Klubs (Catchclub, Gleeclub, Madrigal-Society) existieren, die ähnliche Tendenzen verfolgten, so ist doch der eigentliche Männergesang, wie er jetzt gepflegt wird, als ein Kind des 19. Jahrh. zu betrachten. Die Gründung der ersten Liedertafel erfolgte 1809 durch Zelter in Berlin mit 24 Mitgliedern der Berliner Singakademie; dieselbe hatte einen sehr exklusiven Charakter, da nur Dichter, Berufssänger oder Komponisten aufgenommen wurden. Ihr vornehmstes Ziel war die Schaffung einer mehrstimmigen Literatur für Männerstimmen. Auch die in Nachbildung der Zelterschen Liedertafel entstehenden Liedertafeln in Leipzig (1815, Fr. Schneider), Frankfurt a. O., desgleichen die von L. Berger und B. Klein 1819 gegründete »Jüngere Berliner Liedertafel« waren noch weit entfernt von dem dilettantischen Wesen, das später sich im Männergesang breit machte, und rekrutierten sich nur aus Künstlerkreisen. Erst allmählich, nachdem diese ersten Liedertafeln eine schnell sich vermehrende Literatur für Männergesang geschaffen hatten, trat die produktive Tendenz für neuerstehende Vereine dieser Art zurück, und dafür wurden frohe Geselligkeit, gemeinschaftliche Ausflüge und namentlich Pflege des patriotischen Sinns das Band, das immer größere Kreise zusammenschloß und zu einer gänzlichen Umgestaltung des Musikdilettantismus führte. Zu den ältesten Liedertafeln gehören die zu Magdeburg (Mühling), Weida, Dessau (Fr. Schneider), Hamburg (Methfessel), Danzig, Königsberg und der Leipziger Universitätsgesangverein zu St. Pauli (1824). Nur ein Jahr später als Zelter (1810) begründete H. G. Nägeli in Zürich den ersten »Männerchor«, aber auf ganz andrer Grundlage als die Berliner Liedertafel. Während die ersten norddeutschen Liedertafeln nicht eigentlich Chorlieder, sondern Soloquartette schufen und eine künstlichere Setzweise aufwiesen, war der Schweizer Männergesang von Anfang an Chorgesang und zwar auf volksmäßiger Grundlage. Daher entwickelte sich in der Schweiz schneller die Tendenz zum Zusammenschluß solcher Vereine zu Massenvorträgen. In Norddeutschland entstanden ähnliche Vereinigungen zu Verbänden erst in Nachahmung der Zusammenschlüsse von Musikvereinen zur Veranstaltung von Musikfesten, so 1830 die erste »Provinzialliedertafel« in Bernburg, 1831 die Feste der »Norddeutschen Liedertafeln«, 1833 die »Märkischen Gesangsfeste«, 1840 der »Niedersächsische Sängerbund« etc. Die Bestrebungen Nägelis fanden wesentliche Förderung durch den Pfarrer Weishaupt, der 1824 den Appenzellischen Männerchor stiftete, dessen[231] erstes Gesangsfest 4. Aug. 1825 in Speicher gefeiert wurde. Die Sängervereine am Züricher See vereinigten sich zu einem Bunde, der 1826 das erste Zürichsee-Sängerfest in Meilen abhielt. Nun entstanden schnell Vereine in Thurgau, St. Gallen, Bern, Basel, Aargau u. Von der Schweiz aus verbreitete sich das Interesse für den Männergesang nach Süddeutschland. 1824 entstand, angeregt durch Sekretär Stadelbauer und G. A. Zumsteeg, der Stuttgarter »Liederkranz«; es folgten die Liederkränze in Ulm (1825), Kirchheim, Göppingen, Schorndorf, Reutlingen, Eßlingen, Heilbronn etc. Diese Vereine vereinigten sich zu einem ersten deutschen Liederfest, das zu Pfingsten (4. Juni) 1827 in Plochingen abgehalten und alljährlich wiederholt wurde. Wie in Schwaben, so zeigte sich auch in Baden Nägelis Einfluß auf die Entwickelung des Volksgesanges. Nägeli hielt 181925 in Karlsruhe und in mehreren rheinischen Städten Vorlesungen, infolgedessen 1824 die ersten Liedertafeln in Baden entstanden. 1844 fand das erste badische Sängerfest in Karlsruhe statt. Auch die rheinischen Städte rührten sich; im Februar 1828 wurde der Frankfurter Liederkranz gegründet, der bald eine hervorragende Stellung einnahm und sich später (1838) durch die Gründung der Mozart-Stiftung (s. d.) ein großes Verdienst erwarb. In den 1820er Jahren entstand auch die Liedertafel in Aachen, die erste, die dem deutschen Liede im Auslande durch ihren in Brüssel errungenen Sieg im Wettkampf Anerkennung verschaffte; ebenso erstritt sich der Kölner Männergesangverein durch seine Leistungen in Belgien und England eine hervorragende Stellung. In Österreich fand, durch die politischen Verhältnisse zurückgehalten, der deutsche Männerchor erst spät Eingang. 1843 gründete August Schmidt den Wiener Männergesangverein, der jetzt zu den bedeutendsten Vereinen zählt; dann folgten Graz, Linz, Innsbruck, Brünn, Prag, Reichenberg, Salzburg etc.
Die Feste der nun im Norden wie im Süden gebildeten Gauverbände waren anfangs auf die einfachste Weise eingerichtet: die Sänger kamen und gingen meist an demselben Tage, und die Kirche war der Schauplatz der Produktion. Erst später kam ein neues Element hinzu, das den Festen eine höhere Bedeutung verlieh, als sie bisher gehabt. Aarau feierte 5. Juni 1842 ein eidgenössisches Sängerfest, das einen allgemeinen nationalen Charakter erhielt. Ein zweites derartiges Fest beging 1843 Zürich, an dem 2000 Sänger aus elf Kantonen teilnahmen, die einen Sängerwettkampf ausführten, der von nun an ein neues Moment der Gesangfeste bildete. Auch das Äußere der Feste wurde prunkvoller. Besondere Sängerhallen wurden erbaut, große Festzüge mit fliegenden Fahnen fanden statt; ein Tag genügte nicht mehr, die Gastfreundschaft der Bewohner des Festortes bot den Sängern freudig Obdach und Lagerstatt. Eins der ersten deutschen Feste von solchem Zuschnitt war das fränkische Gesangfest in Schweinfurt (1843).
Zu nationaler Bedeutung erhob sich der Männergesang zuerst in den Elbherzogtümern. 1841 bildete sich die erste allgemeine Liedertafel in Altona; andre folgten in Eckernförde, Kiel, Rendsburg, Schleswig, Flensburg nach; es fanden niederelbische Gesangfeste statt, bei denen der Gesang, in Verbindung mit dem freien Wort, im Dienste des Widerstreits gegen das Dänentum benutzt wurde. In den Tagen vom 23. bis 25. Juli 1844 fand in Schleswig ein Gesangfest statt, bei dem die Liedertafel von Schleswig mit dem für diesen Tag geschaffenen Schleswig-Holstein-Lied auftrat (s. Chemnitz 4). Auch die Poesie trug nun ihr Scherflein zu dem Glanz der Feste bei. Die herbeiziehenden Sängerscharen brachten gedruckte poetische Festgrüße, das gesprochene Wort machte seine lebendige Kraft geltend; man wollte schon nicht mehr bloß singen, man sprach von deutschem Volksleben, von der Vereinigung deutscher Stämme durch den Gesang. Mit diesem Zweck trat das erste allgemeine deutsche Sängerfest in Würzburg (4.6. Aug. 1845) offen hervor. Ein andres großes deutsches Sängerfest fand 1847 in Lübeck statt. Im Westen Deutschlands dachte man darauf, durch den Männergesang auch die stammverwandten holländischen und belgischen Nachbarn dem deutschen Geiste wieder zu nähern, wie denn auch die in fremde Länder und Zonen verstreuten Deutschen mit Bildung von Männergesangvereinen rüstig vorgingen. In London wurde 1845, in Riga 1833, in Konstantinopel 1847 die erste Liedertafel gegründet. Von französischen Städten hat Lyon den ältesten Liederkranz (1834), dem Mendelssohn sein »Lied an die Deutschen in Lyon« widmete. In Amerika entstand der erste Männerchor 1835 in Philadelphia, in Australien Anfang der 1860er Jahre. In Brüssel und Gent hatten sich 1835 die ersten M. gebildet; im September 1841 wurde in Brüssel ein Gesangwettstreit abgehalten, an dem sich auch deutsche Vereine beteiligten. 1844 feierte man in Gent ein Gesangfest, dem der Deutsch-flämische Sängerbund sein Entstehen verdankte. Am 16. Aug. 1845 fand das erste holländisch-deutsche Sängerfest in Kleve und im Juni 1846 das erste deutsch-flämische Sängerfest in Köln statt; jenem folgte 1846 das in Kleve und 1847 das in Arnheim, diesem das in Brüssel (1846) und das in Gent (1847). Für 1848 war ein Sängerfest des Deutsch-Flämischen Bundes in Frankfurt a. M. beabsichtigt, das aber infolge der politischen Ereignisse unterbleiben mußte. Auch die folgenden Jahre zeigten sich den Liedertafelbestrebungen wenig günstig, und es währte eine geraume Zeit, bis die Feier eines allgemeinen deutschen Sängerfestes wieder angeregt wurde. Dies geschah auf dem Sängertag, den der Koburger Sängerkranz 1860 veranstaltete. Man wählte Nürnberg zum Festort und feierte in dieser Stadt im Sommer 1861 ein Gesangfest, das sich zu einem erhabenen Verbrüderungsfest gestaltete. Am Nachmittag des letzten Festtags (23. Juli 1861) traten die anwesenden Direktoren und Vorstände der Liedertafeln zu einer Beratung zusammen, in der unter anderm der Antrag auf Gründung eines allgemeinen deutschen Sängerbundes gestellt und angenommen wurde. Man übertrug die Vorarbeiten zur Gründung eines solchen dem Schwäbischen Sängerbunde, der sich seiner Aufgabe mit unverkennbarem Geschick und Organisationstalent entledigte. Am 21. Sept. 1862 fand in Koburg ein Sängertag statt, an dem sich 75 Abgeordnete als Vertreter von 41 Sängerbünden beteiligten. Von diesem Tag an datiert die Gründung des allgemeinen Deutschen Sängerbundes, einer die meisten Sängerbünde Deutschlands und viele der Sängerbünde und M. der im Ausland lebenden Deutschen umfassenden Vereinigung. Das Streben des Bundes bezweckt die Ausbildung und Veredelung des deutschen Männergesangs; auch will der Deutsche Sängerbund durch die dem Lied innewohnende einigende Kraft die nationale Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme stärken und an der Einheit und Macht des Vaterlandes[232] mit arbeiten. Das offizielle Bundesorgan ist die Zeitschrift »Die Sängerhalle« (Leipzig), 186287 redigiert von H. Pfeil, seitdem von K. Kipke. 1905 umfaßte der Deutsche Sängerbund 75 Einzelbünde mit 3838 Vereinen und 118,136 Sängern. Ein nur für die Mitglieder des Bundes berechnetes Unternehmen ist das »Liederbuch des Deutschen Sängerbundes«. Der Deutsche Sängerbund hat bis jetzt sechs Gesangfeste abgehalten: 1865 in Dresden, 1874 in München, 1882 in Hamburg, 1890 in Wien, das fünfte 1896 in Stuttgart, das sechste 1902 in Graz; das siebente soll 1907 in Breslau stattfinden. 1877 wurde aus freiwilligen Beiträgen der Mitglieder eine Sängerbundsstiftung zur Unterstützung von Komponisten auf dem Gebiete des deutschen Männergesangs und deren Hinterbliebenen errichtet. Der Vermögensbestand der Stiftung beträgt jetzt ca. 190,000 Mk. Die namhaftesten Komponisten für M. sind: Zelter, K. M. v. Weber, Franz Schubert, Fr. Silcher, Ludwig Berger, Bernhard Klein, Konradin Kreutzer, Daniel Elster, Karl Loewe, Heinrich Marschner, A. G. Methfessel, die Brüder Lachner, Mendelssohn, Schumann, G. Reichardt, V. Ed. Becker, K. Fr. Zöllner, K. A. Mangold, Ferd. Möhring, J. Heim, Julius Otto, Franz Abt, W. Tschirch, Fr. Kücken, P. J. v. Lindpaintner, L. Erk, J. Faißt, Fr. Lux, K. Reinthaler, A. Mühling, H. Molck, Ed. Kremser, Ed. Kretschmer, H. Mohr, Ed. Tauwitz, Fr. P. Chwatal, Karl Hirsch, G. Rauchenecker, K. Attenhofer, K. Weidt, Gottfr. Angerer, Fr. Hegar, Th. Koschat, Alfr. Dregert, K. Isenmann, A. Reiser, Jos. Reiter, Rob. Schwalm etc. Vgl. O. Elben, Der volkstümliche deutsche Männergesang, seine Geschichte etc. (2. Aufl., Tübing. 1887); Widmann, Die kunsthistorische Entwickelung des Männerchors (Leipz. 1884); Bautz, Geschichte des deutschen Männergesangs (Frankf. 1890); Schade, Der deutsche Männergesang (Kassel 1903, 2 Tle.); Friedrichs, Der deutsche Männergesang in Theorie und Praxis (Leipz. 1903); Ruthardt, Wegweiser durch die Literatur des Männergesangs (das. 1892); »Handbuch für Dirigenten und Vorstände von Männergesangvereinen« (Mainz 1896); »Challiers Großer Männergesang-Katalog« (Gießen 1900, mit Nachträgen). Über den Männergesang in Frankreich s. Orphéon.
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