Syphĭlis

[246] Syphĭlis (griech., Lustseuche, Venerie, Franzosenkrankheit, lat. Luës, vgl. Morbus und Mal), ansteckende Krankheit, die vorwiegend durch geschlechtlichen Verkehr übertragen wird und nicht allein örtliche, auf die Stelle der Ansteckung beschränkte Veränderungen herbeiführt, sondern sich auf dem Wege[246] der Lymph- und Blutbahn dem ganzen Körper mitteilt und so zu einer Konstitutionskrankheit wird. Als Erreger der S. ist 1905 durch Schaudinn ein Protozoon erkannt worden, das ein seines, korkzieherartig gewundenes, schwer auffindbares Stäbchen darstellt, die Spirochaete pallida. Dieselbe findet sich in großen Mengen in frischen Schankern und andern syphilitischen Gebilden, auch im Blute und bei tertiärer S., ebenso bei ererbter S. Ihre Sicherstellung als Ursache der S. gelang auch dadurch, daß durch Einimpfung derselben bei Affen zweifellose S. erzeugt werden konnte. (Neißer.) Die Übertragung der S. findet nur von Mensch zu Mensch statt, und zwar dadurch, daß a) etwas von der Absonderung eines syphilitischen Geschwürs (Schankers) an Haut oder Schleimhaut der Genitalien, der Lippen, eines Fingers beim Beischlaf, bei einem Kuß etc. in eine kleine Schrunde der Haut eines nicht syphilitischen Individuums übergeht, worauf sich an dieser Stelle ein primäres Schankergeschwür entwickelt; b) durch Überimpfung von Blut und Lymphe eines an konstitutioneller S. leidenden Menschen in eine Wunde eines andern; hierdurch sind namentlich Ärzte und Hebammen gefährdet; c) durch Vererbung von der Mutter oder vom Vater. Die Krankheitserscheinungen sind 1) primäre oder örtliche, an der Stelle der stattgehabten Ansteckung nach 2–3 Wochen (erstes Inkubationsstadium) sich entwickelnde Entzündungen und Geschwürsbildung; 2) sekundäre, durch Aufnahme des Giftes in den Körper bedingte Allgemeinerscheinungen; 3) tertiäre, die noch jahrelang nach der Ansteckung beobachtet werden; wenn diese späten Nachschübe, wie es häufig der Fall ist, an Leber, Nieren, Gehirn und andern innern Organen vorkommen, so hat man sie auch als Eingeweide-S. (viscerale S.) oder kurz als Spätsyphilis bezeichnet. Die primäre S. ist eine schleichend entzündliche Zellenwucherung, die, an der Impfstelle langsam wachsend, einen etwa bohnengroßen, derb anzufühlenden Knoten hervorbringt. Die Zellen dieses Knotens zerfallen, die dünne, bedeckende Hautschicht wird abgestoßen, nach 4–6 Wochen ist ein Geschwür, der harte Schanker (s. d.), entstanden, bei dem sich langsame, schmerzlose, nur sehr selten in Eiterung übergehende Schwellung der Nachbardrüsen (sogen. indolente Bubonen) einstellt, die den Übertritt des Giftes ins Blut anzeigt und nun die sekundären Erscheinungen einleitet. Nach einem zweiten Inkubationsstadium von 6–12 Wochen, in dessen Verlauf alle Lymphdrüsen des Körpers von einer geringen entzündlichen Schwellung befallen werden, häufig sich auch Milzschwellung, leichtes Fieber, Gliederschmerzen einstellen, beginnt das sekundäre Stadium, in dem der Körper mit dem Gift durchseucht ist (daher konstitutionelle S.). Es treten gewöhnlich etwa zwei Monate nach der Ansteckung Hautausschläge, kupferrote Flecke, Knötchen, Schuppenwucherung, nässende Entzündungen (Syphiliden) auf, die den Rumpf. den Hals, das Gesicht bevorzugen (auch die Haargrenze an der Stirn, »Corona Veneris«). Ähnlich sind die syphilitischen Erscheinungen auf den Schleimhäuten. Außer Rötung findet man namentlich die Schleimpapeln (Plaques muqueuses), ca. linsen- bis erbsengroße leicht erhabene scharfbegrenzte Stellen entzündlich verdickter Schleimhaut, deren oberste Epithelzellenschicht weißlich gefärbt ist und im weitern Verlauf abgestoßen wird, so daß ein flaches rotes Geschwür (Erosion) entsteht. Verdickt und verbreitert sich durch stärkere Gewebswucherung der Grund solcher Erosionen, so entsteht das breite Kondylom (Feigwarze). Solche bis talergroße Kondylome entstehen durch Wucherung und Zusammenfließen von knötchenförmigem Ausschlag namentlich in Hautfalten, z. B. in der Afterspalte, an den äußern Geschlechtsteilen, den Schenkelinnenflächen, und erzeugen gleichsam durch Abklatsch gleiche Erkrankungsherde auf der gegenüberliegenden Haut. Während die beschriebenen Erscheinungen vorwiegend im Frühstadium der S. auftreten, ist das spätere Stadium, das tertiäre, besonders durch die Entstehung von Gummiknoten (Gummigeschwulst, gumma) gekennzeichnet. Selten finden sich solche auch im sekundären Stadium neben den andern Sekundärerscheinungen. Sie stellen sich als langsam wachsende, gewöhnlich schmerzlose, ziemlich derbe runde, erbsen- bis walnußgroße Knoten dar, die, wenn sie in der Haut erscheinen, dunkelrote bis kupferbraune Farbe zeigen. Sie bestehen aus reichlich mit Rundzellen durchsetztem neugebildeten Bindegewebe. Später zerfallen die Knoten von der Mitte aus zu einer klebrigen, gummiähnlichen Masse, die aufgesogen oder an die Oberfläche des Organs entleert wird. Es hinterbleiben derbe Narben. Besonders häufig tritt die Gummigeschwulst in der Haut und einigen Eingeweiden, namentlich in der Leber, dem Darm, dem Gehirn, auf. An den Knochen verursachen sie eine Art von Knochenfraß und sind von heftigen bohrenden Schmerzen begleitet (dolores osteocopi). In der Nase führen syphilitische Vorgänge zur Bildung stinkender Borken (Ozaena syphilitica) und Einfallen der Nase durch Zerstörung des knöchernen Gerüstes derselben; im Gehirn und Rückenmark können Lähmungen aller Art durch gummöse Knoten entstehen. Die Gummigeschwülste können, wie die andern syphilitischen Prozesse, nahezu jedes Organ befallen. Häufig erscheinen sie nach jahrelangem Stillstand (Latenz) der Krankheit, z. B. 15–30 Jahre nach der Infektion. Im Gegensatz zu den sekundären Erscheinungen ist die Gummigeschwulst nicht mehr ansteckend. Personen, die an konstitutioneller S. leiden, erleben oft viele Jahre hindurch immer neue Organerkrankungen, so daß sie schließlich an Erschöpfung, nicht selten unter allgemeiner Amyloidentartung zugrunde gehen.

Bei der vererbten S. (S. hereditaria oder congenita) zeigen sich keine primären Erscheinungen, sondern sofort die Zeichen der konstitutionellen S., vor allem neben allgemeiner Schwäche die beschriebenen Hautausschläge, häufig in Gestalt eines Blasenausschlages, des syphilitischen Pemphigus, ferner Schwellung von Leber und Milz, Blutarmut, hartnäckigem Schnupfen, Hornhautentzündungen, Knochenleiden, namentlich Abtrennung der Gelenkenden (Epiphysen), der Knochen von dem Knochenschaft durch Entzündung und Erweichung der Knochenknorpelgrenze. Sehr häufig ist eine mangelhafte Zahnbildung, so daß namentlich die Schneidezähne schmal, unregelmäßig mit Schmelz überzogen und an der Bißfläche halbmondförmig ausgebuchtet sind. Die Zahnmißbildung, Hornhautentzündung und Erkrankungen des Ohrlabyrinths sind als sogen. Hutchinsonsche Trias besonders charakteristisch für vererbte S. Selten tritt die vererbte S. erst spät, etwa im 6. oder gar im 15. Lebensjahr auf, meistens wird sie, namentlich in den schwerern Fällen, in den ersten Lebenswochen oder Monaten deutlich. Häufig werden die Kinder frühzeitig, nicht selten frühzeitig totfaul geboren. Von den lebendgebornen geht ein sehr großer Teil im ersten Lebensjahr zugrunde. Die vererbte S. tritt am sichersten und schwersten ein, wenn beide[247] Eltern syphilitisch sind oder wenn die Mutter syphilitisch ist. Eine nach der Empfängnis eingetretene syphilitische Infektion der Mutter führt häufig zu S. des Kindes, um so weniger aber, je länger die Schwangerschaft schon dauert. Die Vererbungsfähigkeit des Vaters erlischt früher als die der Mutter, so daß im allgemeinen nur die Frühstadien der väterlichen S. Anlaß zu schwerer erblicher S. geben. Manchmal wird die Mutter, ohne primäre Erscheinungen aufzuweisen, von ihrem im Uterus befindlichen, vom Vater her syphilitischen Kind angesteckt, so daß dann sekundäre Krankheitssymptome auftreten. Es kann schließlich auch ein vom Vater her syphilitisches Kind geboren werden, ohne daß die Mutter an S. erkrankt, selbst wenn sie das Kind nährt, was einer fremden gefunden Amme stets passiert. In solchen Fällen scheint häufig eine Immunität der Mutter gegen S. zu entstehen (Colles-Baumèssche Regel). Auch gesunde Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft S. erworben haben, sollen häufig gegen S. immun sein (Profetasche Regel). Während der zweiten Inkubationszeit bei der erworbenen S. kann Neuinfektion mit S. zu neuen Primäraffekten führen, dagegen tritt mit den sekundären Erscheinungen (nicht ausnahmslos) eine Immunität insofern ein, als Neuinfektion keinen typischen harten Schanker zur Folge hat.

Behandlung. Über die Behandlung des primären Schankergeschwürs s. Schanker. Gegen die konstitutionelle S. ist Einverleibung von Quecksilber das sicherste, durch keine andre Behandlung zu ersetzende Heilverfahren. Frühzeitige gründliche und nach Bedarf wiederholte Quecksilberkuren unter genauer ärztlicher Aussicht führen fast immer zu sehr guten Heilerfolgen und verhindern meistens auch die oft so schweren Formen der Spätsyphilis, die bei Schwitzbade- und Diätkuren, auch dann, wenn anfänglich scheinbar gute Wirkungen eintraten, sich nach langer Zeit einstellen. Das Quecksilber wird am wirksamsten in Gestalt der grauen Salbe in die Haut eingerieben, auch kann man es in löslichen Quecksilbersalzen oder Quecksilbereiweißverbindungen unter die Haut, oder besser in unlöslichen Salzen intramuskulär (in die Gefäßmuskeln) einspritzen, so daß hier ein »Quecksilberdepot« entsteht, das vom Organismus langsam gelöst und aufgenommen wird. Da Quecksilber leicht in Dampfform durch Einatmung aufgenommen wird, hat man (für milde Kuren) auch das Tragen eines mit Quecksilber beschickten Stoffes in Schurzform (nach Welander) auf der Brust angewendet. Sehr wesentlich wird die Quecksilberwirkung, namentlich bei Spätsyphilis, durch innerlichen Gebrauch von Jodsalzen (Jodkalium) unterstützt. Zweckmäßige Lebensweise, namentlich gute Ernährung sind daneben erforderlich. Unterstützt wird die Behandlung auch durch Gebrauch von Bädern, namentlich eignen sich Schwefelbäder, wie Aachen, Neundorf u. a., zur Nachbehandlung nach Quecksilberkuren. Die angeborne S. wird durch innerliche Darreichung kleiner Gaben Calomel und mit Sublimatbädern behandelt. Die Kräfte des Kindes müssen durch zweckmäßige Ernährung, am besten an der Brust der (syphilitischen) Mutter, aufrecht erhalten werden. Dem Kind eine Amme zu geben, ist nicht erlaubt, da letztere der Gefahr der Ansteckung ausgesetzt ist.

Eine Vorbeugung gegen S. ist vom Standpunkt des Einzelnen nur durch Vermeidung der Ansteckungsgelegenheit, d. h. des infektiösen Beischlafs, möglich, andre Schutzmittel, auch der Gebrauch von desinfizierenden Mitteln, sind ganz unsicher. Über die öffentliche Prophylaxe vgl. Artikel »Geschlechtskrankheiten«, wo auch die Häufigkeit der S. besprochen ist.

Ursprung und Alter der S. ist nicht bekannt. Man will an vorgeschichtlichen Knochen Anzeichen von S. gefunden haben, doch ist diese Deutung nicht anerkannt worden. Ob die S. im Altertum vorkam, ist wohl noch nicht sicher entschieden, sie erregte zuerst am Ende des 15. Jahrh. als Franzosenkrankheit (Morbus gallicus) die Aufmerksamkeit der Ärzte und richtete bei den damaligen Sitten und der Unkenntnis über ihre zweckmäßige Behandlung furchtbares Unglück an. Der Name S. ist zuerst von dem Italiener Fracastoro (1521) gebraucht worden in einem Gedicht (»S. oder gallische Krankheit«, deutsch von Lenz, Leipz. 1881; von Oppenheimer, Berl. 1902). in dem er von einem Hirten Syphilus fabelt, über den Apollon als Strafe die Lustseuche (davon Syphilis genannt) verhängt habe. Die Ansicht, daß die S. am Ende des 15. Jahrh. durch spanische Truppen aus Amerika eingeschleppt sei, ist auch noch nicht hinreichend begründet. Durch plötzliche besonders weite und heftige Ausbreitung gewann sie damals wohl den Anschein einer völlig neuen Krankheit. Besonders schwer scheint das 1494 und 1495 von Karl VIII. von Frankreich gegen Neapel geführte Heer von der S. befallen gewesen zu sein. Bei der Ausbreitung der Krankheit erhielt sie den Namen nach der Nation, die der Einschleppung verdächtig war (morbus neapolitanus, gallicus). Vgl. Ricord, Vorlesungen über S. (übersetzt von Gerhard, Berl. 1848); v. Bärensprung, Die hereditäre S. (das. 1864); Geigel, Geschichte, Pathologie und Therapie der S. (Würzb. 1867); Lewin, Die Behandlung der S. mit subkutaner Sublimatinjektion (das. 1869); Sigmund, Vorlesungen über neuere Behandlungsweisen der S. (3. Aufl., Wien 1883); Chotzen, Atlas der S. (2. Ausg., Hamb. 1906); Neumann, Die S. (in Nothnagels »Spezieller Pathologie und Therapie«, 2. Aufl., Wien 1899); E. Fournier, Traité de la s. (Par. 1898 ff.); Finger, Die S. und die venerischen Krankheiten (5. Aufl., Wien 1900); Zeißl, Lehrbuch der venerischen Krankheiten (Stuttg. 1902); J. Müller, Die hygienisch-diätetische Behandlung der Syphiliskranken (Berl. 1907); Rosenbaum, Geschichte der Lustseuche im Altertum (6. Aufl., Halle 1893); Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten (Bonn 1895, 2 Tle.) und die Literatur über die venerischen Krankheiten (das. 1889–91, 3 Bde.; Supplementband 1900); Bloch, Der Ursprung der S. (Jena 1901); Notthafft. Die Legende von der Altertumssyphilis (Leipz. 1907); Pflug, S. oder Morbus gallicus? Eine etymologische Betrachtung (Straßb. 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 246-248.
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