Antwerpen [2]

[599] Antwerpen (franz. Anvers, span. Amberes; hierzu Stadtplan), Hauptstadt der gleichnamigen belg. Provinz (s. oben), zugleich Hauptfestung und bedeutendster Seehafen des Königreichs, liegt halbkreisförmig am rechten Ufer der bis 600 m breiten Schelde, die bis oberhalb der Stadt am Wechsel der Ebbe und Flut teilnimmt, unter 50°13´ nördl. Br. u. 4°23´45´´ östl. L.; Flächenraum 21 qkm. An der Stelle der alten Festungswälle umzieht ein einziger Wall mit breitem Wassergraben im Umfang von 18 km das fast um das Fünffache des frühern vergrößerte Weichbild der Stadt, mit beiden Enden auf die Schelde sich stützend.

Wappen von Antwerpen.
Wappen von Antwerpen.

Vor dieser Umfassungslinie sind 1859–64 zwei Gürtel von detachierten Forts angelegt worden, deren innerer 4 Forts und 2 Lünetten, der äußere 12 Forts und 1 Lünette enthält; weitere Befestigungen sind oberhalb an der Nethe und Rupel, unterhalb auf beiden Scheldeufern angelegt.

[Straßen, Gebäude.] Die Straßen der neuen Stadtteile sind breit und regelmäßig, die der innern Stadt dagegen meist eng. Die freiesten Stellen im Innern sind: der Große Markt, der Grünplatz (Gemüsemarkt, seit 1840 mit der ehernen Statue Rubens' von Geefs) und der sogen. Meir, eine breite Straße mit modernen Häusern und Palästen. Von öffentlichen Anlagen bestehen ein Park inmitten der Stadt, mit Wasserbassins, über die eine Kettenbrücke führt (darin die Denkmäler von Quinten Massys seit 1883 und des Malers Jordaens seit 1886, das Monument Loos und an der Westseite seit 1873 das Denkmal des Malers Leys), und im S. der in einen Park verwandelte Garten der ehemaligen Pépinière (Baumschule). Das ausgezeichnetste Gebäude der Stadt ist die Hauptkirche (Notre Dame), die schönste und größte gotische Kirche Belgiens, 1352–1616 errichtet. Unter den zahlreichen Kunstwerken der Malerei und Plastik, welche die Kirche schmücken, befinden sich drei Hauptgemälde von Rubens (die Kreuzabnahme, Kreuzeserhöhung und Mariä Himmelfahrt). Der zierlich durchbrochene Turm, von Jean Amel aus Boulogne 1422 entworfen, im 16. Jahrh. in einer Höhe von 123 m abgeschlossen, steigt als schlanke Pyramide empor. Unter den übrigen Kirchen zeichnen sich besonders aus: die Kirche St. Jakob im spätgotischen Stil (1491–1656 erbaut, mit prachtvollen Skulpturen, Marmorzieraten, Gemälden von Rubens, van Dyck etc. und der Grabkapelle der Familie Rubens); die Dominikanerkirche (St. Paul), ebenfalls im spätgotischen Stil (1533–71 erbaut, mit Gemälden von Jordaens, van Dyck u.a.); die Andreaskirche (1514–23 erbaut) und die neue romanische St. Josephskirche. Vor dem im Renaissancestil von Cornelius de Vriendt (1561–65) erbauten Stadthaus erhebt sich seit 1887 ein Springbrunnen von Lambeaux, mit einem Standbilde des Salvius Brabo. Die Börse, die an Stelle der 1858 niedergebrannten alten Börse 1869–72 nach Plänen von J. Schadde im Stil des alten Gebäudes ausgeführt wurde (s. Tafel »Börsengebäude III«, Fig. 3 u. 5), ferner das flämische Schauspielhaus (im Renaissancestil 1869–72 erbaul), die Nationalbank (im flämischen Renaissancestil 1875–80 erbaut) und das malerische Gildehaus der Schützen (von 1515) sind gleichfalls ansehnliche Gebäude. Merkwürdig sind ferner: das Museum (Palais des beaux-arts), 1879–90 erbaut; das Museum Plantin-Moretus mit zahlreichen Kunstschätzen (s. Plantin); die mit vier Türmchen (im Stile des 14. Jahrh.) gezierte Getreideniederlage; der königliche Palast am Meir (1745 im Rokokostil erbaut); das Haus von Rubens' Eltern (1864 restauriert); der Steen, ein Teil der alten Burg, ehemals Sitz der Inquisition, jetzt Altertumsmuseum, 1889 einheitlich umgebaut; endlich die berühmten Hafenbassins am Nordende der Stadt (s. unten).

[Bevölkerung, Erwerbszweige.] Die Bevölkerung Antwerpens belief sich Ende 1900 auf 272,831 Seelen. Die obern Klassen sprechen überwiegend französisch, die untern meist flämisch. Die Industrie Antwerpens ist von nicht geringer Bedeutung. Es bestehen große Diamantschleifereien, bedeutende Branntweinbrennereien und Brauereien, Seifen- und Zigarrenfabriken, Reismühlen und Zuckerraffinerien. Außerdem gibt es Fabriken für Baumwollenstoffe, Spitzen, Zwirn (berühmt ist die schwarze Nähseide), Tapeten, Gold- und Silbertressen, Hüte etc.

Als der wichtigste Seehafen Belgiens bildet A. zugleich einen der ersten Handelsplätze Europas, der aber die meisten seiner ausgeführten Waren in reinem Transit empfängt. Von den großartigen Docks wurden die beiden ältern: Grand und Petit Bassin, von Napoleon I. 1807–12 erbaut. Nördlich von ersterm liegt das mit der Schelde durch eine Schleuse verbundene Bassin du Kattendyk, 1853–60 angelegt (500 m lang und 140 m breit); östlich von diesem dehnen sich die Bassins Mexiko, Campine und Asia, nordwestlich Afrika und Amerika aus (in der Nähe die großen Petroleumbehälter auf dem Terrain der ehemaligen Nordzitadelle). Die Bassins sind von umfangreichen Lagerhäusern umgeben. Zwischen dem Bassin du Kattendyk und der Schelde liegen die Trockendocks. Der Verkehr wird wesentlich durch die 1877–1901 in einer Länge von 5300 m angelegten Kais erleichtert. Die Schifffahrtsbewegung in A. war 1899 folgende: es liefen ein 5420 Seeschiffe (darunter 4937 Dampfer) von 6,842,163 Ton., davon 3,682,243 T. britisch und 1,447,318 deutsch. An Binnenschiffen kamen an 33,134 Fahrzeuge von 4,887,599 T. Die Reederei ist nicht erheblich. A. besaß Ende 1899 nur 72 eigne Schiffe von 133,356 T. Der Ausfuhrhandel hat größtenteils Erzeugnisse des einheimischen Gewerbfleißes zum Gegenstand. Es wurden 1899 namentlich eingeführt: Bauholz (494,317 cbm), Baumwolle (55,719 Ztr.), Kakao (2643), Eisenerz (467,119), Fette (28,283), Getreide (2,200,296), Häute (35,746), Kaffee (41,558), Kautschuk (4476), Kohlen (924,314), Öle (8827), Reis (69,908), Tabak (12,673), Zucker (15,556 Ztr.) etc. Der Transithandel umfaßte namentlich Eisen, Kohlen, Hafer, Mehl, Werkzeuge, Kalk, Zement etc.[599]

Tabelle

A. ist durch einen Kanal mit der Maas (mit mehreren Seitenkanälen) verbunden. Hier münden die Eisenbahnen von Gent, Boom, Mecheln (Brüssel), Lierre (Aachen) und Rozendaal (Niederlande). Regelmäßige Dampferkurse verbinden A. mit einer großen Anzahl fremder Häfen. A. ist Sitz bedeutender Versicherungs- und Handelsinstitute, auch eines deutschen Generalkonsuls und zugleich einer der wichtigsten Punkte für Auswanderung; die Zahl der Auswanderer über A., die 1897 bis auf 15,793 gesunken war, erreichte 1900 wieder 40,763.

[Öffentliche Anstalten etc.] An Wohltätigkeitsanstalten bestehen 3 Krankenhäuser, 2 Waisenhäuser, ein Seemannshaus u.a. An Anstalten für Wissenschaften und Kunst besitzt A. ein königliches Athenäum, Staats-Knabenmittelschule, ein höheres Handelsinstitut, Industrieschule, Gewerbeschule für Mädchen, ein kommunales Lehrerseminar, eine königlich flämische Musikschule (Conservatoire), Institut für Taubstumme und Blinde, einen Unterstützungsverein für Deutsche, zahlreiche wissenschaftliche Gesellschaften, einen botanischen Garten (mit hübschem Palmenhaus und dem Standbilde des Botanikers Coudenberg), einen großartigen zoologischen Garten (seit 1843), eine öffentliche Bibliothek und eine berühmte Akademie der bildenden Künste (im ehemaligen Franziskanerkloster), die im 14. Jahrh. als Brüderschaft von St. Lukas entstand und in der Geschichte der niederländischen Kunst eine hochwichtige Stelle einnimmt (vgl. Rooses, Geschichte der Malerschule Antwerpens, deutsch, Münch. 1880). Die Gemäldesammlung umfaßt ca. 1400 Nummern, darunter Meisterwerke von Rubens, Quinten Massys, van Dyck, Jordaens, Rembrandt, van de Velde, Teniers, Ruisdael, van Eyck und andern Meistern der flandrischen Schule. Von öffentlichen Denkmälern sind außer den genannten noch anzuführen: die Kolossalstatue des Boduognatus, des Häuptlings der Belgier in dem Kämpfen gegen Cäsar (1861 errichtet); die Statue van Schoonbekes, eines hervorragenden Wasserbaukünstlers aus dem 16. Jahrh., in der Vorstadt Berchem; das Standbild Lazare Carnots, in der Vorstadt Borgerhout; das Reiterstandbild Leopolds I. (von J. Geefs, 1868 errichtet); das Denkmal des Dichters Th. van Ryswyck (1864 errichtet); die Bronzestatue von D. Teniers (seit 1867); das Denkmal des flämischen Dichters Conscience (vor der Stadtbibliothek) und weiter nördlich van Dycks Standbild (von L. de Cuyper, seit 1856). Auch der sogen. Quinten Massys-Brunnen mit einem Dach von geschmiedetem Eisen (s. Tafel »Brunnen«, Fig. 4) verdient Erwähnung. – Finanzen 1898: die Einnahme betrug 29,287,281 Frank (darunter 15,480,117 Fr. ordentliche), die Ausgabe 19,792,580 Fr. (darunter 13,829,267 Fr. ordentliche). Gegenüber A., am linken Scheldeufer, liegt der Vlaamsche Hoofd (Tête de Flandre), von wo man einen schönen Überblick über die im Halbkreis lang sich hinstreckende Stadt genießt.

[Geschichte.] A. (mit zweifelhafter Etymologie), im 7. Jahrh. zuerst erwähnt, im 9. Jahrh. von den Normannen zerstört, spielte bis zum Aufschwung Brabants nach dem Siege bei Worringen (1288) im niederländischen Wirtschaftsleben eine ziemlich unbedeutende Nolle. Seit Anfang des 14. Jahrh. Mittelpunkt für den größten Teil des Zwischenhandels mit Deutschland, lenkte die durch ihre Lage ungemein begünstigte Hafenstadt die Aufmerksamkeit des Auslandes bald immer mehr auf sich. Im 15. Jahrh. begann ihre Glanz zeit. Mit Unterstützung der burgundischen Herzöge wußte sie durch eine weise Handelspolitik ihre Nebenbuhlerinnen Mecheln (s. d.) sowie namentlich Brügge (s. d.) völlig in den Hintergrund zu drängen. Ihre schon im 14. Jahrh. stattliche Fremdenkolonie wuchs von Tag zu Tag. Auf ihren beiden Messen gaben sich die Kaufleute aller Nationen ein Stelldichein, und ihre 1460 gegründete Handelsbörse war die erste in Europa. Mitte des 16. Jahrh. erreichte A. den Höhepunkt seiner Blüte. Mehr als 1000 ausländische Handelshäuser, darunter die Fugger (s. d.) und die Welser (s. d.), hatten hier ihre Zweiggeschäfte, schlossen Anleihen mit den Fürsten Europas ab und machten A. zur reichsten Handels-, bez. Industriestadt der christlichen Welt. In der Schelde lagen Schiffe aus allen Weltteilen, so daß sich der Wert der Ein- und Aus fuhr auf ungeheure Summen belief. Unter Philipp II. (s. d.) begann der Verfall. Die religiösen Wirren und die Ketzergerichte veranlaßten die fremden Kaufleute sowie Tausende von Bürgern zur Flucht. Bei der Plünderung von A. durch spanische Söldner (1576) fanden ca. 10,000 Einw. den Tod, während ein großer Teil der Häuser in Flammen ausging. Hierzu kam (1585) die Eroberung der Stadt durch Herzog Alexander Farnese von Parma nach 13monatiger standhafter Gegenwehr. Die Erschwerung der Scheldeschiffahrt infolge des Waffenstillstandes von A. (1609), in dem Spanien die Unabhängigkeit der nördlichen Provinzen anerkannte, sowie die gänzliche Sperrung der Scheldemündungen durch die Holländer seit dem Westfälischen Frieden (1648) richteten dann den Handel der Stadt vollends zu Grunde. Seit 1714 im Besitz Österreichs, geriet sie 1746 während des Erbfolgekrieges vorübergehend in die Hände der Franzosen. Erst mit dem Zusammenbruch der österreichischen Herrschaft in Belgien (s. d.) begann für A. von neuem eine bessere Zeit. Die französische Republik, zu der A. seit Ende 1792 gehörte, erzwang schon 1795 von Holland die Freigabe der Scheldemündungen, so daß in der jungen französischen Departementshauptstadt (seit 1794) sich bald wieder ein reges Handelsleben bemerkbar machte. Unter Napoleon I., der den Hafen bedeutend erweiterte und A. zum ersten Waffenplatz seines Reiches machen wollte, wurde die Stadt 1809 und 1814 (s. Carnot 1) von den Engländern vergebens belagert. Durch die Wiener Schlußakte (1815) ward sie dem neugeschaffenen Königreich der Niederlande einverleibt, was zu einem weitern Aufschwung ihres Handelsverkehrs beitrug. An der Revolution von 1830 beteiligte sich denn auch nur ein Teil ihrer Bewohner. Die Beschießung von A. durch den holländischen General Chassé (27. Okt.) sowie die spätere Belagerung durch die Franzosen unter Marschall Gérard (Ende 1832) richteten großen Schaden an. Vor allem aber erlitt sein Handelsverkehr infolge der Vereinigung mit Belgien (s. d.) zunächst einen empfindlichen Rückgang. Erst seit Ablösung des 1839 den Holländern zugestandenen Scheldezolles (1863) begann für A. ein neues Zeitalter, wo es eine unerhörte Blüte erreichen sollte. Gegenwärtig ist A. der zweit-. größte Seehafen des Kontinents und eine der stärksten Festungen Europas (s. Brialmont). Vgl. Mertens und Torfs, Geschiedenis van A. (Antw. 1845–53, 8 Bde.); Génard, Anvers à travers les âges (Brüss. 1886–92, 2 Bde.); Thijs, Historiek der straten [600] en plaatsen van A. (Antw. 1893); Poffé, A. in de 18° eeuw voor den inval der Franschen (Gent 1895); Deiß, Anvers et la Belgique maritime (Par. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 599-601.
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