Jugendschriften

[354] Jugendschriften, Schriften, die bestimmt sind, der Jugend zur anregenden Unterhaltung außerhalb des eigentlichen Unterrichts zu dienen. Da selbstverständlich auch die freie Lektüre der Jugend dem allgemeinen Gesichtspunkte der Erziehung untergeordnet sein muß, berührt sich die Jugendliteratur nach der einen Seite hin mit derjenigen der Schul- und Lehrbücher. Das unterscheidende Merkmal liegt in der Bestimmung der J. für die Unterhaltung der Jugend in ihren Freistunden. Den Übergang zwischen beiden Arten bildet das zunächst Schulzwecken dienende Lesebuch (s. d.). Mit der allgemeinen Nationalliteratur berührt sich anderseits diejenige der J. in dem Kreise der volkstümlichen Literatur und namentlich der volkstümlichen Dichtung. Eine besondere Jugendliteratur ist nur so weit berechtigt, wie die volkstümliche Nationalliteratur über den Gesichtskreis der Jugend hinausreicht. Dies ist aber der Fall; denn dieser seit Herder in seinem hohen Wert erkannte Teil des Schrifttums behandelt vielfach Lebensverhältnisse und Lebensfragen, die dem Verständnis des unmündigen Alters fern liegen oder doch ihm ohne sittliche Gefahr noch nicht vorgeführt werden können. Hieraus geht hervor, daß J. für die »reifere Jugend«,[354] das Jünglings- und Jungfrauenalter, im allgemeinen keine Berechtigung mehr haben. Wohl aber ist innerhalb der Jugendliteratur eine gewisse Abstufung nach dem Alter und namentlich der Unterschied zwischen eigentlichen Kinderschriften (etwa bis zum 10. oder 11. Lebensjahr) und Schriften für die bereits selbständigere und meist lesegierige, sogen. reifere Jugend der spätern Schuljahre berechtigt, weil durch die natürliche Stufenfolge der kindlichen Entwickelung bedingt, wenn auch dieser Unterschied stets ein fließender bleiben wird. In der folgenden gedrängten Übersicht der Geschichte und des gegenwärtigen Zustandes der Jugendliteratur in Deutschland ist besonders die letztere Art berücksichtigt (vgl. Kinderlieder und Kinderschriften).

Wenn auch der Begriff eines besondern Schrifttums für die Jugend vor Erfindung des Buchdrucks nicht wohl aufkommen konnte, so ist doch schon dem Altertum der Gedanke einer Aussonderung des für die Knabenjahre Geeigneten aus Dichtung und Göttersage nicht fremd gewesen. In ziemlich entfernter Analogie zur modernen Jugendliteratur stehen die unterhaltend belehrenden chinesischen Bücher »Schiking« und »Schuking« des Konfuzius und das indische Fabelbuch »Hitopadesa«. Näher dem heutigen Verständnis liegt die Erörterung über die Jugendlektüre in Platons »Staat« (II, 17), wo von der richtigen Auswahl und Gestaltung des Unterhaltungsstoffes erwartet wird, daß die Kinder spielend das für sie Nötige lernen. Daß gewisse Zweige der Dichtung, wie z. B. die Äsopischen Fabeln, als vorzugsweises Eigentum der Jugend angesehen wurden, bezeugen vielfache Andeutungen alter Schriftsteller. Auch im Mittelalter gab es neben rein religiösen Katechismen Beispielsammlungen für die Jugend, die doch aber mehr als Vorrat und Fundgrube zum Gebrauch der Eltern, Lehrer und Paten als zur eignen Lektüre der Kinder berechnet waren. Diesen Standpunkt nimmt unter andern noch Luther ein, der sich der wundersamen Historien und Märchen seiner Kinderjahre um kein Gold entschlagen wollte und für Fabel und Weltgeschichte im Interesse der Jugend tätigen Eifer bewies, auch selbst den rechten Ton für die Kinderwelt, wo es ihm darauf ankam, meisterhaft traf. Gegen Ende des Reformationsjahrhunderts ist der »Froschmeuseler« des Magdeburger Schulrektors G. Rollenhagen (1595) ausdrücklich der zu Weisheit und Regimenten (Staatsämtern) erzogenen (doch wohl reifern) Jugend zur anmutigen, aber sehr nützlichen Lehre gewidmet. Die Humanisten des 16. Jahrh. und die Jesuiten mit den Schulkomödien u. a. sowie die pädagogischen Realisten des 17. Jahrh. streifen den Begriff der J. öfters, besonders Comenius mit seinem berühmten »Orbis pictus« (1657), seinem »Schola ludus etc.«, seinen Schuldramen; aber bei ihnen hat sich die Scheidung der J. von den Schulbüchern noch nicht scharf vollzogen. Aus dem Ende des Jahrhunderts ist der Zittauer Rektor Chr. Weise (1642–1708) wegen seiner Schulkomödien wie wegen seiner »Überflüssigen, reisen und notwendigen Gedanken der grünenden Jugend« zu nennen. Den eigentlichen Anfang der modernen Jugendliteratur bezeichnen aber zwei ausländische Werke: Fénelons »Télémaque« (1690, erschien 1717) und Daniel Defoes »Robinson Crusoe« (1719), die in ihrer Heimat überaus anregend wirkten und bald über die ganze gebildete Welt sich verbreiteten. Anerkanntes Vorbild für J. wurde Defoes »Robinson« namentlich durch Rousseaus Empfehlung (im »Émile«, 3. Buch). Aus diesen Anfängen entwickelte, wie in England und Frankreich, so auch in Deutschland, das »pädagogische Jahrhundert« eine reiche Literatur für die Jugend. 1761 begründete Adelung in Leipzig ein Wochenblatt für Kinder. 1765 begann Ch. F. Weiße (1726 bis 1804) seine fleißige Schriftstellerei für Kinder (besonders verbreitet waren das Wochenblatt »Kinderfreund«, Leipz. 1775–84, und »Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes«, das. 1784–92). Aber in Fluß kam die Bewegung erst in dem um Basedow sich sammelnden Kreis der Philanthropen. Von Basedows Mitarbeitern widmeten sich vorzugsweise J. H. Campe (1746–1818) und Ch. G. Salzmann (1744–1811) der Jugendschriftstellerei. Des ersten J. füllen eine Sammlung von 37 Bänden, die vom 17. Band an Reisebeschreibungen, in Band 36 und 37 die Lehrschriften: »Väterlicher Rat für meine Tochter« und »Theophron, der erfahrene Ratgeber der Jugend«, enthalten. Unter allen Campeschen J. haben sich wohl nur »Robinson der Jüngere« (115. Aufl., Braunschw. 1890) und »Geschichte der Entdeckung Amerikas« (26. Aufl. 1881) bis heute in den Händen der Jugend erhalten. Auch Salzmanns »Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde« (Leipz. 1811, 4 Bde.) haben ihre Zeit längst gehabt. Vor 100 Jahren galten sie jedoch als bedeutende Erscheinungen und riefen eine Hochflut von mehr oder minder gelungenen Nachahmungen hervor. Während der Grundton dieser Schriften der sittlich ehrenwerte, aber nüchterne und oft kleinlich lehrhafte des damaligen Rationalismus ist, versuchte Herder (1744–1803) in seinen »Palmblättern« (mit Liebeskind, 1787–1800) der Jugendliteratur ein edleres, mehr auf Phantasie und Gemüt wirkendes Gepräge zu geben. Noch stärker betonte die christliche Grundansicht in seinen J. der Erfurter Geistliche K. Fr. Lossius (1735–1817), dessen »Gumal und Lina«, die Geschichte einer Art Missionsstation unter den Heiden enthaltend, sich noch bis heute hier und da behauptet hat. Aus der folgenden Generation sind der protestantische Österreicher J. Glatz (1767–1831), die Preußen J. A. Ch. Löhr (1764–1823), F. Ph. Wilmsen (1770–1821) und der berühmte Gothaer Philolog Fr. Jacobs (1764–1847) hervorzuheben.

In eine neue, vorwiegend auf das religiöse Leben gerichtete Bahn lenkte die Jugendschriftstellerei Christoph v. Schmid (1768–1854), zuletzt Domherr in Augsburg, der liebens- und ehrwürdige »Verfasser der;Ostereier'« und noch etwa 60 andrer Erzählungen, dem auf protestantischer Seite die Theologen F. A. Krummacher (1768–1845), K. Stöber (gest. 1865), Chr. G. Barth (1799–1862) und G. H. v. Schubert (1780–1860) folgten. Bis an die Gegenwart und teilweise in diese reichen deren Epigonen G. Nieritz (1795–1876), Franz Hoffmann (1814–82), beide mehr durch Fruchtbarkeit und liebenswürdige Breite als durch Kraft und Frische ausgezeichnet, Fr. Wiedemann (1821–82), R. Baron (1809–90), Ottilie Wildermuth (1817–77), Thekla v. Gumpert (Frau v. Schober, 1810–97), die Herausgeberin des »Töchteralbums« (seit 1855). Auch kann manches aus der volkstümlichen Erzählungsliteratur hierher gerechnet werden, wie einzelne Schriften von W. O. v. Horn (Ortel, 1798–1865), O. Glaubrecht (Oser, 1807–1859) u. a. - Eine andre Gruppe von Jugendschriftstellern setzte der jungen Welt statt eigner Dichtungen lieber altbewährte Stoffe aus Sage und Geschichte vor; so K. F. Becker (1777–1806) in den noch heute verbreiteten »Erzählungen aus der Alten Welt«; [355] Gustav Schwab (1792–1850) in den »Schönsten Sagen des klassischen Altertums«. Durch die Brüder Grimm, deren eigne berühmte Märchensammlung mehr für Mütter als für Kinder bestimmt ist, wurde die Aufmerksamkeit auch auf den deutschen Märchen- und Sagenschatz gelenkt und dieser durch Bechstein (1801–60), Simrock (1802–76), Osterwald (1820 bis 1887) u. a. für die deutsche Jugend flüssig gemacht. Andre wieder bearbeiteten die vaterländische Geschichte und schilderten den jungen Lesern besonders die Heldengestalten des deutschen Volkes. Gerade dieses Schrifttum der patriotischen J. ist seit 1870 sehr ins Kraut geschossen und hat neben vielem Trefflichen auch gar manches Überspannte und Einseitige hervorgebracht. Nicht unbedenklich ist es auch, wenn der Jugend das Geschichtliche in romanhafter Form dargebracht wird, und besonders, wenn berühmte historische Romane »in usum Delphini« zugestutzt werden, obgleich unleugbar auf diese Weise auch manches treffliche Buch für jugendliche Leser entstanden ist. Neben der historischen hat sich endlich auch eine ganze Literatur belehrender J. naturwissenschaftlicher und technischer Richtung herausgebildet, die ihre jungen Leser mit offenen Augen und empfänglichem Sinne beobachten lehren und sie zu tätigem Sammeln und sinnigem, eigenem Arbeiten anleiten will. Große Fortschritte sind endlich in der äußern Ausstattung der J. wie in der Buchkunst überhaupt gemacht worden.

So fehlt es der deutschen Jugendliteratur nicht an Reichtum und Mannigfaltigkeit. Vielmehr ist sie fast unnatürlich angeschwollen, und die Überfülle macht es Eltern und Erziehern immer schwerer, das Gediegene aus der Masse des Minderwertigen und Einseitigen herauszufinden. Um darin zu Hilfe zu kommen, haben seit einem Menschenalter in steigendem Maße einzelne Schriftsteller, gemeinnützige Gesellschaften, pädagogische Zeitschriften, Lehrervereine sich der Kritik der J. angenommen, Musterkataloge empfehlenswerter Bücher aufgestellt etc. Auch diese kritische Literatur über die J. nimmt bereits unabsehbare Fülle an. – Schärfere Tonart ist in diese Kritik gekommen besonders durch H. Wolgast-Hamburg, der in seiner Schrift »Das Elend unserer Jugendliteratur« (1896) der »spezifischen Jugendschrift« überhaupt das Existenzrecht absprach und verlangte, daß der Jugend im wesentlichen nur das für sie Geeignete aus der klassischen Nationalliteratur dargeboten werden soll. In diesem Sinne leitet er seither das Organ der vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse für J., die »Jugendschriftenwarte«, und arbeiten diese Ausschüsse selbst. Gewiß ist durch ihre Arbeit viel Gutes geleistet und durch die Diskussion die kritische Aufmerksamkeit geweckt worden. Indes hat das Vorgehen der vereinigten Ausschüsse auch viel Widerspruch gefunden, der sich gegen einzelne unleugbare Mißgriffe und besonders gegen die Ablehnung jeder sogen. Tendenz (religiöser, ethischer, patriotischer, überhaupt belehrender) und einseitige Betonung des ästhetischen Gesichtspunktes richtet. Der Gegensatz trat besonders scharf auf dem zweiten Kunsterziehungstag in Weimar, im Oktober 1903, hervor, wo Wolgast seine Sache persönlich vertrat.

Vgl. Merget, Geschichte der deutschen Jugendliteratur (3. Aufl. von Berthold, Berl. 1882); Theden, Die deutsche Jugendliteratur, kritisch und systematisch dargestellt (2. Aufl., Hamb. 1893); Fricke, Grundriß der Geschichte deutscher Jugendliteratur (Mind. 1886); Göhring, Die Anfänge der deutschen Jugendliteratur im 18. Jahrhundert (Nürnb. 1904); Dreyer, Die Jugendliteratur (Gotha 1888); Mitscher und Röstell, Die evangelische Volks- und Schülerbibliothek (Berl. 1892); Kühner, Jugendschriften (in Schmid-Schraders »Enzyklopädie des gesamten Erziehungswesens«, 2. Aufl., Bd. 3, Leipz. 1880); Hel. Höhnck, Jugendliteratur (in Reins »Enzyklopädischem Handbuch der Pädagogik«, Bd. 3, Langens. 1897); Moißl und Krautstengl, Die deutsch-österreichische Jugendliteratur (Aussig 1900); Wolgast, Das Elend unsrer Jugendliteratur (Hamb. 1896); »Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des 2. Kunsterziehungstages« (Leipz. 1904). Zeitschriften: »Jugendschriftenwarte« (1893 ff., seit 1897 hrsg. von Wolgast-Hamburg) und »Volks- und Jugendschriftenrundschau« (Hamb., hrsg. von Sydow). Hierher gehört auch das jährlich neu bearbeitete Verzeichnis der Vereinigten Ausschüsse: »Empfehlenswerte J.« (Leipzig) sowie die Übersicht über neue J. im »Pädagogischen Jahresbericht«. Vom katholischen Gesichtspunkt aufgefaßt sind: E. Fischer, Die Großmacht der Jugend- und Volksliteratur (Wien 1877, 4 Bde.); Rolfus, Verzeichnis ausgewählter Jugend- und Volksschriften (Freiburg 1892); Herold, Jugendlektüre und Schülerbibliotheken (2. Aufl., Münster 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 354-356.
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