Entbindung

[771] Entbindung, 1) das Lösen von etwas Gebundenem; 2) (Mor.), Befreiung von einer Verbindlichkeit od. Pflicht; 3) gänzliche od. einstweilige Lossprechung von einer gerichtlichen Untersuchung, dies heißt E. von der Instanz (Absolutio ab instantia), jenes E. von der Sache, u. geschieht durch ein Entbindungsurtheil (Sententia absolutoria); 4) E. von Gasen, Trennung derselben aus Körpern durch Wärme od. stärkere chemische Verwandtschaft; 5) (Geburtshülfe) der den Gebärenden geleistete Beistand, insofern er zur Erleichterung einer natürlichen Geburt dient, od. bei Hindernissen u. widernatürlichen Geburtsfällen die Geburt selbst bewirkt. Bei völlig naturgemäßer Geburt ist die E. meist Weibern, Hebammen, überlassen. Nur in selteneren Fällen, wo Handleistungen od. eine operative Hülfe erforderlich ist, welche mehrere Vorkenntnisse u. Körperkraft voraussetzen, auch männlichen Muth u. Entschlossenheit fordern, wird in neuerer Zeit die E. von Geburtshelfern (Accoucheurs) bewirkt, hier wird das Geschäft der E. dann zur Entbindungskunst (Mäeutik), als Inbegriff alles dessen, was sowohl bei natürlichen Geburten, als auch in widernatürlichen Geburtsfällen,[771] zum Wohl für Mutter u. Kind zu bewirken u. zu berücksichtigen ist. Sie ist ein Theil der Arzneikunde, die als Entbindungswissenschaft ihren theoretischen u. als eigentliche Entbindungskunst (Vertrautheit mit dem, was in schwierigen Geburtsfällen zu bewirken, u. Fertigkeit, dasselbe zu verrichten) ihren praktischen Theil hat. Zu jenen Kenntnissen gehören: genaue Bekanntschaft mit den an der Geburt zunächst Theil nehmenden Körpertheilen u. deren Abnormitäten, bes. dem Becken u. seinen Mißgestaltungen; dann die Vorgänge bei der Schwangerschaft, während ihrer ganzen Dauer, die Zeichen u. Andeutungen einer natürlichen Geburt, aber auch der dabei eintretenden Gefahren; ferner der Inbegriff alles dessen, was bei eintretender Geburt u. in ihren verschiedenen Perioden, nach vorkommenden Umständen, zu thun u. zu unterlassen ist; auch die Fürsorge, deren das geborene Kind sogleich nach der Geburt u. in den ersten Tagen nach derselben bedarf; endlich die angemessene Behandlung der Entbundenen als Wöchnerin. Geburtshülfliche Operationen sind durch die bloße Hand od. Instrumente ausgeführte Kunstacte zur Beförderung od. Vollendung widernatürlicher Geburten, z.B. das Wassersprengen, die künstliche Frühgeburt, die Wendung, die künstlichen Steiß-, Fuß- u. Kniegeburten, die Anwendung der Geburtszange, des Hebels, des Accouchement forcé, der Kaiserschnitt, der Bauchschnitt, der Schamfugenschnitt, die Perforation, Zerstückelung des Kindes, die Nachgeburtsoperationen (s.d.a.). Zur erforderlichen Ausübung der Entbindungskunst gehört eine in Entbindungsanstalten u. in Assistenz bei schwierigen Geburtsfällen erlangte Übung in dem, was in eintretenden Fällen technisch zu verrichten ist; außerdem sind gute Gesundheit, Entschlossenheit, Geduld, wohlwollende Denkungsart u. moralischer Sinn vorzugsweise Eigenschaften eines Geburtshelfers. Für verlassene Schwangere während der letzten Zeit der Schwangerschaft, zur E. u. zur Abwartung des Wochenbetts, sind in den meisten Staaten, in größeren u. Universitätsstädten, sowie an Orten, wo die Landhebammen Unterricht erhalten, eigene Entbindungsanstalten in bes. dazu eingerichteten Entbindungshäusern, die zugleich auch als Entbindungsschulen zur Bildung von Geburtshelfern u. Hebammen benutzt werden. Zu den Vorkehrungen zu einer E. gehört zunächst ein Entbindungslager, auf welchem die Kreisende entbunden wird; dazu kann jedes Bett od. Sopha eingerichtet werden, wenn nur die Gebärende mit dem Kopfe höher als mit dem Kreuze liegend, durch Fassen von Gurten u. Einstemmen der Füße die Wehen gehörig verarbeiten kann. Sonst hatte man auch oft Entbindungsstühle, Lehnstühle, worauf Gebärende sitzend entbunden wurden; sie hatten einen gehörigen Ausschnitt, um dem Austritt des Kindes bei der Geburt nicht hinderlich zu sein, u. eine bewegliche Rücklehne, mit Handgriffen am Stuhlarme zum Anfassen für die Gebärende während der Verarbeitung der Wehen u. ebenso mit Fußstemmen für dieselbe. Ebenso die Bettstühle od. Geburtsstuhlbetten (Entbindungstische). Als Entbindungswerkzeuge sind erforderlich eine Geburtszange, Nachgeburtszange, ein Hebel, Wassersprenger, stumpfer u. scharfer Haken, Schlingen zur Wendung, ein Perforatorium, eine Knochenzange, Instrumente zum Kaiserschnitt. Außerdem sind das Beckenmesser, eine Nabelschnurscheere, Katheter, die Mutterspritze, Binden mehrerer Art, schmale Bändchen, Charpie, Schwämme etc. Erfordernisse für Geburtshelfer u. Hebammen zum augenblicklichen Bedarf. Bei natürlichen Geburten ist in den meisten Fällen die Natur u. die Krejsende in ihren Bestrebungen zu leiten u. von der Mutter natürliche od. gefährliche Ereignisse abzuwenden. Bes. hat die Hebamme unnöthiger Handgriffe sich zu enthalten, die Kreisende muß nur von allen beengenden Kleidungsstücken befreit u. ein passendes Entbindungslager (s. oben) bereitet werden, worauf sich die Kreisende begibt, sobald die Blase sprungfertig ist. – Schon im Alterthum u. bei allen Völkern wurde den Kreisenden Hülfe geleistet, u. zwar von anderen Weibern, so bei den Hebräern, wo die Hebamme Mejelledeth hieß. In Griechenland geschah es namentlich durch ältere Weiber, welche zu dem Hause gehörten u. Kinder pflegten; daher der eigentlich griechische Name Mäa (Mütterchen, Großmutter, Amme, Hebamme), u. später hießen solche Weiber, welche eine Profession von dieser Hülfleistung machten, Mäeutriä. Diese Kunst hatte auch eine besondere Göttin zur Lehrerin u. Schützerin, Eileithyia (s.d.), aber auch Artemis (s.d.). Schon zu Hippokrates Zeiten leisteten in schwierigen Fällen auch Männer (Maieutai, Maieuteres) bei Geburten Beistand, u. etwas später wird Herophilos als Lehrer der Geburtshülfe zu Athen genannt. Auch bei den Römern standen Weiber (Obstetices), den Gebärenden bei; doch ließ u.a. Kaiser August bei einer schweren Geburt seiner Gemahlin Livia den Arzt Antonius Musa zu Hülfe rufen Celsus gedenkt mehrerer geburtshülflicher Operationen, des Wendens auf den Kopf u. die Füße, des Zerstückelns todter Kinder. Der Kaiserschnitt sollte schon nach der Lex regia bei verstorbenen Schwangern u. Gebärenden zur Rettung der Frucht gemacht werden; Plinius gedenkt dessen zuerst mit Bestimmtheit. Zu Anfang des 2. Jahrh. schrieb Moschion das erste Hebammenbuch (Gynaecia). In den Schriften des Galen, Aëtius, Paulus Agineta findet sich Vieles für Geburtshülfe. Letzterer (um die Mitte des 7. Jahrh.) beschäftigte sich vorzugsweise damit. Bei den Arabern wurde die Geburtshülfe blos von Weibern geleistet, Arzte wurden nur als Rathgeber bei Geburten zugezogen. Abulkasem (im 12. Jahrh.) beschreibt die damals gebräuchlichen Instrumente. In neuerer Zeit führte bes. die Ausbildung der Anatomie zu einer wissenschaftlichen Behandlung der E. Der erste Kaiserschnitt an einer Lebenden wurde von einem Schweineschneider, Nusser, 1500, an seiner Frau glücklich verrichtet; das erste wissenschaftliche Hebammenbuch verfaßte 1513 Euch. Röslin, In Deutschland machte bes. Justine Siegismundin, kurfürstlich brandenburgische Hofwehmutter, durch das von ihr selbst verfaßte Hebammenbuch (Berl. 1690, neueste Aufl. Berl. 1769) Aufsehen. Die erste Entbindungsanstalt von größerem Umfange u. zugleich Entbindungsschule wurde zu Strasburg 1728 errichtet; unter die vorzüglichsten gehört das Hospice des accouchemens zu Paris; in Deutschland war die zu Wien 1748 eingerichtete die erste. Von Geburtshelfern der neueren Zeit zeichneten sich, theils durch eigene Erfindung, theils durch thätige Förderung der E. durch Lehre u. Übung aus: in Holland: E. van Deventer (der zuerst mathematische Bestimmungen auf die E. anwandte) u. F. Palfyn (Erfinder der Geburtszange,[772] 1723); in Frankreich Mauriceau, M. de la Motte, Levret, Baudelocque; in England H. Chamberlayne, Smellie, Burns; in Rußland J. v. Mohrenheim; in Deutschland Röderer, Stein, Boer, Wigand, Osiander, El. v. Siebold, das Fräulein v. Siebold, Jörg, Nägele u. A. Vgl. A. E. v. Siebold, Lehrbuch der Entbindungskunde, 1. Theil, 4. Aufl. Nürnb. 1824; 2. Theil, 3. Aufl., ebd. 1821; K. G. Carus, Gynäkologie, Lpz. 1838, 2 Thle.; E. K. I. von Siebold, Lehrbuch der Geburtshülfe, Berl. 1841; Bouchacourt, Rech sur les accouchemens, Paris 1843; Chally, Traité prat. de l'art des accouchemens, Paris 1845; Jacquemier, Manu el des acc., Paris 1846; Detroit, Cursus der Geburtshülfe, Berl. 1846; Burke, The accoucheurs vademecum, Lond. 1847; Trefurt, Abhandlungen u. Erfahrungen aus dem Gebiete der. Geburtshülfe, Gött. 1845; Nägele, Lehrbuch der Geburtshülfe; 2. Aufl. 1847, fortgesetzt von Grenser Mainz 1853; Lumpe, Cursus der Geburtshülfe 3. Aufl. 1854; W. H. Wittinger, Alphabetisches Handbuch der Geburtshülfe, Quedlinb. u. Lpz. 1848; R. Lee, Clin. midwifery, 2. Aufl., Lond. 1848; E. Martin, Zur Gynäkologie, Jena 1849; F. W. Scanzoni, Lehrbuch der Geburtshülfe, Wien 1849, 2. Aufl. 1853; J. E. Roßhirt, Lehrbuch der Geburtshülfe, Erl. 1851; A. Martin, Lehrsätze zum Mechanismus der natürlichen Geburt, München 1850; F. A. Kiwisch Ritter v. Rotterau, Die Geburtskunde, Erl. 1851; F. H. Arneth, Die geburtshülfliche Praxis etc., Wien 1851; Chiari, Braun u. Späth, Klinik der Geburtshülfe u. Gynäkologie, Erl. 1852 u. 53; Credé, Klinische Vorträge über Geburtshülfe, Berl. 1853; A. Krause, Theorie u. Praxis der Geburtshülfe, Berl. 1853; A. E. v. Siebold, Lucina, Journal für Geburtshülfe, Frauenzimmer- u. Kinderkrankheiten, Frkf. 1813–26, 6 Bde.; Neues Journal, 7._– 10. Bd., von E. K. J. v. Siebold, vom 8. Bde. an, ebd. 1827–38; Gemeinsame deutsche Zeitschrift von Busch etc., 7 Bde., Weim. 1826–32, neue, ebd. 1833 ff.; E. K. J. v. Siebold, Geschichte der Entbindungskunst, Berl. 1839–45, 2 Bde.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 771-773.
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