Deutsches Recht

[923] Deutsches Recht, 1) im objectiven Sinne der Inbegriff der in Deutschland geltenden Rechtsinstitute u. Rechtssätze, insbesondere der auf deutschem Grund u. Boden entstandenen, u. in engster Bedeutung derjenigen, welche sich auf die privatrechtlichen Verhältnisse beziehen u. das sogenannte Deutsche Privatrecht bilden. In diesem Sinne unterscheidet sich das D. R. von dem Germanischen Recht dadurch, daß dieses überhaupt diejenigen Rechtsinstitute u. Rechtssätze umfaßt, welche nicht blos den Deutschen, sondern allen Völkern germanischer Abkunft gemeinsam sind od. waren; von den in Deutschland recipirten fremden Rechten, wie dem römischen u. canonischen, durch seinen Ursprung; endlich als allgemeines D. R., welches als allgemeines Gesammtrecht des deutschen Volkes zu betrachten ist, gegenüber dem particulären, welches letztere das besondere, eigenthümliche Recht eines einzelnen deutschen Landes angibt. Ob es ein solches allgemeines D. R. gegeben habe u. namentlich heutzutage noch gebe, ist freilich eine vielfach bestrittene u. verschieden beantwortete Frage. Die Schwierigkeit der Beantwortung derselben beruht darin, daß es für Deutschland von jeher an einem die nationale Einheit äußerlich vermittelnden Punkte gefehlt hat, u. daß das Recht hiernach weit mehr in particulären Rechtsbildungen, als in allgemein gültigen Gesetzen u. Gewohnheiten hervorgetreten ist. Viele wollen deshalb nur ein theoretisches gemeines Recht annehmen, welches aber zur Erklärung u. Ergänzung der Particularrechte gebraucht werden könne; Andere meinen doch auch eine unmittelbar gemeine Anwendbarkeit gewisser Rechtssätze annehmen zu können, begründen dieselbe selbst aber auf sehr abweichende Weise, indem sie dieselbe bald auf eine angebliche Natur der Sache, bald auf die verbindende Autorität der juristischen Schriftsteller, bald auf die äußerlich hervortretende Übereinstimmung aller particularen Rechtsnormen, bald auf die geschichtliche Herausbildung nach den neuesten Rechtserzeugungen aus den im Mittelalter allseitig mit gemeinsamer Gültigkeit anerkannten Rechtsbüchern gestützt haben. Das Richtigste dürfte es aber sein, wenn man bei der Construction des Begriffes von der Rücksicht auf die unmittelbare Anwendbarkeit des Rechtes ganz absieht u. sich nur auf die eigentlichen Grundgedanken beschränkt, auf denen die einzelnen Rechtsinstitute ruhen. In diesen ist aber für die deutschen Schöpfungen, selbst bei aller particularen Verschiedenheit derselben, eine Gemeinsamkeit nicht zu verkennen. Das D. R. erscheint zu allen Zeiten mehr als das gemeinsame Recht eines Volkes, als das Recht eines Staates. Es kann daher auch die Wissenschaft des D. R-es nicht auf die Darstellung eines unmittelbar in einem Staate praktisch anerkannten Rechtes, sondern nur auf die Darstellung der gemeinsamen Ideen berechnet sein, welche als Manifestationen des deutschen Volksgeistes in den Rechtsinstituten hervortreten; der Pflege der Particularrechte aber muß es vorbehalten bleiben, mit Zugrundelegung jener Ideen das eigentlich praktische Recht zu entwickeln. Mit der geschichtlichen Darstellung des D. R-es beschäftigt sich die Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte. Für die Quellen kann man nach den verschiedenen Zeiten 3 Perioden unterscheiden: a) für die älteste Zeit, bis Mitte des 12. Jahrh., bilden die hauptsächlichsten Rechtsdenkmäler die von den germanischen Völkern bald nach der großen Völkerwanderung aufgezeichneten Volksrechte, die sogenannten Leges Barbarorum; dies sind die Lex Salica, L. Ripuaria s. Ripuariorum, L. Burgundionum, L. Alamannorum, L. Bajuvariorum, L. Frisionum, L. Saxonum, L. Anglorum et Werinorum h. e. Thuringorum, L. Wisigothorum, die Leges Longobardicae; die Capitularien, d. i. unter Beirath geistlicher u. weltlicher Großen ertheilten Gesetze der fränkischen Könige, von welchen 827 der Abt Ansegisus eine, späterhin von dem mainzischen Diaconus Benedictus Levita fortgesetzte Sammlung veranstaltete; mancherlei Formelsammlungen, welche in dieser Periode als Anleitung zur Abfassung gerichtlicher Geschäfte angelegt wurden u. von denen als die bedeutendste die um das Jahr 660 von Marculf in 2 Büchern (Chartae regales u. Chartae pagenses) verfaßte, erhalten ist. b) Für die mittlere Zeit, welche man von der Mitte des 12. bis Ende des 15. Jahrh. führen kann, bestehen die Quellen des ungeschriebenen Rechtes in zahlreichen Urkunden über einzelne Rechtsgeschäfte, unter denen wieder die Schöffensprüche, Weisthümer (s.d.) u. die Urtheile der Oberhöfe als bes. bedeutend hervorragen; hauptsächlich aber in den sogenannten Rechtsbüchern des Mittelalters, dem Sachsenspiegel u. Schwabenspiegel (s. b.), zunächst von Privatpersonen veranstalteten Aufzeichnungen des geltenden Gewohnheitsrechtes, welche aber bald in den Gerichten ein solches Ansehen erlangten, daß sie ein fast gesetzliches Ansehen genossen. Zu ihnen gehören auch manche Stadtrechtsbücher, in welche das in den Gerichten einer Stadt geltende Recht zusammengetragen wurde, wie z.B. das Sächsische Weichbild u. das Rechtsbuch nach Distinctionen, sowie die unter dem Namen Abecedarien, Repertorien, Remissorien, Schlüssel (Slotel) verfaßten lexikalischen Arbeiten, die in Handschriften über ganz Deutschland verbreitet sind. Die Quellen des geschriebenen Rechtes in dieser Periode aber sind einzelne Reichs- u. Territorialgesetze, Hof- u. Dienstrechte über die dinglichen u. persönlichen Verhältnisse hofhöriger u. dienstabhängiger Personen, bes. aber die Stadtrechte, von denen die bedeutendsten, wie die von Köln, Soest, Lübeck, Hamburg, Magdeburg, Goslar, Augsburg, Bamberg von der Mutterstadt hinweg auch auf andere Städte übertragen wurden u. dadurch eine zum Theil sehr weite Verbreitung erlangten. c) Die neuere Zeit hat diese Stadtrechte wieder mehr u. mehr verdrängt, u. an ihrer Stelle hat sich die Fortbildung des D. R-es immer entschiedener auf die eigentliche[923] Gesetzgebung zurückgezogen. Diese trat aber wieder weniger in den Reichsgesetzen, als in der Landesgesetzgebung in umfassenderer Weise hervor, wie in den Landrechten, Landesordnungen, Gerichts- u. Polizeiordnungen, seit der Mitte des vorigen Jahrh. in den großen Codificationen Preußens. Österreichs u. dem Code Napoléon. insoweit derselbe Deutschland angehört (s. u. Codification u. Code). Eine eigene Literatur des D. R-es beginnt erst mit dem Anfange des 18. Jahrhunderts. Das erste Lehrbuch des Deutschen Privatrechtes schrieb Georg Beyer (st. 1714) unter dem Titel: Delineatio juris Germanici; nach ihm Heineccius, Elementa juris Germ., 1736–37, 2 Bde.; Estor, Bürgerliche Rechtsgelehrsamkeit der Deutschen, 1757–67,3 Thle.; Pütter, Elementa jur. Germ. priv. hodierni, 1776, 3 Bde., u. Runde, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechtes 1791 (8. Aufl. 1829), nebst dem dazu von Danz (Handbuch des deutschen Privatrechts, 1800–23, 10 Bde.) gelieferten Commentar; K. Friedr. Eichhorn, Einleitung in das deutsche Privatrecht mit Einschluß des Lehnsrechtes, Gött. 1823, 5. Aufl. 1845, der zuerst dabei namentlich die historischen Grundlagen des D. R-es tiefer erforschte u. durch die von ihm gleichzeitig gelieferte Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte, Gött. 1808–23, 4 Bde., 5. A. 1843–45, dieser historischen Forschung eigentlich erst den festeren Boden gab. Außer ihm sind von neueren Bearbeitungen hervorzuheben: Mittermaier, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechtes mit Einschluß des Handels-, Wechsels- u. Seerechts, Landsh 1821, 7. A. 1847; Phillips Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechtes, 3. Aufl. 1846–47; Maurenbrecher, Lehrbuch des gesammten heutigen gemeinen deutschen Privatrechtes, 1834; Zöpfl, Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte, Heidelb. 1834–36, 2 Bde., 2. A. 1844–47; Wolff, Lehrbuch des gemeinen deutschen Privatrechtes, 1847; Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechtes, 1847; Hillebrand, Lehrbuch des gemeinen deutschen Privatrechtes, 1849; Gerber, System des deutschen Privatrechtes, 1850; Renand, Lehrbuch des gemeinen deutschen Privatrechtes, 1848; Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht, 1851; Zeitschrift für deutsches Recht u. deutsche Rechtswissenschaft, herausgeg. von Reyscher u. Wilda, später auch von Beseler, bis jetzt 13 Bde. 2) In subjectivem Sinne der Inbegriff der Deutschland entweder in seiner Gesammtheit, od. jedem Deutschen als einzelnem Individuum dem Auslande überhaupt od. jedem Ausländer als solchen gegenüber zuständigen Rechte.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 923-924.
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