Psychologie

[667] Psychologie (v. gr.), die Wissenschaft von den Formen u. Gesetzen des geistigen Lebens u. den Bedingungen u. Ursachen seiner verschiedenartigen Gestaltung. Den Stoff derselben bietet nicht die äußere, sondern die innere Erfahrung, die Auffassung dessen, was im Bewußtsein geschieht, dar, u. in dieser Beziehung beruht die P. auf den Thatsachen des Bewußtseins. Diese Thatsachen bietet aber streng genommen jedem nur seine eigene innere Erfahrung dar; denn in ein fremdes Bewußtsein kann sich Niemand unmittelbar versetzen, u. was wir als Äußerung eines fremden geistigen Lebens an Andern beobachten, wird uns erst durch Analogie mit dem, was wir in u. an uns selbst beobachtet haben, verständlich; u. darin liegt eine der Ursachen, aus denen es der P. nicht so leicht ist, als es scheinen könnte, wirklich allgemeine Thatsachen des Bewußtseins festzustellen. Noch viel weniger gibt die innere Erfahrung unmittelbar die Gesetze u. Ursachen dessen zu erkennen, was in den mannigfaltigsten Formen, Abstufungen u. Verwickelungen sich als Inhalt u. Äußerung des geistigen Lebens darstellt. Wie in jedem anderen Gebiete, wo es darauf ankommt, einen gegebenen Complex gleichartiger Thatsachen aufzufassen, ist daher die erste Aufgabe der P., die Erscheinungen des geistigen Lebens möglichst genau u. vollständig kennen zu lernen, zu beschreiben u. zum Zwecke ihrer Unterscheidung einen nach Begriffen geordneten Überblick über sie zu gewinnen, d.h. sie zu klassificiren. Die P., insofern sie sich hierauf beschränkt, ist empirische P.; macht sie den Versuch, die Gesetze dieser Erscheinungen nachzuweisen u. ihre Ursachen zu entdecken, so wird sie rationale P. Die Schwierigkeiten schon der empirischen P. liegen nicht blos in der Mannigfaltigkeit der psychischen Thatsachen, sondern auch in der großen Veränderlichkeit u. der Unmerklichkeit der leisen, der Selbstbeachtung sich entziehenden Übergänge der psychischen Zustände, so wie in der höchst unvollkommenen u. beschränkten Hülfe, welche absichtlich angestellte Experimente in dieser Beziehung leisten können, u. es ist daher nicht zu verwundern, daß man sich lange Zeit nur an die allgemeinsten u. auffallendsten Unterschiede dieser Zustände u. Thätigkeiten gehalten hat. Den ältesten griechischen Philosophen bot theils die allgemeine Verschiedenheit des leiblichen u. des geistigen Lebens, theils innerhalb des letzteren der Unterschied dessen, was der Mensch mit dem Thiere gemein hat u. was ihm eigenthümlich ist, die zunächst liegenden Haltepunkte für ihre noch sehr rohen Auffassungen der psychischen Thatsachen dar. Während Plato sich noch damit begnügte, einen sinnlich begehrenden u. einen vernünftigen Theil der Seele zu unterscheiden u. beiden einen dritten Theil unter der Bezeichnung Thymos als Quelle der Thatkraft beizugesellen, war Aristoteles der erste, welcher die psychischen Thatsachen etwas vollständiger auffaßte u. genauer klassificirte. Er unterschied die sinnliche Empfindung, Gedächtniß, Phantasie, Begehrung u. Bewegung, das höhere vernünftige Denken u. Wollen. Diese Klassen von Erscheinungen betrachtete er als Glieder einer Entwickelungsreihe, von denen das frühere die Möglichkeit des folgenden enthält, dieses jenes voraussetzt; u. das, was sich in dieser Entwickelung darstellt, ist die Seele (Psyche) als der Ausdruck für den Träger der bestimmten Eigenthümlichkeit eines organischen Körpers. Er rechnete daher zu den psychischen Thätigkeiten auch die Ernährung u. Fortpflanzung, welche auch den Pflanzen zukommt; die sinnliche Empfindung etc. ist auf die Thiere, die Theilnahme an der Vernunft auf den Menschen beschränkt. Die Schwierigkeit, die höchsten Stufen des geistigen Lebens in eine gesetzmäßige Verbindung mit den niederen zu bringen, veranlaßte ihn, die Vernunft als etwas dem Menschen von außen Verliehenes, also nicht als eine Entwickelungsstufe der Psyche als der organischen Lebenskraft anzusehen; u. dieselbe Schwierigkeit hat später vielfach zu einer Dreitheilung der menschlichen Natur in Leib, Seele u. Geist geführt; eine [667] Annahme, welche sich schon deshalb als unhaltbar erweist, weil die Stufen der geistigen Ausbildung ganz allmälig in einander übergehen u. die Einheit des rohen wie des gebildetsten Selbstbewußtseins mit ihr unvereinbar ist. Die aristotelische P. enthält aber auch zugleich den Keim einer Ansicht, welche die P. Jahrhunderte hindurch beherrscht hat, nämlich der, daß die verschiedenen psychischen Zustände u. Thätigkeiten aus einer bestimmten Anzahl von Seelenvermögen (Facultates animae) zu erklären seien. Die Methode der P. bestand daher bis auf die neuere Zeit herab hauptsächlich darin, daß man die gleichartigen psychischen Thatsachen unter einen bestimmten Allgemeinbegriff zusammenfaßte (am deutlichsten treten hier die des Vorstellens u. Denkens, des Fühlens, endlich des Begehrens u. Wollens hervor) u. diesen Begriffen einzelne Seelenvermögen unterlegte, welche den Realgrund dessen enthalten sollten, was jene Begriffe besagen; u. die Ausführung der P. ist deshalb vielfach von der Richtung der Abstraction u. der dadurch bedingten Eintheilungen der psychischen Phänomene abhängig gewesen. Das ganze Mittelalter hindurch war die dem Aristoteles entlehnte Unterscheidung einer ernährenden (Anima vegetativa), sinnlich empfindenden u. begehrenden (Anima sensitiva) u. vernünftigen Seele (Anima rationalis) maßgebend. Die Cartesianische Philosophie hatte auf die P. nur in so fern Einfluß, als sie Körper u. Geist, ausgedehnte u. denkende Substanzen streng von einander schied u. die Frage nach dem ursachlichen Zusammenhang zwischen leiblichen u. geistigen Zuständen durch den Occasionalismus (s.d.) beantwortete, an dessen Stelle Leibnitz seine Lehre von der Prästabilirten Harmonie (s.d.) setzte. Diejenigen Vorstellungen, deren Entstehung aus dem Verkehr mit der Außenwelt unmöglich schien, erklärte Cartesius, u. in einem beschränkteren Sinne auch Leibnitz, für angeboren u. entzogen sie dadurch eigentlich einer näheren Untersuchung ihres Ursprungs. Erst Locke gab der P. einen fruchtbaren Anstoß, indem er zwar nicht der Seele eigenthümliche Thätigkeiten, aber ihr angeborne Vorstellungen u. Erkenntnisse läugnete, den Ursprung des Vorstellungskreises aus der inneren u. äußeren Erfahrung wenigstens an einer Anzahl wichtiger Beispiele nachzuweisen suchte, die Thatsache des Selbstbewußtseins zuerst einer wenn auch sehr unvollkommenen Untersuchung unterwarf u. darauf hinwies, wie ganz untauglich die Annahme verschiedener getrennter Seelenvermögen zur Erklärung der psychischen Thatsachen sei. Locke's psychologische Ansichten wurden durch Condillac, Hartley, Priestley, Bonnet u. A. im Sinne eines reinen Sensualismus (s.d.) weiter entwickelt u. die französischen Encyklopädisten benutzten sie als Grundlage ihres Materialismus (s.d.), während die sog. Schottische Schule (Thom. Reid, Dugi. Stewart, Brown) zugleich die der Lehre Kants verwandten Elemente der Lockeschen P. weiter entwickelten. In Deutschland wurde die hergebrachte Vermögenslehre namentlich durch Christ. Wolff u. seine Schule systematisch formulirt; man unterschied theoretische u. praktische, höhere u. niedere Seelenvermögen u. rubricirte die psychischen Phänomene nach diesem Leitfaden. Diese Form der P. adoptirte ohne Veränderung der Grundansicht auch Kant, dessen Kritiken auf der Voraussetzung beruhen, daß jedes einzelne Vermögen (Sinnlichkeit, Gedächtniß, Einbildungskraft, Verstand, Urtheilskraft, Begehrungsvermögen, theoretische u. praktische Vernunft) bestimmte von der Natur ihm als ursprüngliche Mitgift verliehene Anschauungsformen, Begriffe u. Functionen habe. Die Lehre Kants, welche für die nachfolgenden Jahrzehende die Grundlage der gewöhnlichen Popularphilosophie wurde, erhielt durch Fichtes Idealismus sehr bald eine gänzliche Umwandlung; aber das Verdienst Fichtes, zuerst den Begriff des Ich als des mit seinem Vorgestellten identischen Vorstellenden scharf bestimmt zu haben, blieb bei ihm für die P. ohne Folgen, weil er damit die die Thatsachen der inneren Erfahrung gänzlich ignorirende Behauptung verband, daß das Ich das absolut Thätige, seine Vorstellungen u. Handlungen lediglich aus sich selbst Erzeugende sei. Daher trat in den auf Fichtes Bahn fortschreitenden idealistischen Systemen Schellings, Hegels u. ihrer Anhänger an die Stelle der alten Vermögenslehre lediglich der allgemeine Begriff der Entwickelung, u. die P. begnügte sich die verschiedenen Stadien u. Momente dieser Entwickelungsreihe, von denen jedes frühere das nächstfolgende spätere angeblich mit Nothwendigkeit aus sich hervortreiben soll, aufzuzählen u. mit den für die verschiedenen Klassen der psychischen Erscheinungen üblichen Namen zu bezeichnen. Eine durchaus neue Bahn der psychologischen Forschung betrat Herbart, nicht blos weil er auf vollständige, scharfe u. präcise Auffassung der Thatsachen drang, sondern weil er in dem Begriffe das Ich als des Ausdruckes für die Thatsache des Selbstbewußtseins ein Problem nachwies, dessen Auflösung ihn zu dem Satze führte, daß die wahren Realgründe des geistigen Lebens in den Vorstellungen selbst, dh. in den ganz individuellen in der Seele als ihrem reellen Träger durch deren Verbindung mit dem Nervensystem u. durch dieses mit der Außenwelt hervorgerufenen Thätigkeitsacten derselben, zu suchen sind, deren Wirkungsart, weil sie an Größenverhältnisse gebunden ist, mathematisch bestimmten Gesetzen unterliegt, so daß, in so fern es gelänge, diese Gesetze zu entdecken, die P. in den Rang einer exacten Naturwissenschaft treten würde. Über die Art, wie der Materialismus sich in neuerer Zeit auf dem Gebiete der P. geltend zu machen gesucht hat, s. Materialismus. Abgesehen von den zahlreichen Darstellungen der P. nach der Vermögenslehre schließen sich der Schellingschen Naturphilosophie an: Schubert, Geschichte der Seele, Tüb. 1833, 4. Aufl 1850; Carus, Vorlesungen über P., Lpz. 1831; Derselbe, Psyche, Pforzheim 1846, 2. Aufl. 1851; der Hegelschen Richtung folgen: Rosenkranz, Psychologie, Königsb. 1837, 2. Aufl. 1843; Michelet, Anthropologie u. P., Berlin 1840; Erdmann, Grundriß der P., 3. Aufl. 1847; Derselbe, Psychologische Briefe, 1852, 2. Aufl. 1856; Schaller, Psychologie, 1860 f. Vgl. Exner, Die P. der Hegelschen Schule, 1842–44; an Herbart schließen sich an: Drobisch, Empirische P., Lpz. 1842; Derselbe, Erste Grundlinie der mathematischen P., Lpz. 1850; Waitz, Grundlage der P., Gotha 1846: Derselbe, Lehrbuch der P. als Naturwissenschaft, Gotha 1850; Schilling, Lehrbuch der P., Lpz. 1851; Volkmann, Grundriß der P., Halle 1856; Fechner, Psychophysik, Lpz. 1860; Lotze, Medicinische P., Lpz. 1852; Beneke, Erfahrungsseelenlehre, 1820; Derselbe, Psychologische Skizzen, 1825, 2 Bde.; Derselbe, Lehrbuch der P., 1853; Derselbe, Die[668] neue P., 1845. Außerdem sind zu vergleichen: Vorländer, Grundlehren einer organischen Wissenschaft der Seele, Berlin 1841; I. H. Fichte, Anthropologie, Lpz. 1856, 2 Bde; Damiron, Psychologie, Brüssel 1834; Quételet, Sur l'homme et le développement de ses facultés, Par. 1835, 2 Bde; Mill, Analysis of the human mind, Lond. 1829, 2 Bde.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 667-669.
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