Gent

[579] Gent (franz. Gand), Hauptstadt der belg. Provinz Ostflandern, vormals der ganzen Grafschaft Flandern, liegt 5 m ü. M. am Zusammenfluß der Schelde und der Lys und ist mit Antwerpen, Brüssel, Courtrai, Tournai, Ostende, Brügge etc. durch Eisenbahnen, mit Meirelbeke und Ursel durch Vizinalbahnen verbunden und von einer Gürtelbahn umschlossen. G. wird von zahlreichen Flußarmen und z. T. schiffbaren Kanälen durchzogen, welche die Stadt in 26 durch Brücken verbundene Inseln teilen. Die Stadt umschließt in ihrem 11 km weiten Umfang zahlreiche Gärten, Wiesen, Teiche und Promenaden, hat enge, finstere Gassen, aber auch freundliche, neue Straßen, moderne Paläste, schöne Kais und Docks.

Wappen von Gent.
Wappen von Gent.

Unter den Plätzen ist der von altertümlichen Gebäuden umgebene Freitagsmarkt, an dem die »Dulle Griete«, eine 5,8 m lange, 3,3 m im Umfang messende eiserne Kanone aus dem 14. Jahrh., liegt, der für die Genter Geschichte bedeutsamste Platz (seit 1863 mit dem kolossalen Standbild Jacob van Arteveldes von Devigne-Quyo geschmückt). Auf ihm fanden zur Zeit des Herzogs Alba und der Inquisition unzählige Hinrichtungen statt. Unweit vom sogen. Kouter, der als Promenadeplatz und Blumenmarkt dient, dem regelmäßigsten Platz, wohnten die Maler van Eyck sowie Jakob van Artevelde. Die beste Übersicht über die Stadt bietet der fast in der Mitte derselben stehende Belfried (1183–1339 gebaut), der etwa 100 m Höhe hat, obschon er nur in zwei Dritteln ausgebaut ist. Auf seiner gußeisernen, 36 m hohen, 1854 erneuten Spitze schwebt ein über 3 m langer vergoldeter Drache (von 1380). Der Turm enthält ein Glockenspiel von 28 Glocken. Neben dem Belfried steht die ehemalige Tuchhalle (1325 erbaut). An der Stelle der ehemaligen, vom Kaiser Karl V. gestifteten, jetzt abgetragenen Zitadelle (Spanjaards-Kasteel) erheben sich die Trümmer der St. Bavo-Abtei und daneben die Überreste der achteckigen, im 12. Jahrh. erbauten St. Machariuskapelle. Die ehemaligen Wälle sind in Spaziergänge umgewandelt.

Unter den 55 Kirchen der Stadt steht obenan die Kathedrale zu St. Bavo, die in ihrem Äußern schwerfällig ist, in dem mit Marmor bekleideten Innern aber große Pracht zeigt. Die Krypte ist aus dem Jahre 941, das Chor von 1274–1300. Die 24 Kapellen der Seitenschiffe und die spätgotischen des Chors enthalten viele ausgezeichnete Gemälde, z. B. Hubert und Johann van Eycks Anbetung des Lammes (ursprünglich aus 13 Tafeln bestehend, wovon sich noch 4 dort, 6 im Berliner Museum, 2 im Brüsseler Museum befinden). Neben der Kathedrale steht der bischöfliche Palast. Die St. Nikolauskirche am Kornmarkt, unter den Kirchengebäuden Gents das älteste,[579] ist in ihrem jetzigen Bau frühgotisch. Ebenfalls gotisch ist die St. Michaeliskirche, aus dem 15. Jahrh., mit unvollendetem Turm. Auf dem Bladinusberg steht die 1629–1772 erneuerte St. Peterskirche mit vielen ausgezeichneten Gemälden. Unter den weltlichen Gebäuden zeichnet sich das Rathaus aus, das unweit des Belfrieds steht. Seine nördliche Front, aus dem 14. Jahrh., seit 1829 in Restauration, ist vielleicht das an Verzierungen reichste gotische Bauwerk Belgiens; der östlichen Front (1600–18 ausgeführt) mit drei Reihen Halbsäulen soll der Palazzo Cornaro in Venedig zum Vorbild gedient haben. Im großen Saal des Rathauses wurde 1576 die Pazifikation von G. unterzeichnet. Unweit des Belfrieds steht der vom König Wilhelm I. errichtete Universitätspalast, von Roelandt 1826 in antikem Stil erbaut. Die naturwissenschaftliche Fakultät und die technischen Schulen sind in dem umfangreichen Institut des sciences untergebracht, das 1890 nach den Plänen von Ad. Pauli in der obern Stadt errichtet ist. Auch der 1841 von Roelandt erbaute Justizpalast mit einem Peristyl korinthischer Ordnung ist ein Prachtgebäude. Gegenüber steht das 1848 erbaute schöne Schauspielhaus, ebenfalls ein Bau Roelandts. Merkwürdig ist ferner der 1234 am Brügger Tor gegründete, aber 1874 nach dem Vorort St. Amandsberg verlegte Beghinenhof (Begynhof): eine kleine Stadt von vielen Häuschen, 18 Konventen und einer Kirche, mit Mauer und Graben umgeben und von etwa 700 Beghinen bewohnt, deren Zweck religiöses Leben und Übung der Barmherzigkeit ist, und deren Beschäftigung größtenteils in Näharbeit besteht. Eigentliche Klöster zählte G. 1901: 50 (mit 1917 Insassen, wovon 1468 Frauen). An der Promenade de la Coupure (Verbindungskanal zwischen dem Brügger Kanal und der Lys) steht das 1825 vollendete Zuchthaus (Rasphuis), ein Achteck mit neun innern Höfen. Dem Zuchthaus schräg gegenüber liegt das große, 1835 erbaute Kasino, das zu Konzerten, Gesangsfesten und besonders zu den berühmten Blumenausstellungen des Botanischen Vereins dient. Die aus dem 15. Jahrh. stammende Fleischhalle ist namentlich durch eine Wandmalerei von Nabur Martius (1418), die Anbetung des heil. Kindes vorstellend, bemerkenswert. Während vom Prinzenhof, in dem die Grafen von Flandern Hof hielten und Karl V. geboren wurde, nur ein Torbogen erhalten ist, steht das in der Restauration begriffene Gravenkasteel am Pharaildenplatz noch, ein turmartiges, mit Schießscharten versehenes Tor von 1180, der Überrest des alten Schlosses der ersten flandrischen Grafen. Sehr bemerkenswert sind ferner, im Park der ehemaligen Zitadelle, das 1902 eingeweihte Gebäude für das Museum der schönen Künste, eine Schöpfung van Rysselberghes, das neben dem bischöflichen Palast gelegene Schloß Gerard des Teufels (Geerards Duivelsteen) aus dem 13. Jahrh., neuerdings restauriert, in dem das Archiv untergebracht ist, sowie der 1899 eröffnete Nederlandsche Schouwburg (Bühne). G. hat außerdem verschiedene Denkmäler, darunter die Standbilder des Urhebers der spätern flämischen Bewegung J. F. Willems (von Derudder, 1901), von L. Bauwens, der die englischen Maschinen für Textilindustrie zuerst in G., bez. auf dem Kontinent einführte (von Devigne-Guyo, 1885), einen dem ehemaligen Bürgermeister de Kerchove gewidmeten Springbrunnen (von Leroy, 1898) etc. Die Stadt hat einen Flächeninhalt von 2800 Hektar und (1902) eine Bevölkerung von 162,490 Seelen (1880: 131,431); auffallend ist das numerische Übergewicht des weiblichen Geschlechts (1900 kamen auf 100 männliche 116 weibliche Personen).

In industrieller Beziehung behauptet G. lange nicht mehr den Rang, den es im 14. und 15. Jahrh. einnahm (die Stadt zählte damals 40,000 Lein- und Wollweber); doch ist seine Gewerbtätigkeit immer noch groß, und namentlich datiert von der Einführung der Baumwollspinnerei zu Anfang des 19. Jahrh. ein neues Aufblühen der Stadt. Die wichtigsten Industriezweige sind neben der Baumwollspinnerei (650,000 Spindeln) Flachsspinnerei (200,000 Spindeln) und Weberei, Kattundruckerei, Gerberei, Zuckersiederei; ferner Kupfer- und Eisengießerei, Maschinenbau, Brauerei, Fabrikation von Seife, Papier, Tabak, Chemikalien etc. Sehr in Flor ist auch die Blumenkultur und Handelsgärtnerei. G. zählt 100 Blumenhändler. Der Handel mit Blumen und Pflanzen erstreckt sich über Deutschland, Frankreich und Italien bis nach Rußland und den Vereinigten Staaten. Der Handel Gents ist noch heute sehr bedeutend. Ein großer, ursprünglich nur zum Schutz gegen Überschwemmungen angelegter Kanal, der nach Vollendung der seit 1895 in Angriff genommenen Arbeiten 17 m breit und 8,75 m tief sein wird und bei Terneuzen (wo der Vorhafen bis auf eine Tiefe von 39 m und eine Breite von 800 m erweitert werden soll) in die Schelde mündet, gewährt G. die Vorteile einer Seestadt. Ein zweiter Kanal verbindet die Lys mit dem Kanal von Brügge nach Ostende. Haupthandelsartikel sind: Korn, Rüböl, Flachs etc. Die vier bestehenden Hafenbassins haben eine Oberfläche von etwa 30 Hektar mit 4405 m Kais;. durch ein weiteres im Bau begriffenes Bassin mit Binnenhafen, Bahnverbindung mit dem obenerwähnten Kanal von G. nach Terneuzen etc. werden die Hafenanlagen 85 Hektar mit 6505 m Kais erreichen. 1901 liefen 1133 Schiffe (darunter 1032 Dampfer) von 716,723 Ton. ein, 1130 (darunter 1030 Dampfer) von 715,577 T. aus. Von den zahlreichen Wohltätigkeitsanstalten verdienen das Irrenhaus, das Entbindungshaus, das Findelhaus mit Hebammenschule, die Institute für Taubstumme und Blinde, die Wohltätigkeitswerkstätte für Arme (Weldadigheidswerkhuis), das große Bürgerhospital (Byloke) u. a. Erwähnung. An Bildungsanstalten besitzt die Stadt eine 1816 mit vier Fakultäten gegründete Staatsuniversität (1900–01: 452 Studierende), mit der eine Schule für Ingenieure (mit 210 Zöglingen) und eine für Künste und Gewerbe (mit 134 Schülern) sowie die ehemalige berühmte Stadtbibliothek (mit über 300,000 Bänden und 2000 Handschriften) verbunden sind; ferner die 1886 gestiftete königliche Flämische Akademie (im ehemaligen sogen. Dammansteen), einen botanischen Garten; außerdem Altertümer- und Grabsteinsammlungen, Seminare für Lehrer und Lehrerinnen, ein Athenäum, ein bischöfliches Seminar mit Bibliothek (10,000 Bände), eine staatliche Mittelschule, eine Industrieschule, ein Konservatorium der Musik (in dem uralten sogen. Achtersikkel), eine Akademie der schönen Künste mit über 700 Schülern und einer Sammlung (Musée) von etwa 250 Gemälden (meist aus den 1795 aufgehobenen Genter Klöstern), Gesellschaften für schöne Literatur und Kunst, Gartenbau, den schon erwähnten Botanischen Verein (Maatschappij van kruidkunde) etc. In G. erscheint die älteste Zeitung Belgiens, die 1667 gegründete »Gazette van G.« Die Stadt ist Sitz eines Appellhofs, eines Tribunals und Handelsgerichts sowie eines deutschen [580] Konsuls. Die ordentlichen Einnahmen der Stadt betrugen 1899: 5,7 Mill., die außerordentlichen Einnahmen 5,3 Mill., die ordentlichen Ausgaben 5,3 Mill., die außerordentlichen Ausgaben 4,2 Mill. Frank.

[Geschichte.] Die zuerst im 7. Jahrh. erwähnte Stadt, wo die Grafen von Flandern (s. d., S. 660) schon früh ein festes, 1180 verstärktes Schloß besaßen, nahm dank ihrer günstigen Lage einen raschen Aufschwung, und obwohl sie, besonders zur Zeit der beiden Artevelde (s.d.), fast ununterbrochen der Schauplatz blutiger sozialer Wirren und furchtbarer Kämpfe mit Frankreich, dem Grafengeschlecht sowie Brügge (s.d.) war, erfreute sie sich vom 13.- 15. Jahrh. als einer der Brennpunkte des deutsch-niederländischen Handelsverkehrs, als Getreidestapelplatz und als Sitz einer bedeutenden Tuchindustrie einer hohen Blüte (zu Beginn des 14. Jahrh. etwa 80,000 Einw.). Ihre politischen Privilegien, die sie bei ihrer Unterwerfung unter Burgund (1385) zunächst gerettet hatte, verlor sie 1453 nach einer mißlungenen Empörung gegen Herzog Philipp den Guten. Auch später kam es in G. wiederholt zu Aufständen: nach dem Tode Marias von Burgund (1482), die in G. oft residierte und 1477 hier das »Große Privileg« proklamierte, gegen ihren habsburgischen Gemahl Maximilian I. (s.d.), 1539–40 gegen dessen Enkel Kaiser Karl V. (s.d.), der in G. geboren war. Die religiösen Wirren seit Mitte des 16. Jahrh. vernichteten den Wohlstand der Stadt auf lange Zeit. Zu Beginn des niederländischen Freiheitskampfes war G. ein Hauptherd der Aufruhrsbewegung; hier unterzeichneten die Vertreter der nördlichen und südlichen Provinzen 8. Nov. 1576 die Genter Pazifikation zur gemeinsamen Abwehr der spanischen Gewaltherrschaft. 1584 von den Spaniern zurückerobert, seit 1714 in österreichischem Besitz, geriet G. 1678, 1708 und 1745 vorübergehend in die Hände der Franzosen. Seit 1794 war G. Hauptstadt des französischen Scheldedepartements, gehörte seit 1814 zum Königreich der Vereinigten Niederlande und diente 1815 während der »100 Tage« dem französischen König Ludwig XVIII. als Zufluchtsort. Auch wurde hier 24. Dez. 1814 der Friede zwischen Großbritannien und der nordamerikanischen Union unterzeichnet. Nach der Revolution von 1830 längere Zeit Mittelpunkt der oranischen Umtriebe in Belgien, ist G. neuerdings ein Hauptsitz der belgischen Arbeiterbewegung. Vgl. »Rekeningen der stad G.« (Gent 1874–90, 6 Bde.); de Potter, G. van den oudsten tijd tot heden (das. 1883–91, 6 Bde.); van Duyse, Gand monumental et pittoresque (Brüss. 1886); de Vlaminck, Les origines de la ville de Gand (das. 1891); Aelbrecht, G. onder de Calvinisten (Gent 1894); »Annales Gandenses« (hrsg. von Funck-Brentano, Par. 1895); Vuylsteke, Oorkondenboek der stad G. (Bd. 1, Gent 1900); Hymans, G. und Tournai (Bd. 14 der Sammlung »Berühmte Kunststätten«, Leipz. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 579-581.
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