Criminalrechtstheorie

[538] Criminalrechtstheorie (Strafrechtstheorie, Straftheorie), die Theorie über die philosophische Begründung der Strafe nach seinem inneren Zweck u. Wesen u. des Rechtes des Staates, diejenigen, welche durch unrechtmäßige Handlungen[538] der öffentlichen Rechtsordnung entgegenhandeln, mit Übeln zu bedrohen u. diese Übel als Strafe an ihnen zu vollziehen. Die Nützlichkeit, ja Nothwendigkeit solcher Untersuchungen ergibt sich, wenn bes. die Grenzen innerhalb deren der Staat sich dabei zu bewegen hat, so wie der Inhalt des Strafübels, dessen Höhe u. Verhältnisse den begangenen Verbrechen gegenüber näher bestimmt werden sollen. Daß dem Staate im Allgemeinen das Recht zustehe, ist eine durch die Geschichte aller Zeiten bewahrheitete Thatsache; die Begründung des Rechtes selbst aber ist auf sehr verschiedene Weise versucht worden, weshalb man mehrere C-en zu unterscheiden hat. Bei den Philosophen des Alterthums findet man eigentliche C-en nicht; aus demjenigen, was sie über Gerechtigkeit, Staat u. die Eigenschaften der Strafe angeben, ist zu entnehmen, daß sie die Strafe wegen begangener Verbrechen als etwas absolut Gerechtes betrachteten. Im Mittelalter wurde das Strafrecht meist als ein den Herrschern des Staates übertragenes göttliches Recht angesehen, eine Meinung, welche auch noch neuerdings (z.B. in Jarke) Vertreter gefunden hat. Die Naturrechtslehrer des 18. Jahrhunderts leiteten, wie überhaupt das ganze Staatsrecht, so auch das Strafrecht der Staatsgewalt aus dem angeblichen Bürgervertrag (Contrat social) ab, wonach der Staat kraft des abgeschlossenen Vertrags auch das Recht empfangen haben würde, den Bürger, wenn der Verbrechen begeht, mit Strafen zu belegen. Beide letzteren Ansichten beruhen aber offenbar auf unhaltbaren Fictionen. Die für die erstere Idee oft angezogenen Stellen der Heiligen Schrift erklären sich, insoweit sie dem Alten Testament angehören, durch die theokratische Verfassung des Jüdischen Staates; im Neuen Testament werden zwar wiederholt die Obrigkeiten als Diener u. Werkzeuge der göttlichen Ordnung u. Gerechtigkeit bezeichnet, allein nirgends wird gesagt, daß die Obrigkeiten nach besonderem Auftrag das Strafamt an Gottes Statt als die unmittelbar Wissenden empfangen hätten. Aber die Idee eines allgemeinen Staatsbürgervertrags, welcher die Staaten gegründet habe, ist nur eine rein äußerliche Auffassung des Staats, die höchstens in einem einzelnen Falle zutreffen kann, ohne deshalb zur Erklärung des inneren Geistes u. Zweckes des Staatslebens zu genügen. Erst die neuere Zeit hat sich ernstlicher mit philosophischer Ergründung des Strafrechts beschäftigt u. ihr gehören da her fast ausschließlich die einzeln aufgestellten C-en an. Man theilt dieselben in einfache C-en, welche das Strafrecht auf eine einzige, bestimmte Idee zu gründen suchen u. daher nur einen Zweck der Strafe anerkennen; u. gemischte, zusammengesetzte od. synkretische C-en, welche die Begründung des Strafrechts durch Verbindung mehrerer Principien od. durch Annahme mehrerer Zwecke versuchen. I. Die einfachen Theorien sind wieder entweder absolute od. relative: A) Absolute C-en (Gerechtigkeitstheorien im weiteren Sinne), welche die Strafe als eine an sich gerechte u. deshalb nothwendig eintretende Folge des Verbrechens ansehen, können ihrer Natur nach nur verschiedene Begründungsarten einer u. derselben Theorie sein, da die Idee der Gerechtigkeit immer nur eine einzige, unveränderliche sein kann. Nach den verschiedenen Gesichtspunkten, von denen dabei ausgegangen wird, lassen sich aber unterscheiden: a) die Theorie der sogenannten moralischen Vergeltung, welche die Strgse aus einem unbedingten Gebote des Sittengesetzes (dem sogenannten kategorischen Imperativ) ableitet. Alle Unsittlichkeiten fallen hiernach an sich in das Gebiet des Strafrechts, u. für Art u. Umfang der Strafe hat der Grad moralischer Verschuldung den Maßstab abzugeben. Offenbar wirst indessen diese, bes. von Schmidt n. A. vertheidigte Theorie Moral u. Recht in ungehöriger Weise zusammen u. hat deshalb zu Verwirrungen geführt; b) die Theorie der rechtlichen (juristischen) Vergeltung, auch Gerechtigkeitstheorie im engeren Sinne, findet die Natur der Strafe darin, daß die äußere Rechtsverletzung, welche das Verbrechen der Rechtsordnung zugefügt hat, mittelst der Strafe als einem gleichen od. wenigstens gualogen Übel (Kant) wiederum ausgeglichen werden muß. Es kommt daher diese Theorie dazu, die Strafe selbst dem Inhalte des mittelst des Verbrechens begangenen Rechtsbruches möglichst gleichzustellen, u. es ist dies wieder auf zweifache Art versucht worden: aa) als Theorie der Talion, welche nach dem Grundsatze: Auge um Auge, Zahn um Zahn u. selbst äußerlich daran festhält, daß der Verbrecher möglichst in quali u. quanto die Übel der nämlichen Art zu leiden habe, welche seine Rechtsstörung enthielt, u. bb) als Theoriederidealen Ausgleichung, welche die Erwiderung des verschuldeten Übels dahin bestimmt, daß dem Eingriff des Verbrechens in die Rechtssphäre seiner Mitbürger ein gleicher Eingriff in seine eigene zu folgen habe, um das gestörte Rechtsbewußtsein in der bürgerlichen Gesellschaft wiederum in das Gleichgewicht zu bringen (Zachariä) u. (nach Lenke u. Mohl) zugleich eine moralische Besserung herbeizuführen c) die Theorie der sogenannten logischen od. dialektischen Vergeltung (Hegel), nach welcher die Verletzung des Rechtes durch den besonderen Willen des Verbrechers als nichtig betrachtet u. die Strafe als die Negation der in dem Verbrecherliegenden Negation angesehen wird, welche notywendig ist, um die positive Existenz des Rechtes wiederum herzustellen; d) die Theorie der sogenannten göttlichen Vergeltung, weil die gesammte Ordnung des Staates eine durch Gott geordnete Institution ist, so hat der Verbrecher, wenn er diese Ordnung verletzt, dieses Unrecht als ein Unrecht gegen Gott abzubüßen (Expiationstheorie) od., wie Andere (z.B. Stahl) dies ausdrücken, nicht das Gesetz des Staates soll durch die Strafe aufrecht erhalten u. wiederhergestellt werden, sondern seine Herrlichkeit, welche sich nach Gottes Ordnung eben in der Vernichtung u. dem Leiden dessen, der sich wider sie empört hat, manifestirt. In dieser Begründung trifft diese letztere Anschauungsweise freilich wiederum viel mit der Ansicht zusammen, welche die Strafgewalt des Stgates unmittelbar auf göttliche Übertragung zurückführt (s. oben). B) Relative C-en (Nutzenstheorien), denen die Strafe nur als ein gelegentliches Mittel zu an sich erlaubten Zwecken er scheint; als solche sind folgende auszuzeichnen: a) die Theorie der Utilitarier, z.B. der Benthamisten, denen die Strafe blos zur Beförderung des gemeinen Nutzens, des allseitig ruhigen Genusses der menschlichen Güter zweckmäßig u. darum[539] auch gerechtfertigt erscheint (vgl. z.B. Benthams, Grundsätze der Criminalpolitik, dargestellt von Hepp, Tüb. 1839); b) das Besserungssystem, welches die Strafe nur als ein Mittel zur Besserung des Verbrechens betrachtet, danach aber eigentlich den Begriff der Strafe selbst aufhebt. Namentlich ist diese Theorie zur Bekämpfung der Todesstrafe von philanthropischen Juristen vielfach benutzt worden u. hat auf Abschaffung vieler Mißbräuche im Strafsystem sehr wohlthätig gewirkt; c) die Theorie der speciellen Präsention, welche davon ausgeht, daß der Staat gegen den einzelnen Verbrecher, welcher sich durch das Verbrechen als gemeingefährlich gezeigt hat, Sicherungsmaßregeln zu ergreifen befugt sein müsse, u. diese Sicherung eben in der Strafe findet, die hiernach ihren Zweck dann am besten erfüllt, wenn sie den Verbrecher für die Zukunft möglichst unschädlich macht (bes. vertheidigt von Grolmann); d) die Theorie der Generalprävention geht, im Gegensatz zu der vorigen, davon aus, daß nach dem Grundsatze: Nitimur in vetitum eine allgemeine Neigung zur Verübung von Verbrechen bestehe, welche zur Untergrabung der ganzen Rechtsordnung führen würde, wenn ihr nicht vorgebeugt wird; diese Vorbeugung soll durch die Androhung geschehen, welche in dem Strafgesetz u. dessen Vollziehung enthalten ist. Die Theorie wird daher auch als Androhungstheorie bezeichnet. Nach Verschiedenheit des nächsten Zweckes u. der beabsichtigten Wirksamkeit ist diese Theorie selbst wieder verschieden ausgebildet worden: aa) als Abschreckungstheorie, welche nicht sowohl das Strafgesetz, als vielmehr den Vollzug der Strafe als das wirksame Mittel betrachtet, um die verbrecherischen Gelüste niederzuhalten. Öffentlichkeit der Strafvollziehung u. möglichst in die Sinne fallende Strafarten würden daher nach dieser Theorie als die besten Strafmittel zu betrachten sein. Vertreter dieser Ansicht sind u. A. Filangieri, Gmelin, Klein u. Schneider; bb) als Theorie des psychologischen Zwanges, bes. von Feuerbach ausgebildet u. durch diesen nicht blos einem wissenschaftlichen System (in seinem Lehrbuch des Peinlichen Rechts), sondern auch einem praktischen Strafgesetzbuch, dem des Königreichs Baiern vom J. 1813 zu Grunde gelegt. Alle Übertretungen haben hiernach ihren psychologischen Entstehungsgrund in der Sinnlichkeit. Dieser sinnliche Trieb kann dadurch aufgehoben werden, daß jeder weiß, auf seine That werde unausbleiblich ein Übel folgen, welches größer ist, als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antriebe zur That entspringt. Dieses Übel ist die von dem Staate durch Gesetz anzudrohende u. kraft dieses Gesetzes zu vollziehende Strafe. Der Zweck der Androhung der Strafe ist daher Abschreckung Aller, als möglicher Beleidiger, von Rechtsverletzungen; der Zweck der Zufügung der Strafe ist die Begründung der Wirksamkeit der gesetzlichen Androhung, indem ohne sie diese Drohung nur eine leere sein würde; cc) als Warnungstheorie, aufgestellt von Bauer. Sie betrachtet die Strafe als ein Mittel der fortgesetzten Erziehung, indem sie das Strafgesetz vom Staate aufstellen läßt, um dem Bürger, insofern derselbe nicht durch Unterricht u. Polizei auf dem Wege des Rechtes erhalten werden kann, das drohende Übel als eine eindringliche Mahnung dessen vorzuhalten, was ihn treffen werde, wenn er dennoch von diesem Wege abweichen sollte. In der Hauptsache ist dies freilich auch nur eine Abschreckung u. trifft daher mit der Theorie Feuerbachs im Wesentlichen zusammen. Alle Präventionstheorien haben aber offenbar gegen sich, daß sie, wenn sie ihren Zweck wirklich erreichen sollen, auf einen Zustand ohne Verbrecher u. Verbrechen berechnet sind, der niemals eintritt; daß sie ferner eine Wirkung der Strafe zur Hauptsache erheben, auf welche nicht bei Allen u. namentlich nicht in gleicher Weise zu rechnen ist; endlich daß sie bei der Ausführung zu Strafen gelangen, welche durch ihre Höhe in der Regel nicht mit der gewöhnlichen Volksansicht in Übereinstimmung zu bringen sind. e) Die Theorie der Nothwehr u. Selbsterhaltung, hauptsächlich von v. Schulze u. Martin vertheidigt, sie geht davon aus, daß, weil der Staat existirt, er auch zweifellos das Recht habe, gegen widerrechtliche Angriffe Anderer als moralische Person sich zu schützen u. zu vertheidigen. Da nun jede begangene Verletzung von Zwangspflichten, die eben das Verbrechen begründeten, nicht nur eine Kränkung des unmittelbar Berechtigten, sondern auch eine Gefahr für das Fortbestehen des Staates selbst enthielten, so könne man dem Staate das Recht auch nicht absprechen, dem Urheber der drohenden Gefahr Strafen zuzufügen, welche, abgesehen von der Entschädigung des durch das Verbrechen civilrechtlich Verletzten, den Zweck haben, jene Gefahr für die moralische Person des Staates zu beseitigen. Denn durch die Drohung u., wenn diese nicht auslangt, durch die wirkliche Zufügung des Strafübels wird die Gefahr beseitigt. II. Die zusammengesetzten Theorien erscheinen äußerst mannigfaltig, je nachdem bald die eine, bald die andere Natur der Strafe dabei mehr hervorgehoben wird. Darstellungen u. Prüfungen der verschiedenen Systeme finden sich bes. bei Feuerbach, Revision der Grundsätze u. Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Erf. u. Chemn. 1799 u. 1808; Henke, Über den Streit der Strafrechtstheorien, Regensb. 1811; Hepp, Kritische Darstellung der Strafrechtstheorien, 2. Ausg., Heidelb. 1845; Abegg, Die verschiedenen Strafrechtstheorien in ihrem Verhältniß zu einander u. zum positiven Recht, Neust. 1835; Reichmann, Betrachtungen über das Strafrecht des Staates, Wiesb. 1836; Mohl, Über den Zweck der Strafe, Heidelb. 1837; Henrici, Über die Unzulänglichkeit eines einfachen Strafprincips, Braunschw. 1839; Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des C-s, Tüb. 1845.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 538-540.
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