Heilige Pflanzen

[74] Heilige Pflanzen, für den Kultus der verschiedenen Religionssysteme bedeutsame Pflanzen, die entweder eine bestimmte religiöse Idee versinnlichen, oder einer bestimmten Gottheit geheiligt waren, oder als religiöses Begeisterungsmittel beim Opfer- und Orakelkult, oder als Gottesgerichtsbäume in der Justizpflege eine Rolle spielen. Viele Naturvölker wählen gewisse Bäume als Fetische, an deren Äste sie Zeuglappen oder ihr abgeschnittenes Haupthaar als Opfer hängen; afrikanische Negerstämme machen besonders starke Baobabbäume zum Ortihrer religiösen Versammlungen. Auf alten ägyptischen Wandgemälden sieht man die Idee des ewigen Lebens in Gestalt eines Baumes des Lebens dargestellt, aus dessen Wipfel eine Gottheit hervorwächst, die in einem Kruge das »Wasser des Lebens« bewahrt und der in Vogelgestalt unter dem Baume stehenden Seele eines Verstorbenen spendet, wobei auch der dabei stehende Gläubige etwas davon mit der Hand auffängt. Auf assyrischen Wanddekorationen, Siegeln und Zylindern finden sich Darstellungen eines heiligen Baumes, der manchmal, wie der biblische Baum des Lebens im Paradies, von Cherubim bewacht wird. Darüber schwebt oft eine Gottheit, zur Seite stehen Könige und Priester. Häufig sind neben dem heiligen Baum adlerköpfige Gottheiten dargestellt, die aus Taschen, die sie in der Hand halten, zapfenförmige Gebilde nehmen, die sie über denselben halten. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um die zur religiösen Zeremonie erhobene Befruchtung der weiblichen Dattelpalme durch den Pollen der männlichen. Auf andern Zylindern erscheint eine Szene, in der man das Urbild der biblischen Erzählung vom Baum der Erkenntnis hat sehen wollen. Zu beiden Seiten eines heiligen Baumes erscheinen zwei sitzende Gestalten, Mann und Frau, die nach den Früchten desselben greifen. Hinter der Frau erscheint eine Schlange, die man als die Paradiesesschlange gedeutet hat.

Bei den arischen Völkern sehr verbreitet ist die Kultidee eines Weltbaumes, dessen Wurzeln in die Unterwelt hinabhängen, dessen Gipfel zum Himmel reicht und den Weltpol stützt, dessen ausgreifende Äste Wolkenbäume bilden, von denen das himmlische Naß träufelt, und dessen Früchte die Sterne oder die verjüngenden »Äpfel der Hesperiden« bilden. Am plastischsten ist diese Idee in der Weltesche Yggdrasil der »Edda« ausgearbeitet, aber der griechische Baum der Hesperiden, der da steht, wo Atlas den Himmelspol trägt, ist nur eine andre Form derselben Idee, und die griechische Mythologie kennt die Entstehung des Menschen aus Eschenholz so gut wie die nordische. Eine besonders große Rolle spielen heilige Bäume in der indischen Götterlehre, und zwar war dem altindischen Brahmanismus der indische Feigenbaum oder Banyan (Ficus indica), dessen Same vom Himmel fällt, auf den Ästen andrer Bäume keimt, und dessen Stämme dann als Luftwurzeln zur Erde niedersteigen und allmählich einen weitausgebreiteten Säulenwald bilden, der eigentliche Tempelbaum. Als sich später die Religion Buddhas ausbreitete, wählten die Anhänger dieses reformierenden Systems die Asvatha (Ficus religiosa), eine andre Feigenart, die einen höher aufstrebenden einfachen Stamm bildet, zu ihrem Symbol. In Tibet erfreut sich ein andrer Buddhabaum (Syringa villosa) großer Verehrung der Pilger, der auf seiner Rinde und den Blättern buddhistische Formeln und Buddhabilder zeigen soll. Die Japaner pflanzen den Gingko um ihre Tempel. Die Phöniker sollen dem Kulte der Dattelpalme (Phoenix dactylifera) ihren Namen verdanken; sie verehrten einen Palmen-Baal (Baal Thamar), und die von ihnen herzuleitenden nordafrikanischen Kulturen, namentlich die Altertümer Karthagos, zeigen sehr häufig Szenen, die man als Verehrung der Dattelpalme, deren Wedel auch das beliebteste Grabornament bildeten, deutet. Bei den alten europäischen Völkern war beinahe jeder Gottheit ein besonderer Baum heilig. Dem Donnergott (Zeus, Donar, Thor, Perkun) die Eiche, weil der Blitz am häufigsten dieselbe trifft, dem Kriegsgott (Ares, Tyr) die Esche, weil sie Lanzenschäfte liefert, dem Neptun die Strandfichte, dem Apoll der Lorbeer, in den sich die von ihm verfolgte Daphne verwandelt haben sollte, dem Todesgott der Taxus, Herkules die Weißpappel, Pallas Athene der Ölbaum, den sie im Streite mit Poseidon um die Oberherrschaft in Attika erschuf, der Venus die Myrte, der Persephone der Granatbaum etc. Dazu kamen lokale Kulte, die hier und da einzelnen Bäumen gewidmet waren, wie der Palme auf Delos, unter der Apoll und Artemis geboren wurden, der Platane von Gortyna, auf der Zeus die entführte Jo niedergesetzt hatte, der Feigenbaum von Rom, unter dem die Wölfin Romolus und Remus gesäugt haben sollte etc. Die Mistel, besonders die auf Eichen gewachsene, war den Kelten, vielleicht auch den germanischen Völkern heilig und wurde mit großer Feierlichkeit aufgesucht und eingeholt; Spuren ihrer Verehrung finden sich noch heute in Frankreich und England, woselbst die Mistel bei den Weihnachts- und Neujahrszeremonien dient, so daß ganze Schiffsladungen des in Frankreich noch häufigern Schmarotzers zu Weihnachten nach England gehen. Die Kelten hielten außerdem eine Anzahl niederer [74] Pflanzen heilig, wie das Eisenkraut, Selago, Samolus u. a., die aber z. T. der Art nach nicht sicher bekannt und mit den heute so genannten Pflanzen wahrscheinlich nicht identisch sind.

Von Wasserpflanzen erfuhren bei den alten Völkern besonders die Seerosen oder Lotos arten einen lebhaften Kultus, der sich auf die Vorstellung einer Schöpfung aus dem Wasser und auf die befruchtende Wirkung des Wassers für das Land bezog. Es kam dazu die sogen. Sympathie mit den großen Himmelsleuchten, sofern einzelne Seerosen des Morgens mit der Sonne aus der Flut emportauchen und des Abends mit ihr untersinken, andre mit einbrechender Nacht dem Mond ihren Kelch erschließen. Ägyptische und indische Tempelwände und Kultgeräte sind mit Lotosbildern bedeckt, die in direkte Beziehung zur Göttergeschichte treten, sofern Brahma dargestellt wird, wie er vor der Schöpfung auf einem schwimmenden Banyanen- oder Lotosblatte ruht, während aus seinem Nabel eine Lotosblume hervortritt, auf der Wischnu sitzt. In beiden alten Ländern wurden an den Tempeln heilige Teiche angelegt, in denen die Nymphäen gezogen wurden. In Indien war es vorzugsweise der tagblühende Sternlotos oder Padmas (Nymphaea stellata), in dessen Kelche man auch Joni und Lingam, die Symbole der Schöpfung, darstellte, während in Ägypten die nachtblühende Nymphaea Lotus als die Pflanze gefeiert wurde, die den Osiris verbarg, und auf deren Kelch er ruhend dargestellt ward. Irrtümlich ist dagegen die Angabe, daß die ägyptische Bohne (Nelumbium speciosum) der heilige Lotos der Ägypter und Inder sei. Diese jetzt aus den ägyptischen Gewässern verschwundene Pflanze, deren Blätter und Blüten frei aus dem Wasser hervorragen, wurde im alten Ägypten als Nahrungspflanze gebaut, findet sich aber niemals auf den ältern Tempelgemälden dargestellt, mit Ausnahme einiger späten Fälle aus der Ptolemäerzeit, in denen Harpokrates auf einer Nelumbium-Blüte oder Kapsel sitzend dargestellt wird. Mit dem Buddhismus hat sich die Verehrung der Seerosen auch weiter nach Ostasien ausgebreitet, und viele japanische Gottheiten werden als im Lotoskelche stehend oder sitzend dargestellt. Von niedern Gewächsen erfreut sich die Tulsipflanze (Ocimum sanctum) noch jetzt im Brahmanismus einer eigentümlichen Verehrung. Man vollzieht nämlich mit großem Pomp alljährlich eine Art Vermählungszeremonie, durch die ein Salagrama-Ammonit (vom Ghandakital am Fuße des Dhawalagiri) als Symbol der Muschelinkarnation Wischnus mit dieser Pflanze verbunden wird.

Im Kulte der alten Völker dienten gewisse Pflanzen zur Herstellung von Tränken, die wie ein Sakrament unter Zeremonien und Weihegesängen bereitet und genossen wurden, wie die Somapflanze der Inder und die Haomapflanze der Perser. Hier wird dann alsbald die Pflanze selbst zu einer Gottheit personifiziert, die sich für den Menschen opfert, zerschneiden und zerquetschen läßt, in seinem Körper wieder auflebt, und der daher begeisterte Hymnen gewidmet werden. In Indien ist es der Mondgott Soma, der allen Pflanzen Saft verleiht, sich aber in der Somapflanze besonders verkörpert. Ganz dasselbe sehen wir in Altmexiko, wo die Mescal- oder Pellotepflanze, eine Kaktee (Ariocarpus) und das Ololiuhqui, eine Ipomoea-Art, deren Samen man genoß, um Orakel oder Erscheinungen zu erhalten, gleichzeitig als Gottheiten verehrt wurden, denen man diese Eingebungen verdankte. Ganz ähnlich war der Gebrauch der Gräberpflanze (Datura sanguinea), deren Samen man im Sonnentempel von Sogamossa bei Bogota zu einem narkotischen Getränk (Tonga) verarbeitete, das angeblich den Trinker mit den Geistern der Verstorbenen und mit den Göttern in Verbindung brachte. In Alteuropa scheint man sich zu gleichen Zwecken einer Bilsenkrautart (wahrscheinlich Hyoscyamus albus) bedient zu haben, denn dieselbe heißt bei Plinius Apollokraut (Herba apollinaris) und wurde in den Keltenländern Belenium, nach dem Apollo Belenus dieser Länder, benannt. Später heißt sie Belinuncia, woraus Bilsenkraut entstand.

Auch die Ordal- oder Gottesgerichtsbäume, deren Holz, Blätter, Rinde, Früchte oder Samen das Material zu Getränken hergaben, welche die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten dadurch an den Tag bringen sollten, daß der Magen die eingeflößte Giftsubstanz wieder von sich gab, während der Schuldige sie behielt, wurden überall mit einem religiösen Nimbus umgeben, und die Priester selbst hatten diese Gifttränke zu bereiten. Stellen der Bibel deuten darauf hin, daß auch die Juden noch solche Giftordale, den Trank des »bittern Wassers«, gehabt haben, um Schuld oder Unschuld der Frauen an den Tag zu bringen, und auf ägyptischen Papyros ist der Strafe gedacht, die der heilige Perseabaum gewährt, den einige auf eine Blausäure liefernde Prunus-Art, andere auf Balanites deuten. Auf Madagaskar hat man noch im 19. Jahrh. mit Hilfe der Früchte eines solchen Gottesgerichtsbaumes (Tanghinia venenifera) Tausende der Hexerei verdächtige Personen ums Leben gebracht.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 74-75.
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