Römisches Recht

[104] Römisches Recht. In dem ältesten römischen Recht ist das Privatrecht mit dem öffentlichen auf das engste verbunden und steht mit diesem unter religiöser Weihe; die Priester sind nach der Überlieferung zugleich Kenner und Bewahrer des Rechts und Richter in Privatrechtsstreitigkeiten, deren Verhandlung mit Beobachtung religiöser Vorschriften mannigfach zusammenhängt. Die Rechtsbildung erfolgte auf dem Wege der Gewohnheit. Das erste umfassende Werk der Rechtsgesetzgebung waren die sogen. Zwölf Tafeln (t. d.). Im weitern Verlauf der zweiten Periode (bis zum Untergang der Republik) wurde das streng nationale, dem römischen Volk eigentümliche Recht (jus civile) teils durch Gesetze, teils durch Gewohnheitsrecht, das die Juristen an die zwölf Tafeln durch ihre Interpretation derselben anzuknüpfen suchten, fortgebildet. Daneben eröffnet sich in den Edikten der Magistrate, besonders der Prätoren, eine neue Rechtsquelle (jus honorarium), durch die das altherkömmliche starre Recht den Bedürfnissen der Zeit gemäß fortgebildet, aber auch neues Recht geschaffen wurde. Die Fortbildung des Rechts durch Auslegung der Gesetze und Fixierung des Gewohnheitsrechts fiel den Juristen zu. Hauptsächlich aber wurde eine neuen Bedürfnissen entsprechende und doch stetige Fortbildung des Rechts durch die Edikte der Prätoren erzielt (jus praetorium). In den Edikten wurden im Gegensatz zu den nationalen (jus Quiritium) die allgemeinen Rechtsideen (naturalis ratio, jus gentium) zur Anerkennung und formellen Geltung gebracht (vgl. Edikt).

In der dritten Periode, bis auf Konstantin d. Gr., erfuhr das Recht die bedeutungsvollste Fortbildung durch die Juristen. Weniger als heutzutage mit einem schwerfälligen gelehrten Apparat überladen, durch die Sitte, überall ihres Rates sich zu bedienen, in steler praktischer Tätigkeit erhalten und, da das Richteramt noch eine gemeine bürgerliche Pflicht, das Geschäft des eigentlichen Sachwalters aber den Anfängern überlassen war, von mechanischen Arbeiten frei, schufen die römischen Juristen eine Rechtswissenschaft, die als mustergültig angesehen werden konnte und den eigentlichen Wert des römischen Rechts für die Geschichte begründet hat. Sie haben es gleichmäßig verstanden, die Rechtssätze sowohl bis in die letzten Konsequenzen streng durchzuführen und gleichsam mit ihren »Begriffen zu rechnen«, als auch die kleinsten tatsächlichen Umstände bei der Behandlung eines Rechtsfalles zu berücksichtigen, den Anforderungen des praktischen Lebens gerecht zu werden und ihren Gedanken den schärfsten und passendsten Ausdruck zu geben. Wesentlich verstärkt wurde der Einfluß der Juristen dadurch, daß die ausgezeichnetsten unter ihnen das Recht erhielten, unter kaiserlicher Gewähr (ex auctoritate principis) Rechtsgutachten (responsa) zu erteilen, die, wenn sie übereinstimmten, von dem Richter befolgt werden mußten. Die Schriften der römischen Juristen waren sehr zahlreich und mannigfaltig; erhalten sind davon außer den Exzerpten, welche die Pandekten bilden, besonders die Institutionen des Gajus (s. d.) und Bruchstücke aus den Schriften Ulpians und Paulus'. Die namhaftesten Juristen waren, außer Labeo und Capito, den Stiftern der sogen. Schulen der Proculianer und Sabinianer, Sabinus, Julianus, Gajus, Ämilius Papinianus, Ulpianus, J. Paulus und Modestinus.

In der vierten Periode, bis zu Justinian (527–565 n. Chr.), ist das Übergewicht Roms und Italiens völlig verschwunden. Mit dem Untergang der römischen Volkstümlichkeit in dem weiten Weltreich erstarb auch[104] die Wissenschaft des Rechts. Ohne jede Prüfung folgte man blindlings der Autorität der Juristen der vorigen Periode. Das sogen. Zitiergesetz Kaiser Valentinians III. (426) erkennt geradezu den Grundsatz an, die juristischen Schriften wie Gesetze aufzufassen, und verweist den Richter bei abweichenden Ansichten unter den Juristen an die Mehrheit der Stimmen. Das Volk ist von jeder Beteiligung an der Bildung des Rechts wie von dessen Anwendung ausgeschlossen. Letztere liegt allein in den Händen der kaiserlichen Beamten, und die kaiserlichen Konstitutionen bilden die einzige Rechtsquelle. Durch Justinian endlich ward das geltende Recht kodifiziert. Er ließ 529–534 eine Sammlung der noch gültigen Konstitutionen (Codex), eine Zusammenstellung von Exzerpten aus den bedeutendsten juristischen Schriften (Digesta, Pandectae) sowie ein kurzes Lehrbuch des Rechts (Institutiones) nach dem Muster desjenigen des Gajus bearbeiten und versah das Ganze mit Gesetzeskraft, indem er zugleich alle in diese Arbeiten nicht aufgenommenen ältern Bestimmungen außer Kraft setzte. Diese drei Arbeiten bilden mit den spätern Gesetzen Justinians (Novellae) das »Corpus juris civilis«, in welcher Gestalt das römische Recht auf die Gegenwart gekommen ist. Das Gesetzeswerk Justinians umfaßt das ganze Rechtsgebiet, das Staats-, Kirchen-, Straf- und Prozeßrecht sowie das Privatrecht. Dasselbe ist jedoch weniger ein Gesetzbuch nach dem Begriff der Neuzeit als eine Sammlung von Materialien für ein solches oder für ein Lehrbuch des Rechts (s. Corpus juris). Mit Justinians Gesetzsammlung ist das römische Recht als Recht des ganzen Reiches abgeschlossen.

In den germanischen Staaten, die auf den Trümmern des weströmischen Reiches sich erhoben, blieb das römische Recht für die eingebornen Provinzialen fortwährend in Geltung. Gewissermaßen eine Neubelebung erfuhr das römische Recht, als es seit dem 12. Jahrh., nachdem man vollständige Handschriften des »Corpus juris« wieder aufgefunden, auf der Rechtsschule in Bologna von Irnerius und seinen Schülern, den sogen. Glossatoren, zum Gegenstand ihrer Vorlesungen gemacht wurde (s. Glosse). Die Glossatoren beschränkten sich zwar auf eine fortlaufende Erklärung (Glosse) des Textes des »Corpus juris«; allein ihre Tätigkeit ermöglichte es erst, über den ausgedehnten Stoff Übersicht und Herrschaft zu gewinnen, und ihre Erklärungen, die Accursius in der sogen. »Glossa ordinaria« Mitte des 13. Jahrh. zusammenstellte, sind noch jetzt von wissenschaftlichem und praktischem Wert.

Als das wissenschaftlich ausgebildete Recht eines hochgebildeten Volkes kam das römische Recht den Anforderungen entgegen, die von der gestiegenen Kultur, dem entwickeltern Verkehr und von der neuerwachten wissenschaftlichen Regung an das Recht gestellt wurden, von den national-germanischen Rechten aber, unausgebildet wie sie waren, nicht befriedigt werden konnten. Aus allen gesitteten Ländern Europas strömlen daher zahlreiche Schüler zu den berühmten italienischen Rechtslehrern und brachten die dort erlangte Rechtskenntnis zurück in ihre Heimat. So kam es, daß an der Bearbeitung des römischen Rechts außer England und Skandinavien, wo es am wenigsten Fuß faßte, alle europäischen Kulturvölker der Reihe nach einen hervorragenden Anteil genommen haben. Die Erklärung, Vertiefung und Erforschung des römischen Rechts knüpft sich insonderheit an die Namen folgender Rechtsgelehrten: Bartolus (gest. 1357, Hauptrepräsentant der sogen. Postglossatoren), Baldus (gest. 1400), Cujacius (gest. 1590), Donellus (gest. 1591), Hugo Grotius (gest. 1645), Suarez (gest. 1798), Heineccius (gest. 1741); im 19. Jahrh.: Glück, Mühlenbruch, Thibaut, Savigny, Puchta, Sintenis, Wächter, Windscheid, Bekker u.a. (s. die betreffenden Artikel).

In Deutschland hat das römische Recht nicht allein als Vernunftrecht, sondern auch als positives, unmittelbar anwendbares Recht Geltung erlangt. Die Rezeption des römischen Rechts in dieser Ausdehnung ward begünstigt teils durch den Zustand des einheimischen Rechts, das, unzureichend und bei den verschiedenen Stämmen, ja von Stadt zu Stadt verschieden, der Organe zu einer einheitlichen und den Bedürfnissen genügenden Fortbildung entbehrte, teils dadurch, daß die deutschen Kaiser als Nachfolger der römischen Cäsaren, die Gesetze der letztern mithin gewissermaßen als einheimische galten, und daß jene die Geltung des ihnen vielfach günstigen römischen Rechts zu befördern bemüht waren. Vgl. C. A. Schmidt, Die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland (Rostock 1868); W. Modderman, De receptie van het romeinsche regt (Groning. 1874; deutsch von K. Schulz, Jena 1875). Während der Sachsenspiegel (um 1230) vom Einfluß des römischen Rechts noch frei ist, zeigt der Schwabenspiegel (um 1275) schon Spuren desselben und verrät die steigende Autorität der römischen »Meister«. Von nachhaltiger Wirkung war die »populäre« Literatur des römisch-kanonischen Rechts. Im 15. Jahrh. wurde das römische Recht von den rechtsgelehrten Doktoren in den höhern Gerichten, in denen sie Platz fanden, trotz des Widerstrebens der Schöffen zur Geltung gebracht. Aber erst im 16. und 17. Jahrh., als auch die Untergerichte überall mit Rechtsgelehrten besetzt waren, war die Rezeption vollendet.

Die Anwendung des römischen Rechts auf einheimische Rechtsverhältnisse, die auf ganz andrer sittlicher Auffassung, auf andern Gewohnheiten und wirtschaftlichen Bedingungen beruhen, rief viele und oft nur zu begründete Klagen und teilweise heftigen und zähen Widerstand hervor. Es hat denn auch das römische Recht weder das einheimische deutsche ganz zu verdrängen, noch sich selbst von dem Einfluß des letztern frei zu erhalten vermocht. Einmal ist es nur als subsidiäres Recht rezipiert worden, d.h. nur insoweit, als es an partikularrechtlichen Bestimmungen fehlt, ferner nur insoweit, als es in dem »Corpus juris civilis« enthalten und soweit dieses von den Glossatoren glossiert ist. Sodann sind nicht anwendbar gewesen diejenigen Bestimmungen, die sich auf das Staatsrecht oder auf solche Einrichtungen beziehen, die in Deutschland nicht vorhanden sind, oder die dem hier geltenden öffentlichen Recht widerstreiten. Endlich wurde es teils durch Satzungen der Kirche, teils durch Gesetze des alten Deutschen Reiches und durch deutsches Gewohnheitsrecht, teils (seit 1871) durch neue Reichsgesetze im einzelnen vielfach abgeändert, bis es endlich durch das Bürgerliche Gesetzbuch völlig ersetzt wurde.

Seit der Mitte des 18. Jahrh. machte sich eine Gegenströmung gegen das römische Recht bemerkbar. Aus derselben sind das schon seit dem Regierungsantritt Friedrichs II. ins Auge gefaßte allgemeine preußische Landrecht von 1794, welches das römische Recht als subsidiäres gemeines Recht beseitigte, und das schon von Maria Theresia beabsichtigte österreichische Gesetzbuch von 1811 hervorgegangen, das gleichfalls die Beseitigung des gemeinen römischen Rechts verfügte. Durch § 7 des letztern wird normiert, daß Rechtsfragen, die weder im allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch[105] beantwortet werden, noch mit Hilfe der Gesetzes- und Rechtsanalogie entschieden werden können, unter Anwendung der natürlichen Rechtsgrundsätze zu lösen sind. Infolge der französischen Revolution ward das römische Recht am linken Rheinufer und in Baden vom französischen Recht, resp. von einer Nachbildung desselben verdrängt. 1815 mahnte Thibaut eindringlich an eine allgemeine deutsche Gesetzgebung, und obwohl Savignys Ansicht, welcher der Gegenwart den Beruf dazu absprach, zunächst die Oberhand behielt, fuhr man doch fort, neue Strafgesetzbücher und neue Straf- und Zivilprozeßordnungen zu erlassen, die das römische Recht wenigstens auf diesem Gebiete mehr und mehr verdrängten. 1863 trat in Sachsen ein neues bürgerliches Gesetzbuch in Kraft, welches das römische Privatrecht vollständig beseitigte. In umfassendster Weise ist endlich die Gesetzgebung des neuen Deutschen Reiches besonders durch die Schaffung des »Bürgerlichen Gesetzbuches« vom 18. Aug. 1896 dem Streben nach nationaler Rechtseinteilung und Loslösung vom römischen Recht entgegengekommen (s. Bürgerliches Gesetzbuch). Seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzbuches (1. Jan. 1900) hat das römische Recht zwar keine praktische Bedeutung mehr, als juristisches Bildungsmittel aber wird es bei allen Kulturvölkern und zu allen Zeiten eine hervorragende Stelle einnehmen. Vgl. außer der bei »Corpus juris«, »Institutionen« u. Artikel »Römisches Reich«, S. 108, angegebenen Literatur noch: Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung (s. Ihering); Savigny, System des heutigen römischen Rechts (Berl. 1840–49, 8 Bde.); die Darstellungen der Geschichte des römischen Rechts von Rudorff (Leipz. 1857–59, 2 Bde.), Padeletti (deutsch von F. v. Holtzendorff, Berl. 1879), Karlowa (Leipz. 1885–92, 2 Bde.), M. Voigt (Leipz. u. Stuttg. 1891–99, 2 Bde.); Krüger, Geschichte der Quellen und Literatur des römischen Rechts (Leipz. 1888); Heumann, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts (9. Aufl. von Seckel, Jena 1906); Halban, Das römische Recht in den germanischen Volksstaaten (Bresl. 1899–1901, 2 Tle.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 104-106.
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