Tolstój

[598] Tolstój, 1) Peter Andrejewitsch, Graf, russ. Diplomat, geb. 1645, gest. 17. Febr. 1729 in Solowezk, studierte das Seewesen 1698 in Italien, war[598] längere Zeit Gesandter in der Türkei, setzte 1717 die Auslieferung des auf österreichisches Gebiet geflüchteten Zarewitsch Alexei durch und nahm während der Regierung Katharinas I. die erste Stelle neben Menschikow ein, dessen Opfer er wurde; 1727 geheimer Umtriebe angeklagt, wurde er in den äußersten Norden des europäischen Rußland verbannt.

2) Peter Alexandrowitsch, Graf, russ. Feldherr, geb. 1769, gest. 1844 in Moskau, focht unter Suworow gegen die Türken und Polen, befehligte 1805 das russische Landungskorps in Norddeutschland, führte 1813 ein Korps in Bennigsens Armee, nahm an der Belagerung von Dresden teil und erzwang dann Hamburgs Übergabe. Zum General der Infanterie ernannt, erhielt er nach Nikolaus' Thronbesteigung die Leitung der Militärkolonien und 1831 den Oberbefehl über das Reserveheer, mit dem er die Polen schlug. Er war zuletzt Präsident des Departements für die Militärangelegenheiten im Reichsrat.

3) Alexej Konstantinowitsch, Graf, einer der bedeutendsten russ. Dichter und Schriftsteller der Neuzeit, geb. 5. Sept. (24. Aug.) 1818 in St. Petersburg, gest. 10. Okt. (28. Sept.) 1875 auf seinem Gute Krasnyj Rog im Gouv. Tschernigow, verbrachte seine Jugend meist in Kleinrußland, lernte jedoch schon als Kind in Gesellschaft mit seinem Oheim A. Perowskij auf Reisen im Ausland Welt und Menschen kennen und hatte sich unter anderm auch des Wohlgefallens Goethes zu erfreuen. Nach Beendigung seiner Universitätsstudien in Moskau übernahm er einen kleinen Posten bei einer russischen Gesandtschaft in Deutschland, gab diesen aber schon nach kurzer Zeit wieder auf, bereiste Deutschland, Frankreich und Italien und begann nach seiner Rückkehr seine literarische Tätigkeit. Seine ersten Versuche bestanden in lyrischen Gedichten, die durch ihr tiefes Gefühl, die Frische und Schönheit der Naturschilderungen und die innige Liebe zum Volk große Beachtung fanden. Während des Krimkriegs 1853–56 trat T. in das aktive Heer, zog sich aber sofort nach Beendigung des Feldzugs wieder ins Privatleben zurück, um auf seinen Gütern in der Nähe von St. Petersburg und im Gouv. Tschernigow ganz der Dichtung zu leben. Neben vielen lyrischen Gedichten (in Auswahl mit denen Nekrassows deutsch von Jessen, Petersb. 1881, von Fiedler in Reclams Universal-Bibliothek), von denen manche in glücklichster Weise den Ton des Volksliedes treffen, müssen in erster Reihe genannt werden die epischen Erzählungen: »Die Sünderin« (1858) und »Der Drache« (1875); der vortreffliche historische Roman »Fürst Serebrjanyj« (1861; deutsch, Berl. 1882), das Drama »Don Juan«, eine interessante, durchaus originale Variation des bekannten Stoffes, und als sein Hauptwerk die dramatische Trilogie: »Der Tod Iwans des Schrecklichen« (1866), »Zar Fjodor Joannowitsch« (1868) und »Zar Boris« (1870, Gesamtausgabe 1876). Eine vollständige Sammlung seiner lyrischen und epischen Dichtungen erschien 1878 u. ö., seine »Gesammelten Werke« Petersburg 1885–87 (4 Bde.), zuletzt 1899.

4) Dimitri Andrejewitsch, Graf, russ. Staatsmann, geb. 1823, gest. 7. Mai 1889 in St. Petersburg, ward beim Marineministerium angestellt, 1865 Oberprokurator des Heiligen Synod und 1866 Minister der Volksaufklärung. Ein fanatischer Vorkämpfer des orthodoxen Russentums, bekehrte er gewaltsam die Griechisch-Unierten zur russischen Staatskirche, ordnete die Katholiken Rußlands dem römisch-katholischen Kollegium in Petersburg unter und russifizierte die polnischen Schulen. Als Vertreter des Klassizismus machte er sich durch seine Feindschaft gegen die Volksschule und seine kleinliche Bevormundung der Universitäten verhaßt und wurde daher 1880 unter Loris-Melikow entlassen. Auf Betrieb Katkows ernannte ihn Kaiser Alexander 1882 zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und 1883 zum Minister des Innern. Er schrieb eine Geschichte der Finanzen Rußlands bis auf Katharina II. (1847) und »Le catholicisme romainen Russie« (Par. 1863–1864, 2 Bde.; russ., 1877).

5) Lew Nikolajewitsch, Graf, berühmter russ. Schriftsteller, geb. 9. Sept. (28. Aug.) 1828 im Gouv. Tula auf seines Vaters Besitzung Jasnaja Poljana, erhielt daselbst eine gute häusliche Erziehung und bezog 1843 die Universität Kasan, wo er ein Jahr orientalische Sprachen und zwei Jahre die Rechte studierte. 1848 machte er in Petersburg das juristische Kandidatenexamen und begab sich dann wieder nach Jasnaja Poljana in die Einsamkeit und Stille des Dorfs zurück. Bei einer Reise in den Kaukasus (1851) fand er am militärischen Leben Gefallen und trat in das Heer ein. Man nahm ihn als Junker in die 4. Batterie der 20. Artilleriebrigade am Terek auf, wo er bis zum Beginn des türkischen Krieges blieb. Während des Krieges befand er sich bei der Donauarmee des Fürsten Gortschakow, beteiligte sich am Gefecht an der Tschernaja (16. [4.] Aug. 1855) und war beim Sturm auf Sebastopol 8. Sept. (27. Aug.). Nach Beendigung des Krieges nahm er seinen Abschied, hielt sich mehrere Jahre abwechselnd in St. Petersburg und Moskau auf, reiste zweimal ins Ausland und zog sich endlich 1861 wieder auf sein väterliches Gut Jasnaja Poljana zurück, wo er, nachdem er 1862 Sophie Behr, die Tochter eines Moskauer Arztes, geheiratet, in größter Zurückgezogenheit und Einfachheit lebte. Durch seine beiden großartigen Romane: »Krieg und Frieden« (1865–69, 4 Bde.; deutsch von Strenge, 2. Aufl., Berl. 1888; von Roskoschny, das. 1891; ferner von L. A. Hauff, das. 1893, 2. Aufl. 1905, und in Reclams Universal-Bibliothek; franz., Par. 1879) und »Anna Karenin« (1874–76, 3 Bde.; deutsch von Graff, Berl. 1890; von Hauff, das. 1892; von Helene Mordaunt, das. 1896; auch in Reclams Universal-Bibliothek; franz., Par. 1885), von denen der erstere die Zeit der Napoleonischen Kriege behandelt, der andre in der russischen Gegenwart spielt, hat sich T. einen Ehrenplatz in der modernen russischen Literatur erworben. Er ist ein vortrefflicher Erzähler, der die echte epische Ruhe besitzt und die Sprache meisterhaft handhabt. Schon vor Abfassung des erstern der beiden genannten Romane schrieb er eine Reihe bedeutsamer Erzählungen und Novellen, und zwar: »Kindheit« (1852), mit den Fortsetzungen »Knabenzeit« (1854) und »Jünglingsjahre« (1855–57); ferner 1852: »Der Morgen des Gutsbesitzers«, »Die Kosaken« und »Der Überfall«; sodann während des Krimkriegs die Trilogie »Sewastopol im Dezember 1854, im Mai 1855, im August 1855« und »Der Holzschlag« (1855); 1856: »Aufzeichnungen eines Marqueurs«, »Zwei Husaren«, »Der Schneesturm« und »Die Begegnung im Detachement«; 1857: »Luzern« und »Albert«; 1859: »Drei Todesarten«, »Das Familienglück«; 1860: »Polikuschka«; 1861: »Der Leinwandmesser«. Bis zum Beginn der Abfassung des Romans »Krieg und Frieden« 1864 und dann wiederum nach dessen Vollendung beschäftigte sich T. vorzugsweise mit Volkspädagogik; er errichtete auf seinem Gut eine »freie Schule«, veröffentlichte in seiner Zeitschrift »Jasnaja Poljana« zahlreiche[599] volkserzieherische Abhandlungen (»Über Volksbildung« etc.), die zum Teil eine lebhafte Polemik hervorriefen, und schrieb unter anderm ein Lesebuch in 4 Teilen (1870), das 1904 bereits die 23. und 26. Auflage erlebte. In die Jahre 1873–76 fällt die Abfassung seines zweiten Hauptwerks: »Anna Karenin«, worauf er, von dichterischen Arbeiten sich mehr abwendend, theologische Studien trieb und sich an die Übersetzung und Auslegung der Evangelien machte (vollständig nur als Manuskript; daraus: »Kurze Auslegung des Evangeliums«, Genf 1890; »Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien«, das. 1892 bis 1894, 3 Tle.; ferner Lond. 1892–94, 2 Tle.). In den 1880er Jahren schrieb er dann außer einer Anzahl für das Volk bestimmter kleinerer, tief humaner, von christlichem Geist getragener Erzählungen (fast sämtlich deutsch von W. Goldschmidt in »Volkserzählungen des Grafen Leo T.« in Reclams Universal-Bibliothek) verschiedene theologische, moralphilosophische und soziologische Abhandlungen: »Meine Beichte« (in Rußland nur als Manuskript zirkulierend; Lond. o. J., Genf 1889); »Worin besteht mein Glaube?« (in Rußland nur als Manuskript zirkulierend; Genf [2. Aufl.] 1892; Lond. 1892); »Worin besteht das Glück« (1882), »Was sollen wir also tun?« (1884–1885) etc. sowie die psychologisch meisterhafte Novelle »Der Tod Iwan Iljitschs« (1885) und das auch auf deutschen Bühnen mehrfach ausgeführte dramatische Sittengemälde »Die Macht der Finsternis« (1887). Bedürfnislosigkeit und Nächstenliebe vom Menschen fordernd, betätigt T. seine Lehren dadurch, daß er, unter Bauern lebend, selber wie ein Bauer arbeitet und jeden nach Kräften mit Rat und Tat unterstützt. Von neuern Werken nennen wir: die Novelle »Die Kreuzersonate« (mit Epilog, 1890 u. ö.), auf die als eine Entgegnung sein Sohn Lew Lwowitsch »Ein Präludium Chopins« veröffentlichte (Stuttg. 1898, Berl. 1899), das satirische Lustspiel »Früchte der Bildung« (letzte Ausg., Berl. 1896), die Erzählung »Herr und Arbeiter« (1895), »Politik und Religion« (Berl. 1894), »Das Himmelreich« (das. 1894, 2 Bde.), »Christentum und Patriotismus« (Genf 1895, Berl. 1896), »Briefe an einen Polen« (das. 1896), »Patriotismus oder Friede« (das. 1896), »Was ist die Kunst?« (1897, und die Fortsetzung »Über die Kunst«) und endlich den Roman »Auferstehung« (1897), der den Heiligen Synod veranlaßte, T. 21. (6.) März 1901 aus der griechisch-orthodoxen Kirche zu exkommunizieren. Von Tolstojs »Antwort an den Synod« wurde die deutsche Übersetzung (Anhang zu Tolstojs Broschüre »Der Sinn des Lebens«) im Oktober 1901 in Leipzig beschlagnahmt. Von seinen neuesten Schriften seien genannt: »Besinnet Euch! (Tut Buße.) Ein Wort zum russisch-japanischen Krieg« (deutsch von Löwenfeld, Jena 1904), »Shakespeare. Eine kritische Studie« (deutsch von M. Enckhausen, Hannov. 1906), worin er die Größe und Bedeutung Shakespeares zu erschüttern sucht, und »Die Bedeutung der russischen Revolution« (deutsch von A. Heß, Oldenb. 1907), in der er seinen Ansichten über die jüngsten Ereignisse in seinem Vaterland Ausdruck verleiht. Von den Gesamtausgaben von Tolstojs Werken ist die vollständigste 1889–1900 in Moskau in 16 Bänden erschienen. Eine neue Ausgabe, die auch die von der russischen Zensur verbotenen Schriften enthält, erscheint seit 1901 in Christchurch (England, bis jetzt Bd. 1–2, 6–10). Übersetzt worden sind die einzelnen Schriften Tolstojs in alle Kultursprachen, außerdem sogar ins Chinesische; seine »Gesammelten Werke« wurden in deutscher Übersetzung herausgegeben von R. Löwenfeld (Berl. 1891, Jena 1907) und von H. Roskoschny (Tolstojs »Gesammelte Schriften«, das. 1891 ff.). Ungemein zahlreich sind die Schriften über T. und seine Werke, sowohl die von Russen (Strachow, Drushinin, A. Grigorjew, D. Pissarew, Gromeka, Obolenskij, Bulgakow, Skabitschewskij, Mereschkowskij [deutsch, Leipz. 1903], Sergejenko [deutsch, Berl. 1900] etc.) als auch die von Nichtrussen: de VogüéLe roman russe«, Par. 1886), Lion, Badin, Dupuis, Ralston, G. Dumas, Laart de la Faille, Steiner (Lond. 1904); von Deutschen: J. Schmidt, W. Henckel, Löwenfeld (Berl. 1892), Glogau (Kiel 1893), Anna Seuron (Berl. 1895), Ettlinger (das. 1899), E. Zabel (Leipz. 1901), E. H. Schmitt (das. 1901), Esther Axelrod (Stuttg. 1901), J. Hart (Berl. 1904) u. a. Vgl. seine »Biographie und Memoiren«, herausgegeben von P. Birukow, durchgesehen von L. Tolstoj (Bd. 1: Kindheit und frühes Mannesalter, Wien 1906). Sein Bildnis s. Tafel »Klassiker der Weltliteratur IV« (Bd. 12).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 598-600.
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