Fabrik- u. Gewerbegerichte

[59] Fabrik- u. Gewerbegerichte, die besonderen Gerichtshöfe, welche aus Sachverständigen zusammengesetzt u. dazu bestimmt sind, die Streitigkeiten zu schlichten, welche sich auf die Fabrikindustrie u. gewerblichen Verhältnisse beziehen. Die Idee solcher Gerichte findet sich vielfach schon im Mittelalter bei der Bildung der Zünfte u. Gilden verwirklicht. Fast alle bedeutenderen Zünfte strebten darnach, der Corporation eine mehr od. minder ausgedehnte Gerichtsbarkeit über die Mitglieder zu verschaffen, so daß Streitigkeiten der Meister u. Gesellen vor der offenen Zunftlade von den Mitgliedern des Gewerkes entschieden, auch wohl Fehler gegen Zucht u. Sitte, Unregelmäßigkeiten im Betriebe des Gewerkes u. dergl. gerügt u. bestraft wurden. Mit dem Verfall der Zünfte seit dem 17. Jahrh. artete jedoch auch diese Gerichtsbarkeit allmählig aus. Mißbräuche, welche dabei sich einschlichen, bes. in den auferlegten Bußen, wurden Veranlassung, daß selbst Reichsgesetze dagegen erlassen wurden, u. einzelne Territorialverordnungen beschränkten die früheren Rechte noch mehr. Zunft- u. Gewerbeirrungen, in[59] so fern sie einen wahren Rechtsstreit enthielten, gehörten seitdem regelmäßig vor die gewöhnlichen Gerichte; die Zunftgerichtsbarkeit selbst sank zu einer blos disciplinaren Aufsicht über die Gesellen u. Lehrlinge u. etwa zu der Befugniß, auf Wege des Vergleiches Irrungen beizulegen, herab; wo aber, wie z.B. in Frankreich u. Preußen, die Zunftverfassung gänzlich aufgehoben u. mit dem Grundsatze der Gewerbefreiheit vertauscht wurde, verschwand sie gänzlich.

Die Fabrikgerichte neuerer Zeit rief zuerst in Frankreich ein Gesetz vom 18. März 1806 ins Leben. Man hat jedoch in Frankreich immer diese Gerichte blos auf die eigentliche Fabrikindustrie beschränkt, während man in andern Staaten sie auch auf die Gewerbe überhaupt ausgedehnt hat. Die Mitglieder des F-s werden durch die Wahl der Genossen bestimmt. Wenn verschiedene Industriezweige demselben F. unterworfen werden, so vereinigen sich die Genossen jedes einzelnen Industriezweiges für sich u. wählen ihre Richter allein. Das Gericht theilt sich in ein Friedensgericht (Bureau de conciliation) u. den Gerichtshof (Bureau de justement). Als Sachen, welche vor die Entscheidung der F. gehören, werden nur solche betrachtet, welche sich in dem Verhältnisse von Arbeitgebern u. Arbeitnehmern befinden; z.B. Processe über Nichterfüllung von Contracten rücksichtlich der Arbeit, Zeit, des Preises; über Beschädigung od. Veruntreuung des Stoffes; über unrechtmäßige Verabschiedung, Verlassen der Arbeit, über das Maß der Beschäftigung des Arbeiters etc. Neben diesen gerichtlichen Geschäften sind den F-n aber auch durch spätere Gesetze u. durch den Gebrauch mancherlei Functionen mehr administrativer Natur beigelegt worden. Es ist ihre Aufgabe, in dieser Beziehung über die Sicherungsmittel für das Eigenthum der auf die verschiedenen Producte der Fabrikation eingeprägten Zeichen zu wachen, die Quittungsbücher u. die Abrechnungen zwischen Fabrikanten u. Werkführern, ebenso die Werkstätten zu beaufsichtigen, statistische Notizen über die Zahl der Arbeiter u. Werkstätten, über die Verbesserungen, deren die Fabrikation fähig ist, über die Mittel, sie zu heilen, kurz über Alles zu sammeln, was die öffentliche Ordnung u. die Industrie interessirt. Bei vorkommenden gesetzwidrigen Handlungen haben sie zur Constatirung derselben mitzuwirken, daher den Thatbestand von allen das Fabrikwesen angehenden Übertretungen festzustellen u. die deshalb aufgenommenen Protokolle den betreffenden Tribunalen zu übersenden. Eine eigene Strafgerichtsbarkeit ist ihnen dagegen nur in beschränktem Maße beigelegt. Ihre Befugniß geht in dieser Hinsicht nur so weit, daß sie Vergehen, welche die Ruhe u. Ordnung der Werkstätte stören, mit einer Gefängnißstrafe bis zu 3 Tagen od. einer Geldstrafe von 15 Franken bestrafen können. Das von dem Schriftführer unterzeichnete Urtheil des Gerichtes muß von jedem Beamten der Polizei od. der öffentlichen Macht vollstreckt werden. Bei Civilsachen, welche vor die F. kommen, hat der Verletzte seine Klage mündlich anzubringen, worauf die Vorladung. des Beklagten erfolgt. Vertretung der Parteien wird nur bei Abwesenden u. Kranken gestattet, Advocaten sind ganz ausgeschlossen. Die Verhandlung selbst ist öffentlich u. mündlich. Sie wird zuerst vor dem Bureau de conciliation geführt, um eine Versöhnung u. gütliche Beilegung zu bewirken; ist dies nicht gelungen, so kommt die Sache zur richterlichen Entscheidung vor das Bureau général. Zur Erforschung der Wahrheit der Parteibehauptungen stehen dem Schiedsgericht die gewöhnlichen Beweismittel des Civilprocesses offen. Das Urtheil wird mit der Unterschrift des Obmannes u. des Schriftführers versehen u. muß der unterliegenden Partei binnen 24 Stunden zugefertigt werden. Gegen dasselbe finden 2 Rechtsmittel statt, das der Appellation u. der Opposition. Die Appellation geht an das Landesgericht des Bezirkes, wenn ein solches nicht vorhanden ist, an das Civilgericht erster Instanz. Sie findet aber nur bei Streitigkeiten über 100 Fr. Werth Statt u. muß binnen 3 Monaten eingelegt sein. Die Opposition heißt das Rechtsmittel, womit die Aufhebung eines Contumacialerkenntnisses nachgesucht wird. Sie muß binnen 3 Tagen eingelegt werden. Es wird dann ein anderer Termin, u. zwar von dem Schiedsgerichte selbst, angesetzt. Läßt sich die opponirende Partei aber zum zweiten Male contumaciren, so findet eine weitere Opposition nicht Statt. Nur die Opposition hat Suspensiveffect, nicht die Appellation. Übersteigt aber die Sache den Werth von 200 Fr., so muß dann von dem siegenden Theile Caution gegeben werden. Die Einrichtung der F., wie sie in Frankreich besteht, ist auch in Belgien u. andern Ländern, wo die französische Gesetzgebung Eingang gefunden hat, nachgeahmt worden.

Ähnlich eingerichtet sind die durch Verordnung vom 9. Febr. 1849 in Preußen eingeführten Gewerbegerichte. Das Gewerbegericht theilt sich in einen Vergleichsausschuß von 2 Mitgliedern u. das eigentliche Gericht, welches die Sache endlich entscheidet. Die Bildung des Gewerbegerichtes erfolgt durch die Wahl der Genossen. Die Mitglieder des Gewerbegerichtes müssen aber zu einem Theile aus der Klasse der selbständigen Handwerker, der Fabrikinhaber, Factoren, Ausgeber od. Verleger u. zum andern Theil aus der Klasse der Gehülfen, Werkführer u. Fabrikarbeiter gewählt werden. Ihre Zahl ist nach dem Bedürfnisse 5, 9, 13 od. 17. Die Wahl erfolgt auf 4 Jahre. Der Vorsitzende wird von den Mitgliedern aus der Zahl der Arbeitgeber auf 2 Jahre gewählt. Außerdem wählt noch das Gewerbegericht einen Gerichtsschreiber, welcher die Actuariatsprüfung bestanden haben muß, u. einen Gerichtsboten, der. zugleich die Geschäfte des Executors versieht. Gerichtsschreiber u. Gerichtsbote unterliegen der Bestätigung der Regierung, von welcher auch die Besoldung. für beide festgesetzt wird, während die Gerichtsmitglieder ihr Amt unentgeltlich verwalten. Besoldungen u. Kosten für die laufende Geschäftsführung werden aus den eingehenden Gebühren u. Strafgeldern, so weit diese aber nicht ausreichen sollten, durch Beiträge der Gewerbetreibenden des Gerichtsbezirkes gedeckt. Die Beschaffung u. Unterhaltung der nöthigen Geschäftsräume liegt den Gemeinden ob, für welche das Gewerbegericht errichtet wird. Das Verfahren ist mündlich u. öffentlich. Als Rechtsmittel tritt an Stelle der französischen Opposition das der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, welches aber ebenfalls binnen drei Tagen einzulegen ist u. mit bei Contumacialerkenntnissen Statt hat. Außerdem kann der Recurs od. die Appellation an das Handelsgericht, od. sofern[60] keines besteht, an das Kreis- od. Stadtgericht ergriffen werden.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 6. Altenburg 1858, S. 59-61.
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