Civilproceß

[175] Civilproceß (Processus civilis), 1) der einzelne bürgerliche Rechtsstreit selbst; 2) der Inbegriff derjenigen Rechtsnormen, welche sich auf die Verhandlung streitiger bürgerlicher Rechtssachen beziehen. A) Der C. theilt sich für Deutschland in dieser Beziehung in a) den gemeinen deutschen C. (auch Reichsproceß genannt), welcher überall in Deutschland gilt, wenn nicht die Particularrechte etwas Anderes bestimmt haben; u. b) den besondern od. particularen C., welcher nur in den einzelnen Ländern od. selbst nur bei einzelnen Gerichten gilt. Die Quellen des ersteren beruhen weniger auf dem Römischen, als auf dem Canonischen Rechte u. dem daran sich angeschlossen habenden gemeinen Gerichtsgebrauch, so wie einzelnen deutschen Reichgesetzen, unter denen die Reichskammergerichtsordnungen von 1495, 1548 u. 1555, so wie das Concept der Kammergerichtsordnung von 1603, welches aber nicht zur gesetzlichen Bestätigung gelangte, außerdem der Deputationsabschied von 1600 u. der sogenannte jüngste Reichsabschied vom Jahr 1654 die bedeutendsten sind; die Quellen des particularen C-s enthalten die Gerichts- u. Proceßordnungen der einzelnen Länder. B) Die wesentlichsten Grundsätze, von denen der gemeine deutsche C. ausgeht sind: a) das Verbot der Selbsthülfe, nach welchem jede Geltendmachung eines Rechtsanspruches nur mittelst Anrufung des bestellten Richters u. nach vorgängiger Erörterung der Rechtmäßigkeit des Anspruches erfolgen kann; b) der Grundsatz der schriftlichen Verhandlung,[175] wonach nicht nur das Urtheil, sondern auch alle Vorträge der Parteien u. die Beschlüsse u. Verfügungen des Gerichtes bei Strafe der Nichtigkeit schriftlich aufzuzeichnen sind; c) die sogenannte Verhandlungs maxime, d.h. der Grundsatz, daß der Richter nicht von Amtswegen einschreitet, sondern sowohl bei der Erhebung der Klage, als auch bei den weiteren Erörterungen von den Anträgen der Parteien abhängig ist. Der Richter hat daher Nichts zu berücksichtigen, was nicht die Parteien zu den Acten gebracht haben, selbst wenn er als Privatmann die Sache besser wüßte (quod non est in actis, id non est in mundo); d) die Eventualmaxime, nach welcher eine Partei, wenn ihr zur Verfolgung od. Vertheidigung eines Rechtsanspruches zustehen, z.B. mehrere Einreden gegen eine Klage, alsdann diese verschiedenen Angriffs- od. Vertheidigungsmittel auf einmal anzuwenden hat, wenn sie mit denselben nicht ausgeschlossen werden will; e) der Grundsatz des gegenseitigen rechtlichen Gehörs (audiatur et altera pars). Alle diese Grundsätze sind jedoch keineswegs ausnahmslos; solche Ausnahmen finden bei den sogen. summarischen od. außerordentlichen Proceßarten statt. C) Der C. zerfällt nämlich nach der Art der Verhandlung: a) in den ordentlichen, feierlichen (Proc. ordinarius, solemnis) u. b) den außerordentlichen od. summarischen (Proc. summarius, extraordinarius, minus solemnis); jener ist das Verfahren, welches der Regel nach in allen Rechtsstreitigkeiten stattfindet; letzterer tritt unter verschiedenen Formen ein, wenn die Sache entweder wegen des geringen Werthes, od. der Gefahr im Verzug, od. der Liquidität des Anspruches eine abgekürzte od. schleunige Behandlungsweise empfiehlt. Vgl. Summarischer Proceß. D) Nothwendig gehören zu jedem C. zwei Parteien, ein Kläger (Actor), welcher gegen einen Anderen angriffsweise auftritt, u. ein Beklagter (Reus), welcher sich gegen diesen Angriff zu vertheidigen hat; außerdem der Richter, welcher nach erörterter Sache über die Rechtmäßigkeit od. Unrechtmäßigkeit des Anspruches entscheidet u. danach die Hülfsvollstreckung entweder gewährt od. abschlägt. Die drei genannten Personen heißen deshalb die Hauptpersonen des C-s, alle anderen, welche sowohl auf Seite der Parteien als des Gerichtes noch unterstützend od. in einzelnen Fällen noch nothwendig hinzutreten, wie z.B. Advocaten, Procuratoren, Gerichtsdiener, Schöppen etc. werden als Nebenpersonen bezeichnet. Die einzelnen Proceßhandlungen gehen entweder von den Parteien od. dem Gerichte aus. Jeder C. hat mit dem Anbringen der Klage (Actio) zu beginnen, in welcher der Kläger, unter kürzlicher Herausstellung der thatsächlichen Verhältnisse u. des ihm hiernach zur Seite stehenden Rechtes, den Richter darum angeht, daß er den bestimmt zu bezeichnenden Beklagten zur Anerkennung des dem Kläger zuständigen Rechtes od. zur Erfüllung der ihm obliegenden Verbindlichkeit anhalte. Diese Klage, insofern sie nur den formellen Erfordernissen entspricht u. der Anspruch nicht etwa gleich von vornherein sich als unbegründet erweist, wird sodann vom Richter dem Beklagten mittelst eines Decretes zur Beantwortung zugefertigt. Der Beklagte hat sodann mittelst förmlicher Einlassung auf die thatsächlichen Unterlagen der Klage entweder zu bejahen od. zu verneinen u. gleichzeitig alle diejenigen Einreden u. Rechtsvertheidigungen vorzubringen, welche er für geeignet hält, um die Klage zu beseitigen (Einredeschrift). Ähnlich antwortet alsdann wieder der Kläger auf die Einredeschrift des Beklagten mit der Replikschrift, welcher der Beklagte wieder eine Duplikschrift, der Kläger eine Triplikschrift entgegensetzen kann, bis das Streitmaterial vollständig erschöpft ist. Ist dies erfolgt, so schließt damit das erste Verfahren, u. der Richter hat sodann ein erstes Erkenntniß zu fällen, in welchem er entweder die Klage verwirft od. den Beklagten verurtheilt, od. wenn ihm die Ansprüche nicht unbegründet, wohl aber noch unerwiesen erscheinen, auf die Herbeiführung der ihm nöthigen legalen Überzeugung über die Existenz od. Nichtexistenz der relevanten Thatsachen auf Beweis od. Gegenbeweis (Beweisinterlocut) erkennt. Im letzteren Falle schließt sich dann an das erste Verfahren ein Beweisverfahren an, über dessen Ergebnisse ein anderweites Urtheil (Definitivsentenz) entscheidet. Halten sich die Parteien durch eine richterliche Entscheidung in ihren Rechten verletzt, so können sie dagegen Rechtsmittel ergreifen, wodurch dann ein neuer Abschnitt in dem Verfahren entsteht. Den letzten Abschnitt bildet das Executionsverfahren, durch welches die rechtskräftige Sentenz zur Ausführung gebracht u. dem siegenden Theile zu seinem Rechteverholfen wird. In völliger Ausführlichkeit ist dies Verfahren nach den Grundsätzen des gemeinen deutschen C-s ein höchst weitläufiges u. noch überdies durch die große Unbestimmtheit der gemeinrechtlichen Civilrechtsquellen sehr erschwert. Diese Mängel sind schon lange erkannt, u. es reicht daher das Streben der Particulargesetzgebung, durch Gerichts- u. Proceßordnungen die Proceßnormen genauer festzustellen u. dem Proceß selbst größere Einfachheit zu geben, verhältnißmäßig weiter zurück, als ein gleiches Streben auf dem Gebiete des materiellen Civilrechtes hervorgetreten ist. Unter diesen Particulargesetzgebungen ist insbesondere der sächsische, später der preußische u. neuerdings der französische C. für Ausbildung der C-normen von großem Einfluß gewesen. Der erstere beruht im Wesentlichen auf denselben Grundlagen wie der gemeine C., brachte aber bes. die Eventualmaxime (s. oben) zu strengerer Ausbildung u. begünstigte die summarischen Proceßarten, ohne indessen damit den gehofften Vortheil eines rascheren Verfahrens in allen Beziehungen zu erreichen. Andere Verbesserungen beziehen sich auf eine größere Strenge in dem Vortrage der Einlassung auf die thatsächlichen Parteivorlagen, auf die Annahme einer bejahenden Einlassung, im Falle diese ganz unterlassen werden sollte, auf die Vorschrift, daß der Eid, wenn er als Beweismittel benutzt werden soll, vom Kläger schon im ersten Verfahren als solches benannt werden muß, Abkürzung der Fristen u. auf die Verminderung der zahlreichen Rechtsmittel. Die Hauptproceßgesetze für denselben sind die kursächsische sogenannte Alte Proceßordnung von 1622 u. die Erläuterte Proceßordnung von 1724, welche Quelle u. Muster vieler anderen in den Sachsen-Ernestinischen, Anhaltischen, Schwarzburgischen u. Reußischen Landen später erschienenen Proceßordnungen geworden sind. Neuere Proceßgesetze sind ein Mandat von 1822 u. mehrere Gesetze vom Jahr[176] 1835. Im Wesentlichen denselben Gang ist die Legislation in Baiern (Hauptgesetz der Codex juris Bavarici judiciarii u. viele Novellen, bes. Gesetz vom 22. Juli 1819), Württemberg (neben älteren Ordnungen zwei Edicte vom I. 1818 u. 1819), Großherzogth. Hessen (Proceßordnung von 1724), Nassau (Gesetz v. 23. April 1822), Bremen, Hamburg, Lübeck, Frankfurt gegangen. Auf anderem Wege suchte der preußische Proceß eine Verbesserung des C-s anzustreben, indem er an Stelle der Verhandlungsmaxime (s. oben) das Untersuchungsprincip (Inquisitions-, Instructionsmaxime) setzte. Der Richter ist hiernach nicht an die Vorträge der Parteien gebunden, sondern hat es als seine Aufgabe zu betrachten, von Amtswegen über das einmal vorgebrachte Rechtsverhältniß möglichste Aufklärung herbeizuführen, damit die Gewährung der Rechtshülfe nicht von der zufällig guten od. schlechten Vertheidigung der Parteien abhängig sei, sondern lediglich dem angedeihe, der auch wirklich materiell das Recht für sich habe. Zu diesem Zwecke wurde den Parteien mit wenig Ausnahmen persönliches Erscheinen vor Gericht zur Pflicht gemacht; die Advocaten, welche man als die alleinigen Ursachen langgedehnter u. chicanoser Proceßführung betrachtete, wurden entfernt u. in Assistenzräthe (später Justizcommissare) umgetauft, welche nicht sowohl Rathgeber der Parteien, als vielmehr Gehülfen des Gerichtes sein sollten; u. dem Richter die Pflicht auferlegt, durch persönliches Befragen u. Belehren der Parteien die Wahrheit zu erforschen u. festzustellen. Die praktische Anwendung dieses Princips, wie es bes. der Allgemeinen Gerichtsordnung vom 6. Juli 1793 zu Grunde lag, hat dasselbe jedoch nicht sehr bewährt. Das preußische Proceßrecht selbst hat sich daher neuerdings wieder mehr von diesen Grundsätzen entfernt. Zuerst geschah dies durch ein Gesetz vom 1. Juli 1833 bezüglich des Mandats-, Summarischen u. Bagatellprocesses; ein Gesetz vom 21. Juli 1846 hob aber das Untersuchungsprincip im Geiste der Allgemeinen Gerichtsordnung auch für den Ordentlichen Proceß auf. Eigenthümlich ist dem preußischen C. noch ein mündliches Verfahren (durch Gesetz vom 7. April 1847 auch mit einer beschränkten Öffentlichkeit verbunden), indem zwar zunächst Klage u. Klagbeantwortung schriftlich erfolgt, hierauf aber vor dem Gericht ein mündliches Plaidoyer stattfindet. Dieses sehr zweckmäßige Verfahren hat auch in anderen Staaten (z.B. Anhalt-Dessau durch Proceßordnung vom 21. Juli 1850) Anwendung gefunden. Andererseits ist aber auch das frühere preußische Untersuchungsprincip, wenn auch meist nur für das untergerichtliche Verfahren u. für die geringeren Streitsachen, in andere Gesetzgebungen (z.B. zum Theil in Württemberg) übergegangen u. dort, auch nach Wiederaufhebung desselben in Preußen, noch beibehalten worden. Der französische C. (beruhend auf dem Code de procédure civile von 1807) hat auf Deutschland nicht nur insofern Einfluß geäußert, als die Verfahrungsweise mit der französischen Herrschaft in vielen Ländern eingeführt wurde u. sich noch in den Ländern des linken Rheinufers erhalten hat, sondern auch weil derselbe in neuester Zeit auf deutschen Boden manche Nachahmungen u. Verbesserungen gefunden hat, Die Eigenthümlichkeit desselben beruht zunächst in der Gerichtsverfassung, nach welcher als Gerichte erster Instanz für größere Bezirke Collegialgerichte, für kleinere Einzelrichter (Friedensrichter), in zweiter Instanz Appellationsgerichte, neben ihnen aber der Cassationshof (s.d.) mit besonderen Befugnissen bestehen. Das Verfahren vor den Collegialgerichten ist ein mündliches u. öffentliches Plaidoyer der Advocaten; in erster Instanz kann zwischen den Anwälten ein ohne Proceßleitung der Gerichte geführtes Verfahren vorausgehen. Die Vollstreckung der Urtheile erfolgt durch besondere Gerichtsvollzieher. Gesetzgebungen, welche diesem Verfahren nach geduldet sind, sind in Deutschland bes. die Braunschweigische Civilproceßordnung vom 19. März 1850 u. die Hannoversche vom 8. Novbr. 1850 (eingeführt seit 1. Octbr. 1852), so wie die Großherzoglich Badische von 1831, mit den durch Gesetz vom 12. April 1851 eingeführten Abänderungen; außer Deutschland die Gesetzgebung von Belgien, der Niederlande, Sardinien (vom 16. Juli 1854) u. einer Anzahl von Schweizercantonen. Doch haben diese Gesetzgebungen, um eine sichere Grundlage der Verhandlung zu gewinnen, fast alle ein schriftliches Vorverfahren vorgeschrieben, welches die thatsächliche Grundlage der späteren mündlichen Verhandlungen zu gewähren hat. Für Österreich beruht der C. im Wesentlichen noch auf der gemeinrechtlichen Grundlage, Abweichungen bestehen bes. in Bezug auf die Anticipation des Beweises u. strengeren Bestimmungen über den Ungehorsam. Die hauptsächlichste Quelle ist für die deutsch-österreichisch-böhmischen Länder die Josephinische Gerichtsordnung vom 1. Mai 1781, zu welcher indessen bis in die neueste Zeit zahlreiche Novellen u. Declaratorien erschienen sind. In Galizien, der Bukowina, Salzburg, Tyrol u. Vorarlberg, Istrien, Dalmatien u. im Lombardisch-venetianischen Königreiche gilt die sogenannte Galizische Gerichtsordnung vom 19. Decbr. 1796; für Siebenbürgen u. die damit vereinigten Landestheile erschien eine provisorische Civilproceßordnung vom 3. Mai 1852, in Wirksamkeit getreten seit 1. Novbr. 1852; für Ungarn, Kroatien, Slavonien, die Woiwodschaft Serbien u. das Temeser Banat die provisorische Civilproceßordnung vom 16. Septbr. 1852, mit Gültigkeit vom 1. Jan. 1853. Auch die letzteren Civilproceßordnungen sind jedoch nur Nachbildungen der Josephinischen; eine auf Gültigkeit für das ganze Kaiserreich berechnete wird vorbereitet (vgl. Hickisch, Im Gerichtssaal, 1. Jahrg., S. 152 ff.). E) Lehr- u. Handbücher des gemeinrechtlichen C-s besitzt man bes. von Claproth, Öltze, Danz, Gönner, Martin, Gensler, Linde, Mittermaier, Hester, Bayer, Wetzell, Osterloh; für die Darstellung des particularechtlichen C-s haben sich in Sachsen Biener, Volkmann, Osterloh, Kori, Heimbach, in Baiern Seuffert, in Preußen Alker u. Koch, in Holstein Franke, für Frankreich Rauter, Rodière, Chaumeau u. Carré verdient gemacht. Werthvolle Monographien, in denen man namentlich neuerer Zeit auch die gründliche Erforschung der historischen Grundlagen des C-s u. eine genauere Kenntniß der Quellen erstrebt hat, gibt es von Albrecht, Planck, Bergmann, Briegleb, v. Keller, v. Bethmann-Hollweg, Wunderlich u. A. Vieles Gute ist auch in den zahlreichen Zeitschriften (Jahrbücher von Zu-Rhein; Martin u. Walch, Magazin; Linde u. Marezoll, Zeitschrift für Civilrecht u. Proceß etc.) enthalten.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 175-177.
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