Normannen

[112] Normannen, d.i. Nordmannen, im eigentlichen u. engern Sinne die Bewohner Norwegens u. der Normandie (s.d.); im weiteren Sinne jedoch bei den Geschichtsschreibern des Mittelalters die Bewohner ganz Skandinaviens, theils die Norwegens u. Dänemarks mit Ausschluß Schwedens, vorzüglich bei den Franzosen u. Deutschen die kühnen Seeräuberschaaren, welche von Skandinavien aus einen großen Theil des übrigen Europa heimsuchten, während dieselben von den Engländern gewöhnlich mit dem Namen Dänen od. Ostmannen bezeichnet wurden. Bisweilen heißen sie auch Markmannen (von Dänemark) od. Ascmannen (vom altnordischen Ask, Esche, Schiff). Übervölkerung u. dadurch entstandene Noth im Vaterlande, sowiedie angeborene Kriegslust u. die Aussicht auf reiche Beute mögen im Allgemeinen die ersten Veranlassungen zu jenen Zügen der Wikingar (d.i. Krieger), wie sie sich selbst nannten, gegeben haben; an diese Abenteurer schlossen sich, als Harald u. Gorm der Alte in Norwegen u. Schweden Monarchien stifteten, diejenigen an, welche bisher die Gleichen dieser Fürsten gewesen, die Abhängigkeit von denselben verschmähten u. ihre Freiheit als Seekönige auf den Meeren u. Inseln umhertrugen. Dänemark, Norwegen u. zuweilen auch die Nordküsten von Norddeutschland u. Holland sind die Gegenden, von wo die N. kamen; sie befuhren fast alle Küsten des Atlantischen Meeres; seit 787, namentlich seit 832, machten sie Einfälle in England u. setzten sich dort bes. seit 870 fest; gegen das Ende des 8. Jahrh. betraten sie Irland u. gründeten dort in Dublin u. anderwärts Königreiche; 861 entdeckten sie die Färöer u. 872 Island, 893 eroberten sie die Hebriden u. 882 waren sie die ersten europäischen Entdecker Nordamerikas (s.u. Amerika). Auch in die Nordsee fuhren sie schon lange. In deutschen Gegenden erschienen sie als Dänen zuerst im 5. Jahrh. zur Zeit des Frankenkönigs Theoderich I., in die Maas einlaufend u. das Land zwischen ihr u. dem Rhein plündernd; unter Sigbert wurden sie u. die ihnen verbündeten Sachsen an der Bordaa geschlagen, worauf sie jedoch die Einfälle, vorzüglich in Friesland, wiederholten. Die Berührungspunkte, die mit dem Fränkischen Reiche durch dessen Ausdehnung entstanden waren, vermehrten die Feindseligkeit, u. die sichtbare Schwäche jenes Reichs ermunterte die N. zum Angriff. Zur Zeit Karls d. Gr. verheerten die N. unter ihrem Häuptlinge Gottfried 808 das Land der Obotriten; Karl d. Gr. schickte seinen Sohn Karl gegen ihn, gegen den sich Gottfried hinter der Eider verschanzte. 810 eroberten sie Friesland; nach Gottfrieds Ermordung schloß dessen Nachfolger Hemming 811 Friede mit Karl, der die Eider zur Grenze Deutschlands machte. Doch bald nach Karls d. Gr. Tode um 820 erneuerten die N. ihre Züge u. sie wurden nun, bei der Schwäche u. Zwietracht der Karolinger, das 9. Jahrh. hindurch der Schrecken u. die Geißel des nordwestlichen Deutschlands u. Frankreichs. 836 beunruhigten die N. wieder die Niederlande, zündeten Antwerpen an u. waren im Begriff Flandern u. das lütticher Gebiet verheerend zu durchziehen, als Kaiser Lothar I., von Aachen aus gegen sie ziehend, sie umzukehren zwang. 841 kamen sie wieder, als selbst Lothar sie gegen seine Brüder herbeirief, worauf er ihnen die Insel Walchern u. einen Theil von Seeland als Lehn gab. Während des Bürgerkriegs zwischen Ludwigs des Frommen Söhnen drangen sie unter Oscar verheerend bis Rouen vor. 842 zerstörten sie Rennes, Nantes, Varennes u. plünderten Bordeaux u. Seintes. 845 nahmen sie Paris unter Ragner ein, u. Karl der Kahle mußte von ihnen den Abzug mit 7000 Pfund Silber erkaufen. 847 belagerten sie Bordeaux unter Rollo u. eroberten es 848. Zugleich hatten sie 843 unter Hasting Bremen u. 845 unter Rurik Hamburg geplündert; in demselben Jahre wurden sie von den Friesen u. 846 von den Sachsen geschlagen; 848 plünderten sie Geldern, bis der Kaiser Lothar einen Vergleich mit ihnen schloß. 850 erschienen sie in Friesland, 851 segelten sie unter Rurik die Maas u. den Rhein hinauf u. landeten wieder in Friesland u. auf der Batavischen Insel; um sie zu beschwichtigen, trat ihnen Lothar Gebiet ab. Im Spätjahr erschien Oger der Däne mit einer starken Flotte am Rhein, der Maas u. der Seine; Gent wurde heimgesucht, in Aachen Karls des Großen Palast u. die reichsten Klöster in Asche gelegt, hierauf Trier u. Köln geplündert. Ein anderer Hause war bis Beauvais zu Lande vorgedrungen u. verheerte von hier aus Frankreich über neun Monate lang, bis 852. 853 erneuten sie ihre Einfälle, erschienen auf der Seine u. der Loire, plünderten Nantes, verbrannten Tours, eroberten 855 Blois, wurden zwar von den Aquitaniern unter Karl dem Kahlen geschlagen, kamen aber 856 wieder, eroberten Orleans, befestigten die Inseln der Seine, Somme, Schelde, Garonne, Rhone, plünderten Beauvais, Meaux, Chartres, Evreux, drangen in Paris ein u. äscherten die meisten Kirchen dieser Stadt ein. Zwar wurden sie 861 u. 862 geschlagen;[112] aber ihre Einfälle dauerten fort, u. sie wurden sogar, von Pipin II. gegen Karl den Kahlen gerufen, immer kühner, so 864–866, in welchem letztern Jahre Karl der Kahle sie vor Vorrücken nur durch. Zahlung von 4000 Pfund Silber abhielt. 867 setzten sich N. unter Hasting an der Loire fest, verheerten das Land um Nantes, Angres, Poitiers u. Tours, siegten über den Herzog Rainulf von Aquitanien, bekriegten 874 den Herzog Salomo von Bretagne u. schlugen 880 die Sachsen bei Hamburg (nach der Sage bei Ebsdorf). 881 focht in Frankreich Ludwig III. nicht ohne Erfolg gegen die N. u. schlug sie entscheidend bei Saucourt in der Picardie; u. doch trugen sie ihre Waffen nach Ostfrankreich. Der gefürchtetste Normannenfürst war um diese Zeit König Gottfried. Mit einem zahlreichen Heer war er an der Friesischen Küste gelandet, hatte, längs der Maas u. Mosel vordringend, Trier u. Metz geplündert u. sich dann in sein verschanztes Lager an der Maas zurückgezogen. Hier eingeschlossen, stand er in Gefahr zu verhungern, als Karl ihm 882 nicht nur Frieden bewilligte, sondern auch eine große Summe zahlte, ihm Wohnsitze in Friesland an den Mündungen der Maas als Lehn einräumte u. ihm seine natürliche Tochter Gisela in die Ehe gab, wogegen Gottfried versprach, ihn gegen andere Normänner zu vertheidigen. Im Jahr 883 machte er Ansprüche an Lothars Erbschaft, verband sich deshalb mit seinem Schwager Hugo, Huzog von Lothringen u. Elsaß, u. empörte sich, wurde aber 885 durch den Grafen Eberhard ermordet. Um ihn zu rächen, fielen die N. zahlreicher als je in Nenstrien ein, nahmen Rouen, jagten das auf dem linken Seineufer gelagerte französische u. burgundische Heer in die Flucht u. belagerten Paris ein Jahr lang; da erkaufte Karl den Frieden für Land u. Leute. Doch neue Verwüstungen folgten; sie belagerten zwar 889 Paris u. Sens vergeblich; dann aber schifften sie die Marne hinauf, verbrannten Troyes, verheerten das Land zwischen Toul u. Verdun u. kehrten endlich 890 vor Paris zurück, um es zum dritten Mal zu belagern. Als sie auch jetzt auf hartnäckigen Widerstand stießen, brachen sie in die Bretagneein u. verwüsteten das Land, bis sie mit großem Verluste geschlagen wurden. Ein anderer Hause war die Oise u. Somme hinaufgeschifft u. hatte unter Hastings bei Noyon Winterquartiere bezogen. König Odo brachte sie aber durch Unterhandlungen zum Rückzug, worauf sie in Lothringen einfielen. Dort schlugen sie 891 dasvereinigte lothringische Heer zwischen Aachen u. Mastricht. Endlich rächte 891 Arnuls an der Dyle in Brabant unweit Löwen durch einen großen Sieg über die N. die lange Schmach, wurde aber, als er ein zweites, bei Amiens verschanztes normannisches Deer angriff, geschlagen. Seitdem war die Macht der N. in den Niederlanden gebrochen; dagegen dauerten ihre Verheerungen in Frankreich fort. 898 nahmen sie unter Rollo Rouen, gingen von da nach England, kehrten aber 911 wieder, belagerten Paris, verheerten die Gegenden an der Loire u. Garonne, der Yonne u. Saone, belagerten Chartres, setzten sich in Rouen fest, u. von da aus beherrschte Rollo fast ganz Neustrien u. dehnte seine Eroberungen bis Artois u. die Picardie aus. Von Karl III. dem Einfältigen erhielt er 912 durch den Vertrag in St. Clair die Nordküste Frankreichs von der Andelle bis zum Meer als französisches Lehn u. wurde so Gründer des Herzogthums Normandie, s.d. (Gesch). Von nun an stellten die N. ihre Räuberzüge ein u. wurden Christen; bes. soll sich Erzbischof Herväus von Rheims als Missionär unter ihnen verdient gemacht haben. Eine andere Schaar erhielt 921 die Bretagne u. Umgegend von Nantes abgetreten u. wurden auch Christen. 1016 kam der Normanne Kanut auf den englischen Thron u. stürzte die Dynastie der Angelsachsen. In Italien waren zu Anfang des 11. Jahrh. an der Küste von Salerno eine Anzahl (nun schon christliche) von Jerusalem zurückkehrende N. gelandet u. hatten, von Guaimar III. in Salerno aufgenommen, diese Stadt gegen landende Sarazenen vertheidigt, worauf sie, in die Normandie zurückgekehrt, durch Schilderungen des italienischen Glücks Landsleute reizten dahin zu ziehen, welche sich nun in Neapel u. Apulien festsetzten u. dieses Land u. Sicilien unterwarfen, s.u. Apulien u. Sicilien (Gesch.). Hier wurden die N. eine Stütze des Papstthums im Kampfe gegen das römisch-deutsche Kaiserthum u. förderten durch die Anerkennung der Oberlehnsherrschaft des päpstlichen Stuhles über Neapel u. Sicilien dessen Macht auch in weltlichen Dingen. Selbst bis nach den griechischen Inseln Cypern, Kreta u. den Cykladen, so wie nach Epiros erstreckten sich die Heerzüge der N., u. manche von diesen wurden von ihnen vorübergehend erobert. Auch die Waräger (s.d.) in Rußland waren N. Die auswärtigen Unternehmungen der N. hatten nach u. nach ihre Volkszahl gemindert u. ihre Kraft geschwächt. Ihr Name verlor sich allmälig aus der Geschichte, u. er wird jetzt nur noch den Einwohnern Norwegens beigelegt. Vgl. Depping, Hist. des expéditions maritimes des N. et leur établissement en France an 10. siècle, Paris 1826, 2 Bde., deutsch (Die Heerfahrten der N.) von Ismar, Hamb. 1829, 2 Bde.; Aug. Thierry, Hist. de la conquête de l' Angleterre par les Normands, Par. 1826; Lautenschläger, Die Einfälle der N. in Deutschland, Darmst. 1829; Wheaton, Hist. of the Northmen from the earliest times to the conquest of England, Lond. 1831; Worsaale, Minder om de Danske og Normändene i England, Skotland og Island, Kopenhagen 1851, deutsch von Meißner, Lpz. 1852; Cronholm, Wäringarke, Stockh. 1832; K. Maurer, Die Bekehrung des Norwegischen Stammes zum Christenthum, Münch. 1855 f., 2 Bde.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 112-113.
Lizenz:
Faksimiles:
112 | 113
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon