Verwandtschaft

[531] Verwandtschaft, 1) (Blutsverwandtschaft, Cognatio, Consanguinitas), das auf der Zeugung u. der dadurch entstandenen Gemeinschaft des Blutes beruhende Verhältniß zwischen mehren Personen. Durch diesen Begriff schon scheidet sich die V. genugsam von der Schwägerschaft (s.d.) ab, welche nur in einem uneigentlichen Sinne auch wohl unter die V. mitgestellt wird. Der Kreis der Verwandten bildet die Familie im natürlichen Sinne, in den romanischen Rechtsquellen Parentela, im altdeutschen Recht Sippe, Sippschaft, Magschaft od. Blutsfreundschaft genannt. Die verwandtschaftliche Verbindung kann dabei in doppelter Weise stattfinden, entweder durch Abstammung von einander, od. durch gemeinsame Abstammung von einer dritten Person, welcher sich dann als der sie vermittelnde Knoten (Stipes communis) darstellt. Jenes ist die V. in directer, auf- od. absteigender Linie (Linea directa), die V. der Adscendenten u. Descendenten, von denen nach altdeutscher Rechtssprache die Ersteren auch als die Obersippschaft, die Letzteren dagegen als Busen bezeichnet werden; auf dieser beruht die V. der Seitenverwandten od. Collateralen (Linea obliqua s. transversa). In beiden Fällen kann die Abstammung eine unmittelbare od. mittelbare, d.h. erst durch Mittelglieder vermittelte sein. Besteht in der Seitenlinie dabei das Verhältniß so, daß auf der einen Seite eine unmittelbare, auf der andern eine mittelbare Verbindung mit dem gemeinsamen Stammvater Statt findet, wie z.B. bei dem Verhältniß zwischen Onkel u. Neffen, so entsteht daraus der sog. Respectus parentelae. Stehen beide Verwandte von dem gemeinsamen Stammvater gleich weit entfernt, so heißt die Seitenverwandtschaft eine gleiche (aequalis), sonst eine ungleiche (inaequalis). Die Seitenverwandtschaft ist ferner eine vollbürtige (bilateralis), wenn die Abstammung von demselben Elternpaar herzuleiten ist; die Geschwister insbesondere heißen dann vollbürtige, leibliche Geschwister; haben dagegen die Seitenverwandten nur Eines von den Eltern (Vater od. Mutter) gemeinsam, so heißt die V. eine halbbürtige (unilateralis), die Geschwister halbbürtige, auch wohl Stiefgeschwister, u. zwar Consanguinei, wenn sie den Vater, Uterini, wenn sie blos die Mutter gemeinsam haben. Die altdeutschen Rechtsquellen unterscheiden ferner noch den Schwert- od. Vatermagen als die Gesammtheit der durch den Vater od. väterlichen Großvater Verwandten, u. den Spill- od. Muttermagen (Niftel) als die Verwandten von mütterlicher Seite, doch so, daß dabei auch nach Verschiedenheit des örtlichen Sprachgebrauches noch Beschränkungen, z.B. bei den Schwertmagen auf die nur durch Männer Verwandten, stattfinden. Bei der Darstellung der Nähe u. Ferne der V. (Verwandtschaftsgrade), zu deren Versinnlichung die Einen einen Baum mit Ästen, Zweigen u. Blättern[531] (Stammbaum, Arbor consanguinitatis), Andere den menschlichen Körper mit seinen Gliedern, so daß die gemeinsamen Stammeseltern in dem Haupte ihren Platz finden, gewählt haben, geht das Römische u. das Canonische Recht, mit welchem letzteren auch das ältere Deutsche Recht harmonirt, von einer verschiedenen Berechnungsweise aus: das Römische Recht betrachtet die V. als desto näher, je weniger Zeugungen sie vermitteln, desto entfernter, je größer die Zahl der vermittelnden Zeugungen ist. Jede Zeugung bildet einen Grad der V. (tot sunt gradus, quot generationes). Hiernach sind daher Vater u. Sohn im ersten, Großvater u. Enkel, Bruder u. Schwester im zweiten, Oheim u. Neffen im dritten Grade mit einander verwandt. Dagegen sieht die canonische u. ältere deutsche Berechnungsweise nicht auf die Entfernung der betreffenden Personen von einander, sondern auf die Entfernung derselben von dem gemeinsamen Stamm (Sipp). Es werden daher die Generationen nur auf einer Seite bis zu diesem gemeinsamen Stamme gezählt; alle unter dem nächsten gemeinsamen Stammvater sich vereinigenden Verwandten machen eine sogenannte Parentel aus. Das Romanische Recht schloß sich an diese, ehedem allgemein deutsche Zählungsweise wahrscheinlich deshalb an, weil dadurch die Ausdehnung der Eheverbote begünstigt werden konnte. Die neueren Gesetzgebungen folgen in der Regel der römischen Berechnungsweise. Bei der Darstellung werden die Verwandten männlichen Geschlechtes gewöhnlich mit einem Kreis, die weiblichen mit einem Quadrat, die Abstammung durch gerade, abwärts gehende Striche, Ehen durch Halbkreise bezeichnet; Verstorbene werden einfach, der gemeinschaftliche Stammvater zweifach durchstrichen, z.B.

Verwandtschaft

Bei der römischen Zählungs- u. Berechnungsweise ist auch eine mehrfache V. zwischen denselben Personen denkbar. Dieselbe tritt ein, wenn zwei Verwandte ein Kind zeugen; denn das Kind ist mit jedem Parens auch durch den andern verwandt, ebenso auch mit dem gemeinschaftlichen Stammvater mehrfach in directer Linie; wenn zwei Personen, welche einen gemeinsamen Verwandten haben, ein Kind zeugen, z.B. bei zwei Ehen, welche successiv mit zwei Schwestern statt fanden, werden die Kinder aus diesen Ehen Geschwister u. zugleich Geschwisterkinder. Einen Endpunkt der V. kennt das Römische Recht nicht, dagegen hat das Deutsche Recht (Sachsenspiegel I, 3) einen solchen aufgestellt, indem es die Sippe nur bis zum siebenten Grade deutscher Computation gehen läßt. Die im siebenten Grade stehenden heißen Nagelmagen (Nagelfreunde), weil dieser Grad bei Darstellung der V. nach dem Abbild eines menschlichen Körpers an der Stelle des Nagels erscheint. Uneheliche Kinder haben weder Vater, noch väterliche Verwandte, sondern nur eine Mutter u. Verwandte von Mutter Seite. Doch sind davon auszuscheiden die legitimirten, die in einer putativen Ehe, d.h. einer solchen Ehe, welche irrthümlich als rechtsbeständig angesehen wurde, erzeugten u. die Brautkinder, wenn die Ehe durch richterliches Urtheil bei der Weigerung des Bräutigams für geschlossen erklärt ist; alle diese stehen den ehelichen Kindern gleich. Außerdem treten auch bei den übrigen unehelichen Kindern insofern noch Modificationen ein, als hinsichtlich derselben wenigstens eine V. mit beschränkter Wirkung angenommen wird. Diese Wirkung zeigt sich namentlich in der Ausdehnung der Eheverbote mit dem, wenn auch nur wahrscheinlichen Vater u. den väterlichen Verwandten, sowie in der Anerkennung einer beschränkten Alimentationspflicht u. eines beschränkten Erbrechts.

Neben der natürlichen V. stehen als Nachbildungen derselben zwei Arten einer juristischen V., deren Grundlage eine rechtliche Thatsache bildet. Diese sind a) die Agnation des Römischen Rechtes (Cognatio civilis), deren Grund die väterliche Gewalt ist. Als Agnaten gelten die Personen, welche in derselben Gewalt stehen od. stehen würden, wenn das sie verbindende Haupt noch lebte. Die Agnaten bilden die Familie des älteren Römischen Civilrechts, so daß auch alle Familienrechte für diese Zeit wesentlich auf der Agnation beruhen. Wegen ihres Grundes kann die Agnation nur V. durch Mannspersonen sein, weil nur diese der väterlichen Gewalt fähig sind; nicht jede V. durch Mannspersonen ist aber Agnation. Im neueren Recht hat die Agnation, soweit sie unter Personen besteht, welche zugleich natürliche Cognaten sind, ihre Bedeutung verloren. Übrig geblieben ist aber die Agnation, welche durch die Adoption (s.d.) entsteht. b) Die sogenannte geistige od. geistliche V. des Canonischen Rechtes (C. spiritualis), welche in Folge des Taufactes zwischen dem Taufenden, dem Täufling u. dessen Eltern, ferner zwischen dem Taufpathen, dem Täufling u. dessen Eltern, dann bei der Firmelung (s.d.) zwischen dem Firmenden, dem Gefirmten u. dessen Eltern u. dem Firmpathen, dem Firmling u. dessen Eltern als entstanden angenommen wird. In Folge dieser Annahme betrachtet das Canonische Recht die Ehe zwischen diesen Personen als verboten. Für die Evangelische Kirche hatten indessen schon die Schmalkaldischen Artikel das Eheverbot zwischen den Gevattern ausdrücklich verworfen u. das Verbot der Ehe zwischen dem Pathen u. Täufling fand ebenfalls nur auf sehr kurze Zeit in den Kirchenordnungen Eingang, jetzt ist dasselbe unpraktisch geworden.

Die Rechtswirkungen der V. zeigen sich, abgesehen von den schon erwähnten Eheverboten[532] wegen zu naher V. (s.u. Ehe), namentlich in der Lehre vom Erbrecht, indem bes. die ganze neuere Intestaterbfolge nach der größeren od. geringeren Nähe der V. mit dem Erblasser geordnet ist. Ebenso beruht die Berechtigung einen Pflichttheil zu fordern neuerdings wesentlich auf der V. Die V. erzeugt ferner bei näheren Graden die Verpflichtung zur Alimentation u. kann bei dem Verkauf von Stammgütern od. von Theilen derselben das Recht zum Retractus gentilitius od. der sogenannten Erblosung (s.d.) begründen. In Betreff Unmündiger verleiht die V. einen vorzüglichen Anspruch darauf, als Vormund für den Unmündigen bestellt zu werden (sogen. Tutela legitima, s. Vormundschaft), u. da, wo das Institut der Familienräthe (s. Familienrath) besteht, Mitglied dieses Rathes zu sein. Im Civilprocesse ist die V. von besonderer Bedeutung in der Lehre vom Zeugenbeweis, indem ganz nahe Verwandte, bes. Eltern u. Kinder, Großeltern u. Enkel, gar nicht gültig für einander zeugen können, bei andern aber die V. mindestens einen Grund den Zeugen für verdächtig anzusehen abgeben kann. Auch sind die nächsten Blutsverwandten bis zum siebenten Grad einschließlich nicht gehalten gegen einander Zeugniß abzulegen. Auf Seiten des Richters bildet nahe V. mit einer der Parteien einen Grund, daß der Richter perhorrescirt werden kann (s.u. Perhorresciren). Endlich ist allen natürlichen u. erbfähigen Verwandten in gerader Linie, so wie den Geschwistern, die Befugniß ertheilt auch ohne besondere Vollmacht für ihren Verwandten vor Gericht handelnd aufzutreten, wenn sie nur der späteren Genehmigung wegen Caution leisten u. der Principal selbst nicht einen andern Willen erklärt hat. Verbrechen, welche an nahen Verwandten begangen werden, werden bald härter, z.B. beim Verwandtenmord (s.d.), bald aber auch leichter, z.B. beim Kindermord, ob. nur auf besonderen Antrag, wie z.B. beim Familiendiebstahl (s.d.), bestraft. 2) chemische V., s.u. Chemie I. C); 3) geometrische V., die Übereinstimmung von zwei od. mehren geometrischen Figuren od. Körpern in irgend einer Beziehung. Die verschiedenen Arten derselben sind: a) Congruenz, Übereinstimmung an Inhalt u. Gestalt (s. Congruent); b) Gleichheit, Übereinstimmung an Inhalt (s. Gleichflächig); c) Ähnlichkeit, Übereinstimmung an Gestalt (s. Ähnlich); d) Affinität (von Euler zuerst so genannt), ein allgemeinerer Fall von c); sie findet Statt, wenn je zwei Flächentheile der einen Figur dasselbe Verhältniß haben, wie die entsprechenden in der andern. Bei Körpern besteht die Affinität in der Gleichheit aller Verhältnisse zwischen den sich entsprechenden Theilen des jedesmaligen Raumes, in welchem die Figuren enthalten sind, nicht auch der Verhältnisse zwischen den sich entsprechenden Begrenzungen der Theile; e) Collineation, die allgemeinste V., besteht darin, daß bei zwei ebenen od. körperlichen Räumen jedem Punkte des einen Raums ein Punkt in dem andern dergestalt entspricht, daß, wenn man in dem einen Raume eine beliebige Gerade zieht, von allen Punkten, welche von dieser Geraden getroffen werden, die entsprechenden Punkte in dem andern Raume gleichfalls durch eine Gerade verbunden werden können. Ein Gleiches gilt für die räumlichen Figuren von den Ebenen. Das auf eine Ebene perspectivisch entworfene Bild einer ebenen Figur ist daher collinear. Diese verschiedenen Verwandtschaftsgrade betrachtet man mehr noch an ebenen Figuren, als an Körpern; bei diesen kommt noch die Symmetrie hinzu; f) Reciprocität, s. Reciprok f). Vgl. Möbius, Varycentrischer Calcul, Lpz. 1827. 4) V. der Töne, bei Aufeinanderfolge mehrer Accorde, Tonreihen etc. das Klingen eines od. mehrer Töne aus dem vorhergehenden, z.B.:

gggf
eedd
chhhetc.
Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 531-533.
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