[158] Landwirtschaftspolitik, das Verhalten des Staates (der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung) zur Regelung, Pflege und Förderung der Landwirtschaft. Sie umfaßt die sogen. Agrarpolitik, d.h. die Maßregeln in bezug auf den landwirtschaftlichen Boden und ländlichen Grundbesitz, aber außerdem noch zahlreiche andre Maßregeln im Interesse der landwirtschaftlichen Produktion und der landwirtschaftlichen Bevölkerung. Wie die Wirtschaftspolitik überhaupt, so muß auch die L. eine vernünftige Realpolitik sein, d.h. sie muß den historisch gewordenen tatsächlichen Verhältnissen, den wirklichen Bedürfnissen, Interessen und Kräften entsprechen. Weil aber die Verhältnisse der Völker verschieden und wechselnd sind, und weil gleiche Maßregeln nicht bei allen Völkern die gleiche Wirkung haben, so kann auch die rationelle L. weder für alle Zeiten und Wirtschaftsstufen, noch selbst für die heutigen auf der höchsten Wirtschaftsstufe stehenden Kulturvölker gleich sein. Die Frage der rationellen L. kann deshalb endgültig auch nur für den einzelnen Staat nach seinen gegebenen Verhältnissen entschieden werden. Immerhin gibt es gewisse allgemeine Grundsätze, die alle Kulturstaaten heute in ihrer L. befolgen, und gewisse Aufgaben, die alle erfüllen sollten, damit der privatwirtschaftliche Zweck des landwirtschaftlichen Betriebs (Erzielung des möglichst hohen Reinertrags durch guten Betrieb) und die volkswirtschaftlichen Aufgaben der Landwirtschaft (höchstmögliche nachhaltige Verwertung der landwirtschaftlichen Produktionskräfte, eine gute Verteilung des landwirtschaftlichen Grundeigentums und befriedigende wirtschaftliche wie soziale Lage der landwirtschaftlichen Bevölkerung) erreicht werden. Und dahin gehört vor allem, daß der Staat auf der Grundlage der Freiheit des Grundeigentums, der Arbeit, des Kapitals, des Betriebs und des Absatzes nur da eintritt, wo zur Erfüllung jener Aufgaben die eigne Kraft der Landwirte erwiesenermaßen unzureichend, eine erfolgreiche Wirksamkeit des Staates jedoch möglich ist. Wenn es im allgemeinen richtig ist, daß der Staat in seiner Wirtschaftspolitik zuwenig, aber auch zuviel tun kann und das Zuviel vielleicht schädlicher als das Zuwenig ist, so gilt dies ganz besonders für die L., weil die landwirtschaftliche Bevölkerung in besonders hohem Grade geneigt und bestrebt ist, auch da, wo sie sich selber helfen könnte, die Hilfe des Staates zu erlangen. Aber auch bei Befolgung dieses Grundsatzes erwachsen dem Staate, der heute eine gesunde L. befolgen will, große, umfangreiche, unabweisbare Aufgaben. Diese Aufgaben gehören teils dem engern Gebiete der Agrarpolitik, teils der allgemeinen L. an.
Mit gebieterischer Notwendigkeit drängten sich den meisten europäischen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. die großen Fragen der Agrarpolitik auf. In allen Staaten (ausgenommen Schweden und Norwegen und einige kleinere Gebiete) hatte sich ein Zustand der Gebundenheit und Unfreiheit des ländlichen Grundeigentums entwickelt, der im Widerspruch mit der Idee des modernen Rechts- und Kulturstaates stand, ein Hemmnis für den Fortschritt der Landwirtschaft war und die berechtigten Ansprüche und Interessen der ländlichen Bevölkerung auf das empfindlichste schädigte. Überall lag den Staaten auf diesem Gebiete eine große Reformaufgabe ob, darin bestehend, die frühere Gebundenheit zu beseitigen und einen neuen Rechtszustand, beruhend auf dem Prinzip der Freiheit des Grundeigentums, zu schaffen. Die Staaten haben teils diese Aufgabe schon gelöst, teils sind sie noch in deren Lösung begriffen.
Die Reform betraf vorzugsweise die Befreiung des kleinen ländlichen bäuerlichen Grundbesitzes von den Fesseln der Grundherrschaft. Die erste Aufgabe, die Voraussetzung jeder weitern Reform, war die Aufhebung der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die in verschiedenen Formen (Leibeigenschaft, Hörigkeit, Erb- oder Gutsuntertänigkeit) auf dem größten Teil der Landbevölkerung lasteten; die Herstellung der individuellen persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit erfolgte in Baden 1783, bez. 1818, Dänemark 1788, Frankreich 1789, Preußen durch Edikt vom 9. Okt. 1807 mit dem Endtermin Martinitag 1810, Bayern 1808, Hessen-Darmstadt 1811, Nassau 1812, Waldeck 1814, Württemberg 181.7 etc., Österreich 1848, Rußland 1861. In England dagegen war die persönliche Unfreiheit der ländlichen Bevölkerung seit dem 14. Jahrh. allmählich ohne gesetzliche Einwirkung verschwunden, während die ehemaligen Naturalzehnten seit 1836 in Geldzahlungen umgewandelt wurden, deren Betrag je nach den Kornpreisen von 7 zu 7 Jahren festgestellt wird. Die Durchführung derselben erheischte auch die Beseitigung der aus der frühern Abhängigkeit herrührenden Abgaben und Leistungen (s. Ablösung). Die eigentliche Agrarreform bestand vornehmlich in der Schaffung einer neuen Grundeigentumsordnung. Man stellte sich hier ein dreifaches Ziel: die Schaffung vollen, freien und [158] individuellen Eigentums. Die unvollkommenen Besitzrechte und Untereigentumsrechte früherer Zeiten in ihren mannigfachen Formen wurden beseitigt und in volle Eigentumsrechte verwandelt, die Wiederherstellung, Ersitzung oder Neubegründung der aufgehobenen Rechtsverhältnisse ward, mit ganz vereinzelten Ausnahmen, für die dann aber gesetzlich die Ablösbarkeit statuiert wurde, verboten. Auch die Beschränkungen der Eigentümer bezüglich der Veräußerung, Verpfändung, Vererbung und Teilung, die für gewisse Klassen von Gütern bestanden, wurden aufgehoben oder doch so geregelt, daß sie nicht mehr die rationelle Bewirtschaftung der Güter verhinderten. Bei dieser Reform fiel in Deutschland und Österreich das guts- oder grundherrliche Obereigentum oder Eigentum als solches mit den darin enthaltenen Heimfallsrechten und sonstigen Befugnissen meist ohne Entschädigung fort (z. B. Preußen, Österreich, Württemberg), die aus privatrechtlichem Titel stammenden wurden entweder nur gegen Entschädigung aufgehoben (z. B. Österreich, Bayern. Württemberg) oder überhaupt lediglich für ablösbar erklärt (z. B. Preußen, Baden, Hessen-Darmstadt). Die Staaten beförderten die Ablösung, indem sie diese obrigkeitlich regulierten und durch eine Organisation von staatlichen Rentenbanken (s. d.), bez. Ablösungskassen die Ablösungskapitalien den Verpflichteten darlehnsweise zur Verfügung stellten. Die Freiheit des Eigentums wurde in der Weise durchgeführt, daß der Boden von privatrechtlichen Reallasten und von für die Wirtschaft hinderlichen Grunddienstbarkeiten (Weideservituten, Feld- und Wegeservituten) entlastet wurde. In Deutschland haben die vor 1848 nur in beschränktem Maße durchgeführten, seitdem aber im weitesten Umfang erlassenen Ablösungsgesetze zum Teil derartige Lasten unmittelbar aufgehoben, zum Teil sie in feste, ablösbare Bodenzinsen verwandelt, zum größten Teil aber sie für ablösbar erklärt (s. Ablösung). Um kulturschädliche, durch die Lage der Grundstücke und Wege aber gebotene Wege- und Feldservituten (Überfahrts-, Pflugwenderechte etc.) zu beseitigen und dem einzelnen den freien Zugang zu seinem Grundstück von einem Weg und die freie Benutzung desselben zu verschaffen, wurde die zwangsweise Regelung der Feldflur zu diesem Zwecke (Wegeregulierung, Wegebereinigung) gesetzlich gestattet (s. Flurregelung). Man begünstigte endlich noch den Übergang der in gemeinschaftlichem Eigentum stehenden, irrationell bewirtschafteten Ländereien in das Sondereigentum der einzelnen Miteigentümer (s. Gemeinheitsteilung).
Während so im Interesse der bäuerlichen Bevölkerung und im Interesse der Landeskultur die Freiheit des Grundeigentums und der Grundeigentümer, die Beseitigung der alten Feldgemeinschaft und des Flurzwanges herbeigeführt wurde, erforderten aber dieselben Interessen zugleich neue Einschränkungen des Rechtes der Grundeigentümer in zweifacher Richtung: zur Beseitigung der Gemenglage und zur Förderung von Bodenmeliorationen. Die Gemenglage, d.h. die zerstreute Lage der Äcker der einzelnen in den verschiedenen Feldungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hatte, war in vielen Gemeinden ein schwerer Übelstand, ihre Beseitigung, bez. Verringerung durch Zusammenlegung ein dringendes Bedürfnis. Sollte hier geholfen werden, so mußte die Gesetzgebung dse zwangsweise Regulierung der Feldflur (Arrondierung, Zusammenlegung, Verkoppelung) gestatten und einer nach dem Umfange des Areals und nach der Kopfzahl der Besitzer zu bemessenden Majorität das Recht geben, unter Mitwirkung der Obrigkeit die Zusammenlegung von Parzellen auch gegen den Willen einer Minderheit durchsetzen zu können, und die Staatsverwaltung mußte die allgemeine und planmäßige Durchführung dieser Flurregelungen noch durch anderweitige Maßregeln unterstützen (s. Flurregelung). Die meisten Staaten, wenigstens in Deutschland, gingen in dieser Weise vor. Ein ähnlicher gesetzlicher Zwang war geboten zum Zweck der Förderung von Bodenmeliorationen, die nur gleichzeitig auf einer Mehrzahl von Gütern genossenschaftlich vorgenommen werden können, und wurde in den meisten Staaten eingeführt. Aber derselbe Zweck erheischte auch noch weitere Maßregeln der Agrarpolitik (s. Bodenmelioration). Über eine Reihe von weitern bedeutsamen agrarpolitischen Fragen herrscht heute in Theorie und Praxis noch Meinungsverschiedenheit, so über die Frage: ob und wie weit im Interesse der Erhaltung der bäuerlichen Besitzungen subsidiär ein besonderes, die Nichtteilung derselben begünstigendes Intestaterbrecht (sogen. Anerbenrecht, Höferecht, s. d.) zweckmäßig ist; ferner ob die in einer Reihe von Staaten nach dem Vorgange Preußens gesetzlich nicht mehr zulässige Erbpacht (s. d.) in einer gegen früher verbesserten Gestalt zu gestatten ist, eine Frage, die im Bejahungsfall auf eine teilweise Sanktionierung des Rodbertusschen Rentenprinzips hinauskommen würde (s. Rentengüter); endlich ob eine Dismembrationsgesetzgebung gerechtfertigt ist (s. Dismembration und Güterschlächterei).
Zur L. im weitern Sinne gehören gegenwärtig aber noch weitere Aufgaben. Solche sind: die gesetzliche Regelung des landwirtschaftlichen Kreditwesens (s. Kredit, landwirtschaftlicher), des Pachtwesens (s. Landwirtschaftliche Unternehmungsformen), des landwirtschaftlichen Versicherungswesens (s. Feuerversicherung, Hagelversicherung, Viehversicherung), das Einschreiten bei allgemeinen Viehseuchen und Pflanzenkrankheiten (Rinderpest, Lungenseuche; Reblaus, Coloradokäfer etc.) und die Veterinärpolizei, die Intervention im Interesse der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter (s. Arbeiterfrage, S. 679 f.); ferner die Sorge für den landwirtschaftlichen Unterricht (Organisation, Leitung und Unterhaltung der höhern landwirtschaftlichen Unterrichtsanstalten etc., materielle Unterstützung und Beaufsichtigung der mittlern und niedern Anstalten, s. Landwirtschaftliche Lehranstalten), die Sorge für landwirtschaftliche Wanderlehrer, für landwirtschaftliche Versuchsstationen, für meteorologische Stationen, für eine gute landwirtschaftliche Statistik, die Förderung des landwirtschaftlichen Vereins- und Genossenschaftswesens (s. Landwirtschaftliche Vereine und Landwirtschaftliche Genossenschaften), der landwirtschaftlichen Ausstellungen, der Pferde- und Rindviehzucht. In Betracht kommt hier auch die Transport- und Zollpolitik. Zur Erfüllung der ihm auf dem Gebiete der Landwirtschaftspflege obliegenden Aufgaben bedarf der Staat besonderer Organe. Größere Staaten haben gewöhnlich ein besonderes landwirtschaftliches Ministerium, in kleinern besteht eine besondere landwirtschaftliche Abteilung in irgend einem der andern Ministerien. Wünschenswert ist es, daß daneben noch ein beratendes Kollegium besteht, das aus landwirtschaftlichen (teils von der Regierung ernannten, teils von landwirtschaftlichen Vereinen gewählten) Sachverständigen gebildet ist und von Zeit zu Zeit zusammentritt, um sich über[159] Maßnahmen der L. gutachtlich zu äußern und selbständig Wünsche und Anträge im Interesse der Landwirtschaft vorzubringen (in Preußen Landes-Ökonomiekollegium, in Bayern Landwirtschaftsrat, in Württemberg landwirtschaftliche Zentralstelle, in Sachsen Landeskulturrat etc.). Ein solches Kollegium bringt die Regierung in direkte persönliche Verbindung zu den hervorragendsten Vertretern der Landwirtschaft und erleichtert ihr die Durchführung einer dem Lande nützlichen L.
Vgl. A. Meitzen, Landwirtschaft, Teil 2, in Schönbergs »Handbuch der politischen Ökonomie«, Bd. 2 (dort weitere Literatur); Roscher, Nationalökonomik des Ackerbaues (13. Aufl. von Dade, Stuttg. 1903); Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik (Leipz. 189293, 2 Bde.) und Grundzüge der deutschen Agrarpolitik (2. Aufl., Berl. 1899); v. d. Goltz, Agrarwesen und Agrarpolitik (2. Aufl., Jena 1904); v. Stein, Verwaltungslehre, Bd. 7 (Stuttg. 1868); Sugenheim, Geschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeit in Europa (Petersb. 1861); Judeich, Die Grundentlastung in Deutschland (Leipz. 1863); Peyrer, Die Regelung der Grundeigentumsverhältnisse (Wien 1877); G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, § 100 ff. (2. Aufl., Leipz. 189394); Jäger, Die Agrarfrage der Gegenwart (Berl. 188288, 3 Tle.); Artikel »Bauernbefreiung« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 2 (2. Aufl., Jena 1899); Schiff, Österreichs Agrarpolitik seit der Grundentlastung (Tübing. 1898, Bd. 1) und Grundriß des Agrarrechts (Leipz. 1903).
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