Livland

[631] Livland (hierzu die Karte »Russische Ostseeprovinzen«), nach älterer Schreibweise Liefland (lat. Livonia), jetzt eine der drei baltischen oder Ostseeprovinzen Rußlands, im Mittelalter aber und gelegentlich auch heute noch das ganze Liv-, Esth- und Kurland umfassende Küstengebiet zwischen dem Finnischen Meerbusen und der heiligen Aa. Das heutige Gouvernement L. grenzt im N. an Esthland, im O. an den Peipussee, der es vom Petersburger Gouvernement trennt, und an das Gouv. Pskow, im SO. an Witebsk, im SW. an Kurland und im W. an den Rigaischen Meerbusen und umfaßt ein Areal von 47,030 qkm (854 QM.), wovon 2876 qkm auf Inseln (Ösel, Mohn etc.) kommen. Das Land bildet eine weite Ebene, die von einem (von N.) aus Esthland kommenden Plateau (120 m hoch) durchzogen wird. Zum Wirzjärwer See senkt sich das Plateau allmählich und teilt sich in zwei Zweige, von denen der eine die Wirzjärwer Niederung westlich umzieht und sich wellenförmig zwischen 80 und 134 m Höhe östlich bis zur Aa, südlich bis Lemsal hinzieht. Der andre (östliche) Zweig bildet die Wasserscheide zwischen dem Peipus- und dem Wirzjärwer See, wird vom Embachtal durchschnitten, erhebt sich allmählich bis 213 m und erreicht seine höchsten Punkte im Munna Mäggi (323 m), der höchsten Erhebung der baltischen Provinzen, und im Willa Mäggi (288 m). Südlich vom Teufelsberg (257 m) fällt das Hochland zum Marienburger See (182 m) und verbindet sich weiterhin mit dem 213 m hohen Plateau zwischen den Flüssen Ewst und Aa, dessen höchste Punkte die Berge Gaisekalns (302 m) und Nessaulekalns (284 m) sind. Als besonders schöne Gegenden Livlands gelten Segewold, Treiden, Kremon, die mit vielen Burgruinen geschmückte sogen. livländische Schweiz, sowie Kokenhusen. An Gewässern ist L. sehr reich; man zählt im ganzen über 600 Seen, darunter 350 größere. Die wichtigsten sind außer dem Peipussee, mit seiner 118 km langen Uferlinie, der Wirzjärw (274 qkm), der Burtnecksee, der Marienburger See u.a. Schiffbare Flüsse sind: die Pernau, die Salis, die Düna, die livländische Aa und der Embach. Die fast 300 km lange Meeresküste hat nur zwei Häfen, die Mündungen der Düna und der Pernau. Das Klima ist gesund, besonders auf den größern Inseln. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt in Dorpat 4°, in Riga 6°. An Wäldern ist L. reich; bedeutende, mehrere tausend QKilometer umfassende Waldungen finden sich namentlich am Strande zwischen der Pernau und der Aa, ebenso an der Ewst. Vorherrschend ist Nadelwald (Tanne und Kiefer); weniger häufig finden sich Birken-, Erlen- und Eichenwälder. Das Mineralreich liefert Lehm, Gips, Kalk, Torf, Sumpfeisen und Schwefelquellen (Kemmern). Das Tierreich ist vertreten durch Bären, Wölfe, Füchse, Hafen, Seehunde, Dachse, Rehe; seltener sind Elentiere und Luchse, zahlreich dagegen Hühnerwild sowie Sumpf- und Wasservögel.

L. hat (1897) 1,299,365 Einw. (28 auf 1 qkm), die sich zusammensetzen aus 79,8 Proz. Protestanten, 14,3 Proz. Griechisch-Katholischen, 2,4 Proz. Juden, 2,3 Proz. Römisch-Katholischen. Der Rest kommt auf Armenier, russische Sekten und Konfessionslose. Nach der Nationalität gab es 1897: 563,829 Letten, 518,594 Esthen, 98,573 Deutsche, 69,614 Russen, 23,728 Juden und 15,132 Polen. Das Areal besteht aus 18,5 Proz. Ackerland, 24,4 Proz. Wald, 41,5 Proz. Wiesen und Weideland, 15,6 Proz. Unland etc. Der Ackerbau bildet die Hauptbeschäftigung der Bewohner Livlands. Roggen, Gerste, Hafer, Lein und Kartoffeln werden vorzugsweise gebaut, in kleinern Mengen Weizen, Hanf und Buchweizen. 1901 wurden geerntet: 200,451 Ton. Roggen, 149,191 T. Hafer, 139,700 T. Gerste, 21,533 T. Weizen, 456,314 T. Kartoffeln. Von größerer Bedeutung, namentlich für die Ausfuhr, ist der[631] Flachsbau, der insbes. im Werroschen Kreis blüht und 1901: 286,398 dz Flachsfaser lieferte. Der Viehstand betrug 1900: 202,571 Pferde, 666,525 Stück Hornvieh, 745,184 (darunter 238,639 feinwollige) Schafe und Ziegen und 340,399 Schweine. Die Fischerei bildet einen bedeutenden Erwerbszweig; das Meer liefert Breitlinge (Clupea sprottus), Aale, Neunaugen und Flundern (provinziell: Strömlinge und Butten); die Landseen, namentlich der Peipus, Snitky (Löffelstint, Salmo eperlanus), eine beliebte Fastenspeise der Russen, Räpuschky (Maräne) und Korjuschky (Stint), die Flüsse ausgezeichnete Lachse. An der Mündung der Treidener Aa befindet sich eine große Fischbrutanstalt für Lachse. In industrieller Hinsicht nimmt L. einen hervorragenden Platz unter den Gouvernements des russischen Reiches ein. Die Gesamtzahl der Fabriken ist (1900) 1215 mit 49,980 Arbeitern und einem Produktionswert von 83,3 Mill. Rubel, der sich mit 42,8 Mill. auf die Verarbeitung von Produkten des Pflanzenreichs, 16,9 Mill. auf diejenige von Mineralien, mit 7,3 Mill. auf die Verarbeitung tierischer Produkte und 16,8 Mill. auf verschiedene andre Industrien verteilte. Hauptsitz der Industrie ist Riga (s. d.) und Umgegend, auf das über 90 Proz. des Produktionswerts und der Arbeiterzahl entfallen. Einige Bedeutung hat daneben nur noch Pernau mit dem Fabrikort Zintenhof. Der Handel Livlands ist blühend und konzentriert sich hauptsächlich in Riga, in geringerm Grad in Pernau, Arensburg und Dorpat. Die wesentlichsten Ausfuhrartikel sind: Petroleum, Haare, Ölkuchen, Wolle, Flachs, Leinsaat, Hanf, Getreide und Holz; die wichtigsten Einfuhrartikel: Heringe, Salz, Steinkohlen, Wein, Kolonialwaren, Eisen, Kammwolle, Farbhölzer, Öl, Raps und Rübensaat, landwirtschaftliche und industrielle Maschinen. L. wird von einem Gouverneur verwaltet, der nach der Aufhebung des Generalgouvernements der Ostseeprovinzen (1876) unter dem Ministerium des Innern steht. Die lutherische Kirche steht unter dem livländischen Konsistorium in Riga. L. wird eingeteilt in neun Kreise: Dorpat (Jurjew), Fellin, Ösel, Pernau, Riga, Walk, Wenden, Werro und Wolmar; Hauptstadt ist Riga. Das Wappen ist ein silberner, ein goldenes Schwert haltender Greif in rotem Feld, auf der Brust trägt er das mit der Kaiserkrone gekrönte rote Monogramm Peters II. (ПВИВ).

[Geschichte.] L., von den früher an den Küsten des Landes wohnenden Liven (s. d.), einem finnischen Volksstamm, so genannt, ward seit dem 9. Jahrh. in seinem östlichen Teil von den Letten eingenommen, aber, obwohl die Dänen und Schweden die Ostseeländer schon im 11. Jahrh. kannten, für das übrige Europa erst durch Lübecker Kaufleute bekannt, die von Wisby aus an der Mündung der Düna landeten (um 1160). Sie knüpften mit den Eingebornen Handelsverkehr an, rückten die Düna hinauf, und hier errichtete 1185 ein Mönch, Meinhard aus Segeberg, eine Kirche und Burg zu Ykeskola (jetzt Üxküll). Der Erzbischof von Bremen ernannte Meinhard 1186 zum Bischof Livlands; doch schritt die Bekehrung der Einwohner erst unter dem Bischof Albert (1199–1229, s. Albert 4), der 1201 Riga gründete, rascher fort. Um die Herrschaft der eingewanderten Deutschen über L. zu sichern, stiftete der Bischof 1202 den Orden der »Brüder der Ritterschaft Christi«, der sogen. Schwertbrüder, und trat ihm ein Drittel des eroberten L. ab (1207). Im selben Jahr erklärte König Philipp L. für einen Teil des Deutschen Reiches. Nach jahrelangen blutigen Kämpfen gelang 1224 die Eroberung Esthlands, dessen nördlicher Teil jedoch den Dänen überlassen werden mußte. Die Macht des Schwertbrüderordens wurde 1237 durch Vereinigung mit dem Deutschen Orden erheblich vermehrt; fortan wurde für L. ein Landmeister gewählt, Hermann Balk als der erste. Trotz mancher Streitigkeiten des Ordens mit dem Erzbischof von Riga wurde die Kolonie gegen Russen und Litauer tapfer verteidigt. Die Städte, insbes. Riga, Dorpat und Reval, blühten im Bunde mit der Hansa auf. Glänzend war die Regierung des Ordensmeisters Walter v. Plettenberg (1494–1535), der die Russen 13. Sept. 1502 am Smolinosee so nachdrücklich schlug, daß sie 50 Jahre lang nicht mehr angriffen. Obgleich Plettenberg selbst der alten Kirche treu blieb, verbreitete sich die Reformation seit 1522 ungehindert. Der Krieg mit den Russen erneuerte sich 1558 und führte zur Teilung des Landes im I. 1561. Der letzte Meister des Ordens, Gotthard Ketteler, ward weltlicher Herzog von Kurland, zugleich Lehnsmann der polnischen Krone, während Esthland schwedische und L. polnische Provinz wurde. Fortan ward L. nebst Esthland Zankapfel zwischen Polen, Schweden und Rußland. 1660 wurde im Frieden von Oliva L. schwedische Provinz. Schweden vertrieb die von den Polen begünstigten Jesuiten, schuf ein lutherisches Kirchen- und Schulwesen und organisierte die Gerichtshöfe und Behörden. Karl XI. dehnte aber die berüchtigten »Reduktionen« (Gütereinziehungen) auf L. aus und drohte, die Landesverfassung aufzuheben. Dagegen protestierte der Landtag unter Führung Patkuls, der, zum Tode verurteilt, floh und den Feinden Schwedens, den Russen und Polen, im Nordischen Krieg Rat erteilte. In Polen gefangen, wurde Patkul 1707 gerädert. 1710 ergab sich L. an Rußland unter bestimmten Bedingungen. Diese Bedingungen wurden im Nystader Frieden 1721 völkerrechtlich anerkannt. Der Zar gelobte feierlich, für ewige Zeiten deutsche Obrigkeiten in L., die Gerichte bei dem deutschen Rechte, die Kirchen und Schulen bei der evangelischen Religion zu erhalten. Die Lage des Bauernstandes wurde 1804–19 durch Aufhebung der Leibeigenschaft verbessert und 1849 die Bauern in Hofbesitzer verwandelt. Auch zahlreiche Volksschulen wurden gegründet. Die Gemeindeschulen mit lettischer oder esthnischer, die Kirchspielschulen mit deutscher Unterrichtssprache. Die Nachfolger des Zaren Peter bis auf Alexander III. bestätigten die Nystader »Kapitulationen«. Aber von der Regierung geduldete Emissäre verleiteten 1845–48 etwa 140,000 Bauern zum Übertritt zur orthodoxen Kirche. In den letzten Zeiten Alexanders II. und noch mehr nach dessen Tode (1881) wurden die Sonderrechte der Ostseeprovinzen auf Antrieb der panslawistischen Partei nicht mehr anerkannt. Besonders seit der Revision der Provinzen durch den Senator Manassein 1884 wurde die russische Sprache zur alleinigen Amtssprache erklärt und in allen Schulen (1887), selbst in den Privatschulen, als Unterrichtssprache eingeführt und das Land mit russischen Beamten überschwemmt. Die Ritterschaft zog es vor, die von ihr unterhaltenen Gymnasien zu schließen. Seit 1883 begannen auch die russischen Popen, das Landvolk wieder zu Übertritten zur orthodoxen Kirche zu verleiten, und wenn ein lutherischer Pfarrer einen reuigen Bauer wieder in seine Kirche zuließ, wurde er verbannt oder mit Gefängnis bestraft. Während in allen Kirchspielen griechische Kirchen gebaut wurden, galt die lutherische Landeskirche[632] nur als geduldete. Die Universität Dorpat (Jurjew) wurde durch die Russifikation auf einen niedrigen wissenschaftlichen Standpunkt herabgebracht, der Nihilismus unter der bäuerlichen Bevölkerung mit Zulassung der Beamten verbreitet. Seit dem Ausbruch des Krieges 1904 singen die neuen Behörden zu versagen an, und 1905 stieg der durch bewaffnetes Gesindel aufrecht erhaltene Terrorismus namentlich im lettischen Teil derart, daß die bessern, besonders die deutschen Elemente sich zu bewaffneten Selbstschutzverbänden organisierten und die fremden Konsuln von der Regierung Schutz des Lebens ihrer Landsleute forderten.

Vgl. Rathlef, Skizze der orographischen und hydrographischen Verhältnisse von Liv-, Esth- und Kurland (Reval 1852); M. Willkomm, Streifzüge durch die baltischen Provinzen, Bd. 1 (Dorpat 1872); »Materialien zur Statistik von L.« (hrsg. vom livländischen Statist. Gouv. – Komitee, Riga 1899, russisch); »Jahrbuch der gemeinnützigen und landwirtschaftlichen Gesellschaft für Südlivländ« (Dorpat); H. Hollmann, Richters Baltisches Verkehrs- und Adreßbuch (Bd. 1–3, Riga 1899–1900); Tobien, Die Agrargesetzgebung Livlands im 19. Jahrhundert (Berl. 1899, Bd. 1); Bienemann, Livländisches Sagenbuch (Reval 1897). Zur Geschichte: v. Richter, Geschichte der deutschen Ostseeprovinzen (Riga 1857–58, 2 Bde.); Th. Schiemann, Rußland, Polen und L. bis ins 17. Jahrhundert (Berl. 1887); E. Seraphim, Geschichte Liv-, Esth- und Kurlands (2. Aufl., Reval 1897–1904, 3 Bde.) und Geschichte von L. (Gotha 1905, Bd. 1); Eckardt, L. im 18. Jahrhundert (Leipz. 1876); v. Bock, Livländische Beiträge (das. 1867–70, 3 Bde.); »Liv-, Esth- und Kurländisches Urkundenbuch« (hrsg. von Bunge u.a., Riga 1852–1905, Bd. 1–11, bis 1459; 2. Abt., Bd. 1); O. Schmidt, Rechtsgeschichte Liv-, Esth- und Kurlands (Dorpat 1895); O. Harnack, L. als Glied des Deutschen Reichs vom 13. bis 16. Jahrhundert (Berl. 1891); »Bibliothek livländischer Geschichte« (hrsg. von Seraphim, Reval 1897 ff.); Löwis of Menar, Karte von L. im Mittelalter (das. 1895); Winkelmann, Bibliotheca Livoniae historica (2. Ausg., das. 1879); Pölchau, Die livländische Geschichtsliteratur seit 1885 (Riga 1885 ff.; jährlich, seit 1902 fortgesetzt von Feuereisen); die Geschichtskarte beim Artikel »Polen«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 631-633.
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