Fichte [2]

[256] Fichte, 1) Joh. Gottl., geb. 19. Mai 1762 zu Rammenau in der Oberlausitz, ging, nachdem er mit Hülfe eines Gönners, des Freiherrn von Miltitz, in Jena, Leipzig u. Wittenberg Theologie studirt hatte, als Hauslehrer nach Zürich, wo er mit Pestalozzi befreundet wurde, von dort nach Königsberg, u. erhielt 1793 einen Ruf als Professor der Philosophie in Jena. Hier entwickelte er sein eigenthümliches philosophisches System (s. unt.) u. gab mit Niethammer das Philosophische Journal heraus. Wegen eines Aufsatzes in diesem Journal über den Grund unseres Glaubens an eine götliche Weltordnung vom kurfürstlich sächsischen Consistorium des Atheismus angeklagt, nahm er 1799 seine Entlassung u. veröffentlichte zu seiner Vertheidigung die Appellation an das Publikum wegen ihm beigemessener atheistischer Äußerungen (Tüb. 1799). Er wandte sich darauf nach Preußen, nahm bis zum Ausbruch des Fran. zösisch-preußischen Krieges in Berlin seinen Aufenthalt u. wurde 1806 Professor in Erlangen. Nach der Schlacht bei Jena ging er nach Königsberg, um dort Vorlesungen zu halten, u. nach dem Frieden zu Tilsit kehrte er nach Berlin zurück. Von großer Vaterlands- u. Freiheitsliebe beseelt, scheute er[256] sich nicht in der von den Franzosen besetzten Residenz 1808 seine berühmten Reden an die deutsche Nation zu halten, mit denen er das deutsche Nationalgefühl wieder aufzurichten strebte. Mit regem Eifer unterstützte er die Bemühungen der Patrioten, der Fremdherrschaft ein Ende zu machen, u. suchte 1813 durch seine Vorlesungen über den wahrhaften Krieg den Muth des Volkes im Kampfe gegen die Napoleonische Herrschaft zu entflammen. Er hatte die Freude, den Sturz Napoleons zu erleben, starb aber bald darauf am 27. Jan. 1814. Wichtigste Schriften: Versuch einer Kritikder Offenbarung, Königsb. 1792, 2. A. 1793; Grundriß der gesammten Wissenschaftslehre, Jena 1794, 3. Aufl. 1802; Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, ebd. 1794; Grundlage des Naturrechts, ebd. 1796–97,2 Thle.; System der Sittenlehre, ebd. 1798; Anweisung zum seligen Leben (Religionslehre), Berl. 1806; Die Bestimmung des Menschen, ebd. 1800, u. Aufl. 1838; Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten, ebd. 1806; Reden an die deutsche Nation, ebd. 1808; Die Wissenschaftslehre in ihrem ganzen Umfange, ebd. 1810; Die Thatsachen des Bewußtseins, Stuttgart 1817; Die Staatslehre 1820; Nachgelassene Werke, herausgeg. von I. H. Fichte, Bonn 1834–36, 3 Bde.; Sämmtliche Werke von I. H. Fichte, herausgeg Berl. 1845 ff., 8 Bde.; Populärphilosophische Schriften, herausgeg. von I. H. Fichte, Berl. 1847, 7 Bde.; Religionsphilosophische Schriften, herausgeg. von I. H. Fichte, Berl. 1847; Briefwechsel mit Schelling, herausgeg. von I. H. Fichte u. B. F. A. Schelling, Stuttg. 1856. Vgl. Fichtes Leben, herausgeg. von I. H. Fichte, Sulzb. 1830; Hase, Jenaisches Fichtebüchlein, Lpz 1856._– Die von F. vorgetragene Wissenschaftslehre machte in deutschen philosophischen Schulen eine Zeit lang Epoche, indem sie darauf ausging, an die Stelle des in den beiden letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrh. vorwaltend sich geltend machenden Kantschen kritischen Systems zu treten, die darin vermißte Einheit herzustellen u. die Vernunft in Hinsicht des schwierigsten Problems, wie unsere Vorstellungen mit den Gegenständen zusammenhängen, zu befriedigen. F. ging von einer ursprünglichen Thathandlung des Subjects aus, wodurch das Bewußtsein selbst construirt wird. Wissenschaft ist nach F-s System die Erkenntniß durch einen oberen Grundjatz, welcher den Gehalt u. die Form des Wissens ausdrückt, bestimmt: Wissenschaftslehre die Wissenschaft, welche die Möglichkeit u. Gültigkeit alles Wissens darlegt u. die Möglichkeit der Grundsätze, der Form u. dem Gehalte nach, die Grundsätze selbst u. dadurch den Zusammenhang alles Wissens nachweist. Das ganze System beruht auf folgenden Grundsätzen: a) A = A; den Zusammenhang bezeichnet X. Da A u. X im Ich gesetzt sind, so kann man substituiren: Ich bin Ich (Satz der Einstimmung, des Satzes); b) das Ich ist nicht Nichtich (Satz des Gegensatzes); c) das Ich setzt dem theilbaren Ich ein theilbares Nichtich entgegen Grundsatz des Grundes. Beide sind in dem absoluten Ich u. durch dasselbe, als durcheinander gegenseitig bestimmbar, gesetzt: hierin liegen folgende 2 Sätze: das Ich setzt sich als bestimmt durch ein Nichtich, als Schranke der absoluten Thätigkeit (intelligentes Ich); das Ich setzt sich als bestimmend das Nichtich. Dies führt zum praktischen Theil der Wissenschaftslehre. Das Absolute, das Nichtich bestimmende Ich ist frei, unendlich, unabhängig, die einzige wahre Reglität, da hingegen das Ich als Intelligenz, durch ein Nichtich determinirt, endlich, beschränkt ist. Der Hauptgedanke des Systems ist: Das Ich ist absolute Thätigkeit, Alles, was außer dem Ich wirklich ist, ist ein Product des Ichs durch Setzen, Entgegensetzen u. Gleichsetzen (Beschränkung); das Ich ist Subject-Object Dieses System, welches also auf einen transscendentalen Idealismus hinauskommt, zeichnet sich nun zwar durch Scharfsinn, strengste Einheit u. Consequenz aus; es hebt viele Schwierigkeiten, aber erzeugt auch neue; bes. setzt es an die Stelle einer Unbegreiflichkeit eine andere, noch größere, u. macht diese zum Erklärungsgrund. Nach den Grundsätzen der Wissenschaftslehre suchte F. nun auch einzelne philosophische Disciplinen zu begründen. In der Moral suchte er durch das Gewissen den Glauben an die Wirklichkeit der Sinnenwelt, an eine von der ersteren unabhängige intelligible Welt u. eine übersinnliche Ordnung derselben. sowie die Möglichkeit des Handelns für einen, durch die That zu realisirenden Zweck zu begründen. Das Princip der Moral besteht hiernach in dem nothwendigen Gedanken der Intelligenz, ihre Freiheit nach dein Begriffe der Selbständigkeit unbedingt zu bestimmen, d.i. dem Gewissen unbedingt zu folgen. Es bestimmt das Sollen. Die Tugend besteht in der völligen Übereinstimmung mit sich selbst. Das Naturrecht erklärt das Rechtsverhältniß, od. die Wechselwirkung freier Wesen u. deducirt dasselbe als nothwendige Bedingung des Selbstbewußtseins. Ein Urrecht wird geläugnet; alles Recht bezieht sich nur auf Gemeinschaft; daher müssen vernünftige Wesen in einen Staat zusammentreten. Die Bestimmung des Staates ist die Verwirklichung des Vernunftrechts. In seiner späteren Darstellung nennt F. das Ideal des Staates die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden, eine Gottherrschaft, gegründet auf die klare Einsicht, daß Gott erschienen ist u. erscheinen soll in der Menschheit. Überhaupt ist es Aufgabe der Gegenwart, der Einsicht des Vernunftbegriffes Alles zu unterwerfen; daher die Forderung einer allgemeinen Volkserziehung u. einer stehenden Gelehrtenschule. Das meiste Aufsehen erregte F-s Religionsphilosophie, indem er Gott unmittelbar für die moralische Weltordnung erklärte, zu deren Annahme das Ich durch das Bewußtsein komme, daß es in seiner freien Thätigkeit durch den Begriff der Pflicht gebunden sei. In dieser moralischen Ordnung werde durch Sittlichkeit auch Seligkeit (nicht aber Glückseligkeit) bewirkt. Durch mehrere hieraus, nicht ohne Anstrich von Paradoxie, abgeleitete Sätze zog F. sich den Vorwurf des Atheismus zu. Doch weichen seine späteren Darstellungen wesentlich von jenen früheren ab, u. es erscheint die Wissenschaftslehre in ihrer neuen Gestalt mehr realistisch als idealistisch, indem F. darin, statt von der Thätigkeit des Ichs, von dem absoluten Sein Gottes ausgeht, was schlechthin durch sich selbst u. lauter Leben, u. dessen Bild od. Schema die Welt u. das Bewußtsein sei, so daß also die objective Natur die absolute Schranke für das göttliche Leben bilde. Zu den vorzüglichsten Anhängern der Fichteschen Philosophie (Fichtianer) gehören Forberg, Niethammer, Reinhold, Schad, Abicht, Mehmel u. A.; doch fand sie auch vielen Widerspruch, bes. von den Kantignern. 2) Imanuel Hermann, Sohn des Vorigen, geb.[257] 18. Juli 1797 in Jena, studirte in Berlin Philologie, machte aber die Philosophie zu seinem Hauptstudium. Indeß bestimmte ihn seine Abneigung gegen das in Preußen herrschende philosophische System Hegels zum Schulfach überzugehen. Er wurde 1822 Lehrer am Gymnasium in Saarbrücken, dann Director am Gymnasium in Düsseldorf, 1836 Professor der Philosophie in Bonn u. seit 1842 in Tübingen. Er schr.: Sätze zur Vorschule der Theologie, Stuttgart 1826; Beitrag zur Charakteristik der neueren Philosophie, Sulzb. 1829; Fichtes (seines Vaters) Leben u. literarischer Briefwechsel, ebd. 1830–31; Über Gegensatz, Wendepunkt u. Ziel heutiger Philosophie, Heidelb. 1832–36, 3 Thle.; Die Idee der Persönlichkeit u. der individuellen Fortdauer, Elberf. 1834, 2. Aufl. Lpz. 1855; Die Ontologie, Heidelb. 1836; Die speculative Theologie, ebd. 1846–47, 3 Thle.; System der Ethik, Lpz. 1850–53, 2 Bde.; Anthropologie, ebd. 1856. Außerdem schr. er mehrere kleinere Abhandlungen, darunter: Die Republik im Monarchismus, Halle 1848; Grundsätze für die Philosophie der Zukunft, Stuttg. 1848, u.a., meist abgedruckt in der von ihm begründeten Zeitschrift für Philosophie u. speculative Theologie, Bonn 1837–48, 20 Bde., fortgesetzt mit Ulrici u. Wirth 1848 ff. Sein religiös-philosophisches System nennt er den concreten Theismus, welchen er dem Hegelschen Pantheismus gegenüber stellt.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 6. Altenburg 1858, S. 256-258.
Lizenz:
Faksimiles:
256 | 257 | 258
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon