Gletscher

[404] Gletscher (französ. Glacier, isländ. Jökul), Ausläufer, Absenker des ewigen Schnees nach unten, wie sie in den Alpen, in den Gebirgen des Nordens (Norwegen, Island) u. im Himalayagebirge vorkommen. Wo nämlich die Wärme des Sommers nicht im Stande ist, allen Schnee, der sich im Winter gesammelt hat, wegzuschmelzen, da ist die Schneelinie, deren Lage folglich außer von der mittleren Jahreswärme auch von der Menge[404] des fallenden Schnees abhängt. In den Alpen ist die mittlere Höhe der Schneelinie 8100 Par. Fuß bei einer mittleren Jahrestemperatur von 3° R. Das ewige Eis ist indeß nicht auf die oberhalb der Schneelinie liegenden Gegenden beschränkt, sondern von hier aus werden in Thalgründen Eismassen von 2000 bis 15,000 F. Breite u. ungemessener Tiefe (wahrscheinlich nicht selten mehrere Tausend Fuß) nach den Niederungen bis zu Entfernungen von mehreren geographischen Meilen vorgeschoben u. diese von Schnee, der nicht an Ort u. Stelle fällt, sondern aus höheren Gegenden seinen Ursprung hat, unterhaltenen Eismassen heißen G. Wie sehr auch eine solche Masse starr u. ohne Bewegung u. einem erstarrten Lavastrom vergleichbar wie das Ergebniß eines einzigen Ausflusses erscheint, so muß man doch ein stetiges Fließen schon deshalb voraussetzen, weil sich ohne dieß nicht erklären ließe, wie der G. bestehen könnte, ohne zu schwinden, da er doch in Folge der Sonnenwärme u. Verdunstung in unaufhörlicher Auflösung begriffen ist. In der That wird dies auch direct durch Messungen bestätigt, welche nach hinreichend langen Zwischenräumen die Lage eines kenntlichen, auf dem Rücken des G-s befindlichen Felsblockes gegen einen feststehenden Punkt der Thalwand bestimmen. Bei solcher stetiger progressiver Bewegung erreicht das Gletschereis eine um so größere Tiefe unterhalb der Schneelinie, je abschüssiger das Terrain u. je reichhaltiger die Schneeansammlungen sind, von denen aus der G. fortwährend gespeist wird. Der G. erreicht sein Ende da, wo sich der Verlust durch Schmelzen u. Verdunstung mit dem Ersatz aus den höheren Theilen das Gleichgewicht hatt. So steigt z.B. der Grindelwaldgletscher bis zu 3000 F. Höhe, wo die mittlere Jahrestemperatur + 5° R. ist, der Unteraargletscher nur bis zu 6000 F. herab.

Das Material der G. ist Eis, welches von dem Firnschnee an, der sich an ihrem Ausgangspunkte in einem Bassin angesammelt findet u. durch das in den lockern Schnee eingesickerte u. dann gefrorne Wasser gebildet wird, mit dem Vorrücken nach der Tiefe allmälig immer grobkörniger wird. Die Körnerstructur des Gletschereises erklären die Gebrüder Schlagintweit aus den Rissen, welche in Folge einer ungleichartigen Zusammenziehung der innern u. äußern Schichten des Eises bei schneller Temperaturveränderung entstehen müssen. Durch die im Innern enthaltenen zahlreichen Luftblasen bilden sich die feinen Haarspalten zu weiteren Kanälen um, die zur Communication für das eindringende Schmelzwasser dienen u. den Körnern die rundlichen Begränzungsflächen geben. Aus dieser Art Entstehung ergibt sich unmittelbar, daß bei größerer Kälte die Risse zahlreicher u. die Masse feinkörniger werden muß, u. dies ist der Grund, warum in den höheren u. kältern Theilen des G-s die Körner kleiner als in den tieferen u. wärmeren sind. Denn da die Theile an der Oberfläche beim Vorrücken des Gletschereises immer durch Schmelzen u. Verdunstung verschwinden, so kommen die unteren, von Rissen noch nicht durchzogenen Schichten zu Tage, aus denen sich bei geringerer Kälte größere Körner bilden. Während das luftblasenreiche Eis in Folge der Reflexion der Lichtstrahlen an den Blasen weiß erscheint, trägt das Eis, welches mit wassererfüllten Kanälen durchzogen ist, die gleichmäßige, schöne, dem Eise in größeren Massen eigenthümliche blaue Farbe. Solche Partien von Eis durchsetzen in gewissen Lagen als schmale blaue Bänder das weiße Eis u. führen die Flüssigkeit bis zu unbestimmbaren Tiefen; wogegen im weißen Eise die Tränkung nur bis zu einer Tiefe von 2 bis 3 Meter reicht. Die Oberfläche des G-s ist in Folge der Auswaschungen des schmelzenden u. am Tage zu kleinen Bächen sich ansammelnden Wassers immer mehr od. weniger wellenförmig, u. Spalten (Crevasses), welche in der Breite von wenigen Zollen bis zu mehreren Klaftern, der Länge nach aber bisweilen von der einen Thalwand bis zur gegenüberstehenden sich erstrecken u. vertical häufig bis zum Boden herabreichen, durchsetzen an vielen Stellen die Eismasse. Sie werden bes. zahlreich u. unregelmäßig, wo der G. auf abschüssigem Thalboden sich über den Rand eines Abgrundes stürzt. Die Prismen, welche hier durch das sich Kreuzen der Risse gebildet werden, verwandeln sich nach außen in Folge der Berührung mit der Luft u. durch die Einwirkung des Regens in Pyramiden von den mannichfaltigsten Formen, während nach innen das Wasser in dem dunkelblauen Eise mächtige Höhlen (Eiskeller) auswäscht; so z.B. am Rosenläig. Gelangt dann der G. wieder in weniger abschüssiges Land, so consolidirt sich das Eis wieder zu seiner vorigen Beschaffenheit.

Die feine Zersplitterung des Eises, welche durch den Druck der ungeheuern Massen u. die Reibung gegen die Unterlage entsteht u. durch den Reichthum an Luftblasen unterstützt wird, gibt dem G. eine Verschiebbarkeit u. Plasticität, welche sich namentlich darin bethätigt, daß der G. in Thalweitungen sich ausbreitet u. durch Thalbiegungen im Fortschreiten nicht gehindert wird. Die Schnelligkeit des Fortrückens hängt von der Neigung des Thalgrundes ab; sie beträgt am Unteraargletscher jährlich 160–250 F.; am Mer de Glace in den steileren Theilen in der Mitte bis 820 F., an der Seite bis 460 F., an den minder steilen Stellen 200 F.; als mittlere Bewegung von acht Jahren ergab sich für den Glacier de Lechaud 280 F. An den G-n Norwegens fand Forbes die Geschwindigkeit der Bewegung durchschnittlich ebenso groß als unter gleichen Verhältnissen in der Schweiz, z.B. am Krondalgletscher 168 F. jährlich. Überwiegt nun unter besonderen obwaltenden Temperaturverhältnissen die Geschwindigkeit des Nachrückens diejenige des Abschmelzens am Gletscherende, so ist der G. im Fortschreiten, er ist dann an seinem Rande mit umgestürzten Bäumen u. frisch zerrissenem Rasen umgeben; überwiegt aber die Menge des schwindenden Eises diejenige des Zuflusses von oben, so zieht sich der G. zurück, vor seiner Basis findet man dann große Felsflächen ohne eine Spur von Vegetation mit Felsblöcken überstreut. Im Jahre 1818 betrug das Fortschreiten der Basis am Rhonegletscher 150 F. Für die Vorwärtsbewegung der Eismasse innerhalb des G-s gab Saussure als Grund an, daß die eigene Schwere u. der Druck der obersten Eismassen den G. auf dem abschüssigen Boden fortbewege, Charpentier u. Agassiz, daß die Bewegung durch das nächtliche Gefrieren des am Tage an der Oberfläche aufgethauten u. in den Haarspalten zwischen den Eiskörnern eingedrungenen Wassers bewirkt werde, da das Wasser beim Frieren sich bekanntlich sehr ausdehnt; dagegen haben Bronn, Merian u. Forbes bemerkbar gemacht daß das Wasser in den [405] Spalten des Eises den ganzen Sommer über nicht friert u. doch gerade da die Geschwindigkeit am größten ist, u. daß die Bewegung nicht eine ruckweise, von Perioden der Ruhe unterbrochene, sondern eine stetige ist. Daher hat Agassiz seine Hypothese selbst wieder aufgegeben, u. man glaubt, daß wenn da, wo der G. auf der abschüssigen Unterlage aufliegt (am Gletscherbett), das Eis abschmilzt u. Höhlungen bildet, die aufdrückende Last ein Vorrücken thalabwärts bewirken muß. Solche Eishöhlen (Eiskeller) werden bes. durch das sich unten sammelnde Wasser von oben her od. die auf dem Grunde des G-s entspringenden Quellen, sowie durch den Luftzug bewirkt, welcher durch die Gletscherspalten stattfindet, indem sich die innere kalte Luft fortwährend mit der äußeren warmen ins Gleichgewicht setzen will (der G. bläst aus). Eine allmälige Beschleunigung der Bewegung, wie beim Fall der Körper auf der schiefen Ebene, tritt deshalb nicht ein, weil, sobald das Gleiten eintritt, durch die Nachgiebigkeit der Masse die Berührungsstellen sich wieder vermehren u. mithin die Reibung eine starke Bewegung nie zuläßt. Der G. schiebt sich also mit gleichmäßiger, langsamer Bewegung fort, so lange das Abschmelzen an der Bodenfläche in gleichem Maße vor sich geht u. der lastende Druck der nämliche bleibt. Im Sommer ist die Bewegung in Folge des schnelleren Schmelzens beschleunigt. Der stärkere Druck der in der Mitte mächtigeren Eismassen u. die größere Menge des hier am Boden zusammenströmenden u. ein Abschmelzen bewirkenden Wassers sind die Ursachen der Thatsache, daß die Bewegung des G-s in der Mitte schneller ist, als an den Rändern.

Bes. merkwürdig ist das Verhalten der fremdartigen Körper auf dem Rücken des G-s. Die höheren Theile der G. befinden sich immer oberhalb der Grenze der Vegetation u. sind hier von kahlen Felsen umgeben, welche den Einwirkungen der Atmosphäre, der intensiven Sonnenstrahlung u. häufigen Wechsel schmelzenden u. frierenden Wassers preisgegeben sind. Dies hat die Folge, daß diese Felsen ungemein schnell verwittern u. daß sich häufig Felsblöcke von ihnen lösen, welche auf den Rücken des G-s herabstürzen. Unterhalb einiger solcher günstig gelegener Felsen würden sich nun große Haufen von Felsstücken aufschichten, wenn der G. eine ruhende Masse wäre. Da aber derselbe zwischen je zwei Felsstürzen sich vorwärts bewegt, so bilden sich hierdurch längs der Thalwand zusammenhängende Reihen von Trümmermassen, welche man Moränen, bestimmter Seitenmoränen od. Gandecken (Moraines latérales) nennt. Jeder G. hat also deren zwei. Neben ihnen entdeckt man aber häufig noch eine od. mehrere Mittelmoränen od. Gufferlinien (Moraines superficielles), das sind Ketten od. Wälle von Felsstücken, welche nach der Länge des G-s in der Mitte hinlaufend, denselben in zwei od. mehrere G. zu theilen scheinen. Sie haben ihren Ursprung aus dem Zusammenfluß je zweier Gletscherarme, deren zusammenstoßende Gandecken sich zu einer Gufferlinie vereinigen, u. häufig kann man noch das verschiedene Material, das aus den verschieden Thälern stammt, scharf gesondert an der Mittelmoräne bis zum Ende des G-s verfolgen. Da die Decke der Felsstücke das darunter befindliche Eis vor Verdunstung u. Sonnenstrahlung schützt, so behält dasselbe größere Höhe als die nebenliegenden Theile des G-s, u. so stellt sich das Ganze als ein Eiswall dar, der auf seiner obern Kante u. an beiden Abhängen nur oberflächlich die Felsstücke trägt. In besonderer Größe u. bis zu 80 F. Höhe ist eine Mittelmoräne am Untern Aargletscher von der Vereinigung des Finsteraar- u. Lauteraargletschers an abwärts zu beobachten. Liegen dicke Felsblöcke abgesondert von den übrigen, so bilden sie Gletschertische (Champignons de glacier), indem sie das unter ihnen befindliche Eis schützen u. dasselbe bei dem Schwinden des umgebenden Eises pfeilerförmig stehen bleibt. Wird das Eispiedestal mehr u. mehr unterhöhlt, so stürzt die Platte endlich nach der Seite, von welcher die Sonne am stärksten wirkt, bildet aber alsbald einen neuen Gletschertisch. Kleinere Steinfragmente, todte Insecten, Blätter u. dergl. wirken gerade entgegengesetzt, denn indem sie stärker durch die Sonnenstrahlen erwärmt werden, als das Eis, so schmelzen sie in ihre Unterlage ein u. bilden Eislöcher, welche die Oberfläche des G-s oft siebartig erscheinen lassen. Sammelt sich aber in einer Vertiefung mehr u. mehr Sand u. Gerölle an, so kann dies endlich solche Dicke erreichen, daß die Erwärmung nicht mehr bis zum Eis durchdringt u. daß es nun zur schützenden Decke wird. Die Vertiefungen verwandeln sich dann allmälig beim Schwinden der Umgebung zu Kieskegeln. welche auf dem Aargletscher eine Höhe bis zu 20 F. u. einen Umfang bis 80 Fuß erreichen. Am Ende des G-s finden sich in der Regel Endmoränen (Moraines frontales), Wälle von Felsblöcken, welche der G. bei seiner Bewegung vor sich herschiebt.

Die geologischen Wirkungen der G. bestehen erstlich in den Gletscherschliffen, d.i. Felsflächen, welche beim Vorrücken des G-s durch die Reibung der fortbewegten Steine polirt u. abgeschliffen sind, u. deren sich häufig weit thalabwärts der noch existirenden G., ja bisweilen in Gebirgen finden, die jetzt gar keine G. mehr enthalten, zum Beweis einer früheren Existenz der G. daselbst; zweitens in dem Fortschaffen großer Felsblöcke auf weite Distanzen u. auch hier deutet man sich oft das Vorkommen ungeheurer u. zahlreicher Erratischer Blöcke durch eine ehemalige Existenz von G-n. Das Reisen auf G-n ist äußerst beschwerlich, denn schreitet man auf dem Eise vorwärts, so muß man oft gefährliche Sprünge über schmälere Spalten machen, od. die breiteren auf weitem Umwege umgehen, od. wählt man den Weg auf einer Moräne, so findet man die meisten Felsblöcke in der schwankendsten Lage; od. erklimmt man die den G. einschließenden Felsen, so wird man oft durch die Zerklüftung derselben genöthigt, mit noch größerer Beschwerde wieder herabzusteigen. Die G. werden durch die Kälte, die sie verbreiten, durch das Versperren der Wege, durch Breiten u. Vorrücken, durch Herabstürzen in tiefe Thäler (Gletscherlawinen) wo sie auf das Klima bedeutend einwirken u. zur Fortbildung von G-n in diesen Gegenden Anlaß geben, sehr beschwerlich. Dagegen bilden sie einen Wasserstock für die ansehnlichsten Flüsse, denen sie viel Wasser zuführen. Das Gletschereis u. frisch gebildete Gletscherwasser schmecken scharf u. wirken purgirend. Vgl. Saussure, Voyage dans les Alpes, 1. Th.; Agassiz, Études sur les glaciers, 1840; Rendu, Théorie des glaciers de la Savoye, Chambery 1840; Charpentier, Essai [406] sur les glaciers etc., Lausanne 1840; Forbes, Travels in the Alps of Savoy, Edinb. 1843; Ders., Norway and its glaciers, ebd. 1851; Ders., The tour of Mont Blanc and of Monte Rosa, ebd. 1855; Hugi, Wesen der Gletscher, Stuttg. 1842; Mousson, Die Gletscher der Jetztzeit, Zür. 1854.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 404-407.
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