[643] Gerichtsverfassung (Gerichtsorganisation, hierzu die Textbeilage: »Die Gerichtsorganisation im Deutschen Reich«), der Inbegriff der Grundsätze, die sich auf die Art der Gerichte, deren Unter- und Überordnung (Instanzenzug), deren Zuständigkeit und Besetzung (s.d.) sowie auf die Rechte und Pflichten der dabei mitwirkenden Personen (einschließlich der Staatsanwaltschaft) beziehen. Für das Deutsche Reich ist eine einheitliche G. durch das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 herbeigeführt worden (vgl. Gerichtsordnung). Nach diesem Gesetz (§ 12) wird die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit (s.d.) durch Amtsgerichte, Landgerichte, durch Oberlandesgerichte und durch das Reichsgericht ausgeübt (vgl. die Textbeilage). Außerdem gibt es in Bayern ein oberstes Landesgericht (s.d.). Im einzelnen sind die Grundzüge der gegenwärtigen deutschen G. folgende:
Erste Instanz: 1) Vor den Amtsgerichten (s.d.) werden vermögensrechtliche Ansprüche bis zum Betrage von 300 Mk. verhandelt und entschieden, ferner ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes gewisse andre Rechtsstreitigkeiten, deren Wesen ein besonders schleuniges Verfahren erheischt oder eine besondere Vertrautheit mit den einschlägigen örtlichen Verhältnissen voraussetzt (s. Freiwillige Gerichtsbarkeit). Außerdem sind die Amtsgerichte ohne Rücksicht auf den Betrag der Streitsumme für das Mahnverfahren (s.d.) sowie für das Entmündigungsverfahren (s. Entmündigung) und das Aufgebotsverfahren (s.d.) zuständig und stellen das Vollstreckungsgericht dar (vgl. Amtsgerichte und Zwangsvollstreckung). 2) Vor die Landgerichte (s.d.), und zwar vor deren mit drei Richtern besetzte Zivilkammern, gehören alle Prozeßsachen, deren Wertbetrag den Betrag von 300 Mk. übersteigt, und die nicht vor die Amtsgerichte verwiesen sind; ferner haben die Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes über bestimmte Klagen gegen den Reichsfiskus und gegen Reichsbeamte sowie über gewisse andre Klagen, z. B. solche in Ehesachen, über die Anfechtung der Entmündigung etc., zu entscheiden. Soweit die Landesjustizverwaltung das Bedürfnis hierzu als vorhanden annimmt, dürfen bei den Landgerichten für deren Bezirke oder für örtlich abgegrenzte Teile Kammern für Handelssachen gebildet werden, die mit einem Mitglied des Landgerichts oder einem Amtsrichter als Vorsitzenden und mit zwei dem Kaufmannsstand angehörigen Handelsrichtern besetzt sind (s. Handelsgerichte).
Zweite Instanz: 1) Die Landgerichte, und zwar deren Zivilkammern, bilden für die in erster Instanz an die Amtsgerichte verwiesenen Sachen die zweite Instanz (das Berufungsgericht). Gegen die amtsgerichtlichen Urteile ist der Regel nach Berufung (s.d.) und gegen sonstige Verfügungen des Amtsgerichts Beschwerde (s.d.) gegeben. 2) Die Oberlandesgerichte, und zwar deren mit fünf Richtern zu besetzenden Zivilsenate, entscheiden über die Berufung, die gegen die erstinstanzlichen Endurteile der Landgerichte eingelegt wird, und über die gegen landgerichtliche Entscheidungen eingelegten Beschwerden.
Dritte und höchste Instanz: 1) Das Reichsgericht in Leipzig entscheidet regelmäßig in letzter Instanz über das gegen die Endurteile der Oberlandesgerichte zulässige Rechtsmittel der Revision (s.d.). Die Entscheidung erfolgt durch einen Zivilsenat, der mit sieben Mitgliedern besetzt ist. Die Zulässigkeit dieses Rechtsmittels ist der Regel nach durch eine Revisionssumme von mindestens 1500 Mk. bedingt. 2) Das Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz enthält (in § 8) für die größern Bundesstaaten, in denen mehrere Oberlandesgerichte errichtet werden, einen Vorbehalt, nach dem die Verhandlung und Entscheidung der zur Zuständigkeit des Reichsgerichts gehörigen Revisionen und Beschwerden in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten auch einem obersten Landesgerichte zugewiesen werden kann. Diese Vorschrift findet nach § 8 keine Anwendung auf Rechtsstreitigkeiten, die früher zur Zuständigkeit des Reichsoberhandelsgerichts gehörten oder durch besondere Reichsgesetze dem Reichsgerichte zugewiesen werden. Nach Art. 8 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch hat das Reichsgericht auch dann zu entscheiden, wenn ein Anspruch auf Grund dieses Gesetzbuches (durch Klage oder Widerklage) geltend gemacht ist. Von dem erwähnten Vorbehalt hat nur Bayern Gebrauch gemacht, das ein oberstes Landesgericht in München errichtete. Eine solche Einrichtung ist nach dem Reichsgesetz vom 11. April 1877 für denjenigen Bundesstaat, in dessen Gebiet das Reichsgericht seinen Sitz hat, also für Sachsen, ausgeschlossen.
Erste Instanz: 1) Amtsgerichte mit Schöffengerichten, die aus dem Amtsrichter als Vorsitzendem und zwei aus dem Volk erwählten Schöffen gebildet werden, sind für die Übertretungen und für diejenigen Vergehen, die nur mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Hast oder mit Geldstrafe bis zu 600 Mk. bedroht sind, zuständig; auch dürfen die Strafkammern der Landgerichte eine Reihe leichterer Vergehen auf Antrag der Staatsanwaltschaft an jene überweisen, wenn voraussichtlich keine höhere Strafe als die angegebene eintreten wird. Außerdem gehören vor die Schöffengerichte noch Beleidigungen und Körperverletzungen, die im Wege der Privatklage verfolgt werden; ferner der einfache Diebstahl und Betrug, die einfache Unterschlagung und Sachbeschädigung,[643] wofern der Wertbetrag des Verbrechensgegenstandes die Summe von 25 Mk. nicht übersteigt, und endlich die Begünstigung und Hehlerei, wenn die verbrecherischen Handlungen, auf die sie sich beziehen, ebenfalls zur schöffengerichtlichen Zuständigkeit gehören. Bei Übertretungen und geringen Vergehen kann der Amtsrichter auf Antrag des Amtsanwaltes, der bei dem Amtsgericht als Staatsanwalt tätig ist, ohne vorgängige Verhandlung Strafbefehle (Strafmandate) erlassen und darin Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen oder Geldstrafe bis zu 150 Mk. festsetzen, die, wenn dagegen nicht binnen einer Woche Einspruch erhoben wird, vollstreckbar werden. Im Fall des Einspruchs wird zur Verhandlung geschritten. Endlich sind die Amtsgerichte (s.d.) zur Entgegennahme von Anzeigen und zur Vornahme von Untersuchungshandlungen auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Untersuchungsrichters verpflichtet. 2) Die Strafkammern der Landgerichte sind für diejenigen Vergehen zuständig, die nicht vor die Schöffengerichte gehören; ferner für diejenigen Verbrechen, die höchstens mit fünfjähriger Zuchthausstrafe bedroht sind; dann für die Verbrecher jugendlicher (noch nicht 18jähriger) Personen, für gewisse Unzuchtsverbrechen, für schweren Diebstahl und schwere Hehlerei sowie für Betrug, Diebstahl und Hehlerei im wiederholten Rückfall, endlich auch für verschiedene in besondern Reichsgesetzen, z. B. im Bank- und Aktiengesetz, für strafbar erklärten Handlungen. Eine Mitwirkung des Laienelements ist in diesem Verfahren ausgeschlossen; dafür müssen aber die Strafkammern mit fünf Richtern besetzt sein, und ist zu einer Verurteilung eine Mehrheit von vier Stimmen erforderlich. Zur Führung der Voruntersuchung (s.d.) ist bei dem Landgericht ein Untersuchungsrichter zu bestellen, der an dem Hauptverfahren selbst keinen Anteil nehmen darf. 3) Schwurgerichte, die in gewissen Zeitabschnitten bei den Landgerichten zusammentreten und aus drei richterlichen Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden bestehen, urteilen über schwere Verbrechen; hierbei entscheiden über die Schuldfrage zwölf Geschworne. 4) Das Reichsgericht entscheidet in erster und letzter Instanz über die gegen Kaiser oder Reich gerichteten Verbrechen des Hochverrats und des Landesverrats.
Berufungsinstanz: Eine Berufung (Appellation), durch welche die nochmalige Verhandlung, der Tatfrage sowohl als der Rechtsfrage, in zweiter Instanz veranlaßt wird, findet nur gegen Urteile der Schöffengerichte statt; sie geht an die Strafkammer des Landgerichts. Für die Einführung einer Berufung gegen Urteile der Strafkammern ist eine lebhafte Bewegung im Gange; auch wurde der Reichstag bereits mit einer darauf bezüglichen Regierungsvorlage befaßt, hinsichtlich deren eine Verständigung bis jetzt nicht erzielt worden ist (s. Berufung und Rechtsmittel).
Revisionsinstanz: Durch das gegen die Strafurteile der Landgerichte und der Schwurgerichte zulässige Rechtsmittel der Revision (s.d.) ist die Möglichkeit gegeben, für den Fall der Verletzung eines Gesetzes eine nochmalige Prüfung und Entscheidung im Rechtspunkte herbeizuführen. Als Revisionsgerichte entscheiden: 1) Die mit fünf Richtern besetzten Strafsenate der Oberlandesgerichte, wenn es sich um die Anfechtung von Urteilen der Strafkammern in der Berufungsinstanz oder von erstinstanzlichen Urteilen derselben handelt, bezüglich deren die Revision ausschließlich auf die angebliche Verletzung einer landesgesetzlichen Bestimmung gestützt wird. 2) Soweit es sich um die Verletzung einer reichs gesetzlichen Norm durch ein erstinstanzliches Urteil der Strafkammer handelt, so geht die Revision an das Reichsgericht, das auch über alle gegen Urteile der Schwurgerichte eingelegte Revisionen zu entscheiden hal.
Beschwerdeinstanz: Abgesehen von den eigentlichen Strafurteilen können auch richterliche Verfügungen und Anordnungen, die jenen vorausgehen und sie vorbereiten, zu Beschwerden Veranlassung geben; zur Entscheidung darüber sind 1) die Strafkammern der Landgerichte, insofern es sich um Anordnungen des Untersuchungsrichters, des Amtsrichters oder der Schöffengerichte, und 2) die Oberlandesgerichte berufen, wenn es sich um Beschlüsse der Strafkammern selbst oder des Gerichtshofs der Schwurgerichte handelt. Eine Übersicht sämtlicher Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte im Deutschen Reich gibt die Textbeilage. Vgl. die Ausgaben des Gerichtsverfassungsgesetzes von Gareis (Gießen 1899), Mamroth (Berl. 1900), Hellweg (12. Aufl., das. 1903), Aufseß (Leipz. 1901).
Die österreichische Zivilgerichtsverfassung beruht auf dem Gesetz vom 1. Aug. 1895 über die Jurisdiktionsnorm, das auch die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen regelt. Für die Strafgerichtsbarkeit ist hier die Strafprozeßordnung vom 23. Mai 1873 maßgebend. Hiernach sind in Zivilrechts angelegenheiten in erster Instanz zur Ausübung der Gerichtsbarkeit die (den deutschen Amtsgerichten entsprechenden) Bezirksgerichte, die Kreis- oder Landesgerichte, die Handelsgerichte sowie die Handels- und Seegerichte berufen. Über die Rechtsmittel gegen Urteile und Beschlüsse der Bezirksgerichte, d. h. über Berufung und Rekurs (s. Beschwerde), haben in zweiter Instanz die Kreis- und Landesgerichte oder die Handelsgerichte zu entscheiden, während die Entscheidung in dritter Instanz dem obersten Gerichtshofe zusteht. Über Berufung und Rekurs gegen Entscheidungen der Kreis- und Landesgerichte und diejenigen der Handelsgerichte entscheiden die Oberlandesgerichte in zweiter Instanz, während in dritter (über Revision und Rekurs auch hier) der oberste Gerichtshof entscheidet. In Strafsachen entscheidet in erster Instanz der Bezirksrichter bei Übertretungen, der Gerichtshof erster Instanz (das Landes-, resp. Kreisgericht) bei Vergehen und Verbrechen, der Schwurgerichtshof bei politischen Delikten, beim Verbrechen des Mißbrauchs der Amtsgewalt und bei solchen Verbrechen, die mit mindestens 5 Jahr schweren Kerkers bestraft werden. Die Berufung gegen das Strafmaß geht vom Gerichtshof erster Instanz, resp. vom Schwurgericht an das Oberlandesgericht, die Nichtigkeitsbeschwerde an den Obersten Gerichts- und Kassationshof. Gegen die Entscheidungen der Bezirksrichter steht die Berufung an den Gerichtshof erster Instanz offen. Eine dritte Instanz besteht in Strafsachen nicht. Den Militärgerichten sind die von Militärpersonen begangenen strafbaren Handlungen zugewiesen. Außerdem existieren Gewerbe- und Schiedsgerichte. Als Verfassungsgerichte entscheiden in Österreich der Staatsgerichtshof, das Reichsgericht und der Verwaltungsgerichtshof. Vgl. für Österreich: Schauer, Die Gerichtsorganisationsgesetze und die neue Geschäftsordnung (2. Aufl., mit Hoedl, Wien 1901).
Buchempfehlung
Nachdem Christian Reuter 1694 von seiner Vermieterin auf die Straße gesetzt wird weil er die Miete nicht bezahlt hat, schreibt er eine Karikatur über den kleinbürgerlichen Lebensstil der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«, die einen Studenten vor die Tür setzt, der seine Miete nicht bezahlt.
40 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro