Klimatische Kurorte

[139] Klimatische Kurorte, Orte, deren Klima (s. d.) den Verlauf gewisser Krankheiten günstig zu beeinflussen vermag. Als klimatische Faktoren kommen hauptsächlich in Betracht: die Entfernung vom Äquator, die Höhenlage, die Beschaffenheit des Bodens (Berg, Tal, Ebene), die Nähe des Meeres, die Bewachsung des Bodens (Ackerfeld, Wiese, Wald) und die Bewässerung (fließende, stehende Gewässer). Diese Faktoren bestimmen die Dichtigkeit der Luft, ihre Temperatur und Feuchtigkeit, die Häufigkeit der Niederschläge, den größern oder geringern Schutz vor Winden, das Maß der Besonnung und die Reinheit der Luft von Staub. Daß k. K. nicht in der Nähe großer gewerblicher Betriebe, welche die Luft verunreinigen, liegen können, ist selbstverständlich. In bezug auf die Benutzung zu Heilzwecken unterscheidet man das See- und Küstenklima von den Klimaten des Binnenlandes, die wieder wesentlich verschieden sind, je nachdem es sich um höher oder niedriger gelegene Ebenen, um Täler, Berge, um höhere Gebirge oder um das eigentliche Hochgebirge handelt. Die höhern Gebirge unterscheiden sich wieder wesentlich, je nachdem sie unter dem Einfluß von Hochgebirgen stehen oder nicht. Dabei bleibt immer die Hauptfrage, ob der Gang der Witterungserscheinungen gleichmäßig ist oder nicht. Beachtenswert sind endlich die Winterstationen, in denen der Winter verhältnismäßig günstig auftritt. Man unterscheidet folgende Gruppen:

1) Die binnenländischen Ebenen, Täler, Kesseltäler und Höhen bis 400 m ü. M. Je mehr sie in geschützter Lage von Wald und Höhen umgeben sind, um so gleichmäßiger ist die Wärme. Es sind vorzugsweise reizbare, schwächliche Personen, Neurastheniker, Rekonvaleszenten von erschöpfenden Krankheiten, Kranke, die an Katarrhen der Schleimhäute und der Lunge leiden oder zu Erkältungen und Rheumatismus disponiert sind, die hier Besserung finden. Hierzu zählen zahlreiche Orte am Harz, Kalw im Nagoldtal in Württemberg (349 m), mit Tannenluft, Freiburg i. Br., Gernsbach bei Baden-Baden (211 m), Grund am südlichen Harz (303 m), mit Fichtennadelbädern, Milch-, Kräuter- und andern Kuren, Hornberg im Schwarzwald (386 m), Suggenthal ebenda, Neckargemünd (121 m), Wilhelmsbad bei Hanau. Die mildesten, die sich namentlich für den Vorfrühling eignen, sind Baden-Baden, Wiesbaden, Soden, Honnef.

2) Das Bergklima (400–800 m Höhe). Die wechselnde Temperatur dieser meist waldreichen Orte wirkt anregend auf Nervensystem, Atmung und Ernährung, so daß diese Höhenkurorte für sehr viele nicht allzu zarte und reizbare Kranke und Erholungsbedürftige passen. Hierher gehören: Reichenhall in Oberbayern (470 m), St. Andreasberg im Oberharz (ca. 600 m), St. Blasien im Schwarzwald (772 m), Elgersburg (546 m) und Friedrichroda in Thüringen (440 m), Görbersdorf in [139] Schlesien (561 m), für chronische Lungenleiden Lauterbach am Harz (300 m), Streitberg in Franken (483 m), Triberg im Schwarzwald (618 m).

3) Mittlere Höhen unter alpinem Einfluß (500–900 m) unterscheiden sich von den vorigen nur graduell, so daß sie etwas kräftigere Konstitution der Kranken voraussetzen. Zu diesen zählen Badersee im bayrischen Hochgebirge (766 m), Axenstein (750 m ü. M. und 240 m über dem See), nahe dem am See tiefer gelegenen Brunnen, Sonnenberg auf Seelisberg (845 m), Becken ri ed (437 m), Weggis am Vierwaldstätter See, Thun und Brienz, Interlaken im Berner Oberland (ca. 600 m ü. M.), Sitten im Kanton Wallis (506 m), Thusis (746 m) an der Via mala zwischen Chur und dem Engadin, Walzenhausen über dem Bodensee, Weißbad, Wolfsberg u. a. Diese schweizerischen Kurorte bilden den Übergang zum

4) eigentlichen Hochgebirge, Alpenkurorte (900 m Höhe und darüber) mit dünner, trockner Atmosphäre, die schroffen Temperaturwechseln ausgesetzt ist; ihr wichtigster Heilfaktor ist die infolge geringerer Wärmeabsorption in der Luft gesteigerte Stärke der Sonnenbestrahlung; daß solche starke Sonnenbestrahlung heilend auf kranke Menschen einwirkt, ist sicher, unsicher aber ist das Wie? Nur Schwerkranke gehören nicht ins Hochgebirge; günstig wirkt es bei manchen Formen von Bleichsucht, von Verdauungsträgheit, bei Asthma, Skrofulose, chronischen Lungenentzündungen und namentlich Schwindsucht. Als Winteraufenthalt ist besonders Davos in Graubünden (1559 m) bekannt, dessen klare, sonnige, im Winter mehr gleichmäßige Luft einen Aufenthalt von ca. 61/2 Stunden im Freien während der Wintertage gestattet und Tausende von Schwindsüchtigen bereits geheilt hat. In dessen Nähe sind noch zu nennen: Arosa (1890 m), Wiesen, Blavadel, ferner Andermatt (1440 m) und St. Moriz (1770 m), diese alle auch für Winterkuren. Für Sommerkuren: St. Beatenberg im Berner Oberland (1148 m), Bergün (1364 m) am Albulapaß, Churwalden (1225 m), das sich als Übergangsstation vor und nach dem Aufenthalt in noch höher gelegenen Orten besonders empfiehlt, Engelberg in Unterwalden (1023 m) in sehr geschützter Lage, Tarasp (1270 m), Fettan (1647 m), Samaden, Pontresina, Sils Maria (diese ca. 1800 m hoch) im Engadin, Bormio an der Stilfserjochstraße (1375 m), Campiglio (1553 m) in Südtirol, Schmeks am Südabhang der Hohen Tátra in Ungarn u. a.

5) Das Seeklima ist ausgezeichnet durch hohen Luftdruck bei reichlicher Feuchtigkeit, größere Gleichmäßigkeit der Temperatur als im Binnenland, stärkende, kräftige Winde. Es ist aber für die rauhern Orte an der Nordsee und am Ozean eine widerstandsfähige Konstitution notwendig, da schwächliche und reizbare Personen das Seeklima nicht vertragen können. Für Deutschland kommen wesentlich die Bäder am Ostsee- und Nordseestrand in Frage, von denen die erstern die mildern, die letztern die stärkern sind, sowohl was die Kraft der Wellen als den Salzgehalt des Wassers, die Stärke der Luftbewegung und die Feuchtigkeit der Luft anbelangt. An der Ostsee sind außer zahlreichen einfachen und billigen Stranddörfern zu nennen: Zoppot bei Danzig, Kolberg, Dievenow, Misdroy, Heringsdorf, Swinemünde, Zinnowitz, Binz, Göhren, Saßnitz auf Rügen, Doberan, Klampenborg und Marienlyst in Dänemark. An der Nordsee liegen Wyk auf Föhr in Schleswig, das Hospiz des Klosters Loccum auf Langeoog, Amrum, Sylt, Helgoland, Norderney, das auch als Winterstation benutzt wird. Borkum, Ostende und Scheveningen in Holland. Während alle bisher aufgezählten klimatischen Kurorte ihre Saison vom Juni bis Mitte oder Ende September haben, mit Ausnahme einiger Höhen- und Seekurorte, gibt es

6) klimatische Winterstationen, die entweder im Binnenland an geschützter Stelle gelegene Plätze mit gleichmäßigem, nicht zu kaltem Klima, frühem, mildem Frühling sind, wie Kinderhospiz in Salzuflen (Lippe), Baden-Baden, Wiesbaden, Soden, oder südlicher liegen und schwächern Kranken über den rauhen Winter möglichst vollkommen hinweghelfen sollen, wie die klimatischen Kurorte am Südabhang der Alpen: Locarno, Lugano, Pallanza, Pegli bei Genua, Ajaccio auf Korsika, Venedig, Bordighera, San Remo, in trockner, warmer Luft, Cannes, Mentone, Nervi, Nizza an der Riviera di Ponente, Meran in Südtirol, Madeira, Kairo (Heluan), Biskra (an der Sahara). Alle diese Winterkurorte sind für schwache Rekonvaleszenten, für Lungenkranke und nervöse Patienten geeignet, sofern diesen die Möglichkeit geboten wird, während des ganzen Winters fast täglich die freie Luft zu genießen. Speziell für Lungenkranke hat man an mehreren klimatisch begünstigten Orten Einrichtungen getroffen, welche die Ausnutzung des Winters zu erfolgreicher ärztlicher Behandlung gestatten, so namentlich zu Falkenstein im Taunus, Görbersdorf in Schlesien und Reiboldsgrün in Sachsen. Die Hochgebirgskurorte mit Winterstation sind schon oben genannt.

In den klimatischen Kurorten, die gleichzeitig auch in vieler Hinsicht den Zwecken der Badekurorte entsprechen, indem ihre Einrichtungen die Durchführung von Badekuren mannigfachster Art ermöglichen, sind in neuester Zeit mehrfach Einrichtungen getroffen worden, welche dieselben nach Örtels Methode als Terrainkurorte bei Kreislaufstörungen benutzbar machen (vgl. Fettsucht und Bergsteigen). Neben einer eigenartigen Diät haben die Patienten vom Arzt genau vorgeschriebene kürzere oder längere Spaziergänge auf mehr oder weniger steigendem Terrain auszuführen. Es sind daher die Wege genau reguliert und abgemessen, so daß z. B. alle zehn Minuten eine Marke am Weg angebracht ist. Bedingung für einen Terrainkurort ist die Lage in einem nicht zu breiten Gebirgstal, das, von Anhöhen und Bergen umgeben, die Kranken vor Wind und schroffen Temperaturwechseln schützt. Die Wege sind mit Ruhebänken versehen etc. Örtel unterscheidet ebene Wege, Wege von geringer und solche von starker Steigung und steile Bergpfade, von denen jede Abteilung wieder besondere Bedingungen in sich schließt und nur Nutzen gewährt, wenn alle Vorschriften betreffs der Ruhepausen etc. innegehalten werden. Von den bis jetzt eingerichteten Terrainkurorten empfehlen sich im Vorfrühling: Meran-Mais, Bozen-Gries, Arco, Abbazia; im Frühling: Baden-Baden, Ischl, im Sommer: Baden-Baden, Ischl, Reichenhall, Semmering, Landeck; im Herbst und Winter: die Tiroler klimatischen Kurorte und Davos am Platz in Graubünden.

Vgl. Brehmer, Die Ätiologie der chronischen Lungenschwindsucht (Berl. 1885); Örtel, Über Terrainkurorte (Leipz. 1886); Weber, Klimatotherapie (in Ziemssens »Handbuch der allgemeinen Therapie«, Bd. 2, Teil 1, das. 1880); Reimer, Handbuch der [140] Klimatotherapie (Berl. 1889); F. C. Müller, Klimatotherapie (Leipz. 1894); van Bebber, Hygienische Meteorologie (Stuttg. 1895); Kisch, Klimatotherapie, in Eulenburg-Samuels »Lehrbuch der allgemeinen Therapie«, Bd. 1 (Wien 1898); Goldscheider u. Jacob, Handbuch der physikalischen Therapie, Bd. 1 (Leipz. 1901 ff.); Reimer, Klimatische Sommerkurorte (2. Aufl., Berl. 1891) und Klimatische Winterkurorte (4. Aufl., das. 1895); Clar, Die Winterstationen im alpinen Mittelmeergebiet (Wien 1894); Gsell Fels, Riviera (in »Meyers Reisebüchern«) und Die Bäder und klimatischen Kurorte der Schweiz (4. Aufl., Zürich 1898); Lötscher, Schweizer Kuralmanach (13. Aufl., Zürich 1902); Michaelis, Die Bayrischen Alpen als klimatischer Kurort (Dresd. 1875); Pecnik, Klimatische Wüstenkuren (Kairo 1899); Weiteres bei Artikel »Balneologie« und den einzelnen Orten.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 139-141.
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