Provenzalische Sprache

[403] Provenzalische Sprache und Literatur. Die provenzalische Sprache wird im südlichen Frankreich gesprochen zwischen den Pyrenäen und einer Linie, die sich etwas nördlich von Bordeaux, Limoges, Montluçon, St.-Vallier und Puy-St.-André hinzieht. In Abzug kommen das Baskische im Departement der Niederpyrenäen und das Katalanische im Departement der Ostpyrenäen. Ihr allgemeinster Name war Lenga romana; von der Bejahungsformel oc hieß sie Langue d'oc oder Okzitanisch, von der Gegend, wo sie am reinsten gesprochen wurde, dem Limousin, die limousinische und von dem Lande Provence im weitern Sinne die provenzalische. Nahe verwandt ist ihr das im nordöstlichen Spanien gesprochene Katalanisch (s. Katalanische Sprache und Literatur). Ihre Blüte fällt in die Zeit der Troubadoure (12. und 13. Jahrh.). Mit dem Verfall der provenzalischen Literatur infolge des Verlustes der politischen Selbständigkeit Südfrankreichs im 13. Jahrh. wurde auch die Sprache als Schriftsprache mehr und mehr durch das Nordfranzösische verdrängt und zu einem bloßem Patois, dem sogen. Neuprovenzalischen. Von Mundarten unterscheidet man das Auvergnische und das Limousinische, und weiter im Süden die Provencemundart, das Languedokische, das Gascognische nebst dem Bearnischen. Die letztgenannten Mundarten des Südwestens unterscheiden sich stark von den übrigen und nähern sich in einigen Zügen dem Kastilianischen. Grammatiken des Provenzalischen hat man schon aus dem 13. Jahrh., die Guessard (Par. 1858) und Stengel (Marb. 1878) herausgegeben haben. Eine Grammatik, Metrik und Rhetorik aus dem 14. Jahrh. sind die »Leys d'amors« (hrsg. von Gatien-Arnoult, Toulouse 1841, 3 Bde.). In neuerer Zeit haben Raynouard (in seinem »Choix«, Bd. 1), am vorzüglichsten aber Diez in seiner »Grammatik der romanischen Sprachen« (5. Aufl., Bonn 1882), sodann MahnGrammatik und Wörterbuch der altprovenzalischen Sprache«, nur Teil 1: Laut- und Formenlehre, Köthen 1885, ist erschienen), Grandgent (»-An outline of the phonology and morphology of Old Provençal«, Boston 1905), Schultz-Gora (»Altprovenzalisches Elementarbuch«, Heidelb. 1906) die Sprache grammatisch dargestellt. Eine Grammatik der Sprache der Félibres (s. d.) verfaßten Savinian (Avignon 1882), Koschwitz (Greifsw. 1894), de Fourvières (Avignon 1899). Ein Wörterbuch lieferte RaynouardLexique roman«, Par. 1838–1844, 6 Bde.), Nachträge dazu E. Levy (»Provenzalisches Supplementwörterbuch«, Leipz. 1892 ff.); ein Lexikon der heutigen provenzalischen Mundarten ist Mistrals »Tresor dou Felibrige« (Avignon 1878–1886, 2 Bde.); die französischen Stichwörter stehen voran in Piats »Dictionnaire français-occitanien« (Montpellier 1893–94, 2 Bde.). Ein Handwörterbuch ist X. de Fourvières »Lou pichot tresor. Dictionnaire provençal-français et français-provençal« (Avignon 1902). Die ältesten Sprachproben finden sich seit 960, einzelne in lateinische Urkunden eingestreute Sätze. Das Bruchstück eines Gedichts über Boëthius von 257 Versen, aus dem 10. Jahrh., ist neben einer lateinischen Alba mit provenzalischem Refrain die älteste erhaltene Dichtung.

Die provenzalische Literatur hat, wie jede andre, mit einer lyrischen Volksdichtung begonnen. Mit dem Ende des 11. Jahrh. beginnt die vorzugsweise von dem ritterlichen Adel gepflegte Kunstdichtung. Die Liebe in der Form der höfischen Galanterie bildet ihren Hauptinhalt, demnächst Krieg und Politik, endlich persönliche Verhältnisse. Die Dichter hießen Troubadoure (trobador, von trobar, finden, erfinden); sie setzten zugleich ihre Lieder in Musik, doch war die Begleitung stets, der Gesangvortrag in der Regel dem Spielmann (joglar) überlassen, der im Dienste des Troubadours stand. Hin und wieder dichteten auch die Spielleute, wie auch vereinzelt ein ärmerer Troubadour sein eigner Joglar war. Nach Inhalt und Form scheiden sich die Lieder der Troubadoure in mehrere Gattungen. Die älteste, noch auf dem alten Volksgesang beruhende Form hieß schlechthin vers, hatte einen sehr einfachen Strophenbau und konnte jeden beliebigen Inhalt haben. Aus dieser Form entwickelte sich die Kanzone (chanso), die Hauptform der höfischen Lyrik, die ausschließlich Liebe oder Religion zum Inhalt hatte. Strophenform und Melodie mußten für jede neue Kanzone neu geschaffen werden. Beides entnahm von einer Kanzone das Sirventes (von sirvent, Diener, also ein im Dienst eines Herrn verfaßtes Gedicht), das, unter Ausschluß der Liebe, die verschiedensten öffentlichen Angelegenheiten, Krieg, Politik, Religion, Moral etc., wie auch persönliche Verhältnisse des Dichters behandelte. Zu den Sirventesen gehören auch die Kreuzlieder, Ausrufe zur Teilnahme an den Kreuzzügen, und die Klagelieder über den Verlust eines Gönners oder der Geliebten. Eine dritte Gattung bildete die Tenzone (tenso) oder das Streitgedicht, auch joc partit (geteiltes Spiel) oder partimen genannt, in dem zwei einander widerstreitende Sätze von zwei oder mehreren Dichtern strophenweise verteidigt wurden. Die Romanze, die bei den Provenzalen nur in wenigen Beispielen vorkommt, ist ein lyrisch-episches Gedicht, dessen Inhalt in der Regel ein Liebesabenteuer bildet. Die Alba oder das Tagelied enthielt den poetischen Weckruf, womit der Wächter zwei Liebenden bei ihrem nächtlichen Stelldichein den anbrechenden Morgen (alba) verkündet und sie zum Ausbruch mahnt. Die pastorela hat ein Gespräch des Dichters mit einer Hirtin zum Inhalte. Die Balada und die Dansa sind Lieder, die zum Tanz gesungen wurden. Auch der poetische Liebesbrief (breu oder letra) ist als eine besondere, durch eine Anzahl von Beispielen vertretene Gattung der provenzalischen Lyrik zu erwähnen. Außer den genannten gab es noch mehrere andre seltener gebräuchliche Formen.[403]

Die provenzalische Lyrik kann den Ruhm vollständiger Originalität in Anspruch nehmen. Sie ist von großer Bedeutung einmal als die älteste Dichtung der romanischen Völker, sodann wegen des Einflusses, den sie auf die Dichtung benachbarter Nationen übte. Denn sie verbreitete sich auch über den nördlichen Teil von Spanien und Italien, deren erste eigne lyrische Erzeugnisse auf provenzalischen Mustern beruhen. Auch die nordfranzösische und deutsche Lyrik nahm sich die Troubadourdichtung zum Vorbild. Als dem Geiste der südfranzösischen Gesellschaft am meisten entsprechend, bildet die höfische Lyrik den eigentlichen Mittelpunkt der provenzalischen Literatur, und alle andern literarischen Gattungen treten sowohl der Masse als dem Wert nach bedeutend gegen sie zurück. Ihre Blütezeit umfaßt das 12. und 13. Jahrh. Die Zahl der Troubadoure, von denen oder unter deren Namen noch Lieder vorhanden sind, beträgt über 450. Der älteste dem Namen nach bekannte Troubadour war Wilhelm IX., Graf von Poitiers (s. Poitiers 1), gest. 1127, der mit einzelnen volkstümlichen Zügen einen sehr persönlichen Ausdruck zu verbinden weiß. Unter seinen nächsten Nachfolgern sind besonders der wunderliche, menschenverachtende Marcabrun (gest. um 1150) und sein Gönner Jaufre Rudel, Prinz von Blaya, zu nennen. Die Höhe der höfischen Kunstdichtung in Form und Gehalt fällt in das Jahrhundert von 1150–1250. Hier wirkten Guilhem de Cabestanh (s. d., gest. um 1212), bekannt durch die romantische Sage, die von ihm erzählt wurde; Graf Raïmbaut III. von Orange (gest. 1173), der Liebesverse mit der Gräfin Beatrix von Die tauschte; Bernart von Ventadour (gest. 1195), ausgezeichnet in der Kanzone; Arnaut von Mareuil (gest. um 1200), voll natürlicher Anmut, auch Dichter von Liebesbriefen und Unterweisungen; der in gesuchter Dunkelheit schwelgende Arnaut Daniel (gest. um 1200); Guiraut de Bornelh (gest. um 1220), der von seinen Zeitgenossen selbst als Meister der Troubadoure anerkannt wurde; der geistvolle, aber wunderliche Peire Vidal (gest. 1215); Pons de Capdoth (um 1192) mit seinen wirkungsvollen Kreuzliedern; der durch seine wilde Kampflust wie durch frevelhafte Intrigen allbekannte Bertran de Born (blühte 1180–95), einer der größten Meister im Sirventes; sodann Raïmbaut von Vaqueiras (gest. um 1207), der Hofdichter und Freund des Markgrafen Bonifaz I. von Montserrat; der Auvergner Peirol (1180–1220), der, von seinen Gönnern verlassen, den Beruf des Spielmanns ergreifen mußte; Aimeric von Peguilhan (gest. um 1266), von dem noch etwa 50 Lieder erhalten sind; Gaucelm Faidit (gest. um 1216), der Dichter schwungvoller Kreuzlieder; Raimon von Miraval (gest. um 1220); der pfaffenfeindliche Schneider Guilhem Figueiras, gleichfalls im Sirventes ausgezeichnet; Savaric von Mauléon (um 1220); Peire Cardinal (um 1210–30), der Meister des moralischen Sirventes, u. v. a. Die Periode von der Mitte bis zu Ende des 13. Jahrh. ist als die Periode des Verfalls der Troubadourdichtung zu bezeichnen. Die Albigenserkriege und ihre unmittelbaren Folgen hatten die Reihen der Troubadoure, die mit ihrer Kunst zumeist auf seiten der besiegten Partei gestanden hatten, sehr gelichtet. Die bedeutendern hatten das Land verlassen und an den spanischen und norditalienischen Höfen eine Zuflucht gefunden. Ihre bisherigen Gönner und Beschützer, die Fürsten und Herren, verloren ihre Unabhängigkeit, verarmten zum Teil und konnten die Dichter nicht mehr, wie früher, belohnen. Vergebens suchten die bessern Dichter dadurch zu helfen, daß sie ihre Kunst als Wissenschaft behandelten und ihren Gedichten einen gelehrten Ton gaben. Der Hauptvertreter dieser Richtung ist Guiraut Riquier (1250–94), mit dem die lange Reihe der echten Troubadoure schließt. Im folgenden Jahrhundert ging die Dichtkunst völlig in die Hände des zünftigen Bürgertums über, das durch die Stiftung der Akademie der »Blumenspiele« (s. Jeux floraux) in Toulouse den alten Troubadourgesang wieder ins Leben zu rufen suchte, aber nur einen schwachen Nachklang erzeugte, der gegen den Ausgang des Mittelalters völlig verhallte.

Gegenüber der Masse noch vorhandener Troubadourlieder erscheint die Zahl der uns erhaltenen epischen Dichtungen der Provenzalen äußerst gering. Das älteste und zugleich fast das einzige auf historischen Grundlagen ruhende Epos in provenzalischer Sprache, das wir besitzen, ist der »Girart de Roussillon«, aus dem 12. Jahrh.; von Chansons de geste sind sonst nur zu nennen »Daucel et Beton«, »Aigar et Maurin«, »Eledus et Serena«. Dem Sagenkreis von König Artur gehört an der Roman »Jaufre« aus dem Anfang des 13. Jahrh., gleichfalls von unbekanntem Verfasser. Außerhalb eines bestimmten Sagenkreises steht der kulturhistorisch wichtige Roman »Flamenca« (aus dem J. 1234). Als Novellendichter hat sich besonders Raimon Vidal hervorgetan. Von historischen Gedichten sind die nur in einem Bruchstück erhaltene Geschichte des ersten Kreuzzuges von Gregor Bechada, die Chronik des Albigenserkrieges von Guilhem von Tudela und einem Ungenannten und die gereimte Geschichte des Krieges von Navarra von Guilhem Anelier zu nennen. – Die lehrhafte Dichtung wurde nächst der lyrischen am meisten gepflegt. Außer den kleinern Gedichten lehrhafter Tendenz, die sich bei den Troubadouren finden, gibt es eine Anzahl umfangreicherer Werke dieser Art, die entweder der allgemeinen Sittenlehre oder der Belehrung bestimmter Berufsklassen gewidmet sind. Einige sind förmliche Enzyklopädien des Gesamtwissens der Zeit. Dahin gehört das unvollendet gebliebene »Breviari d'amor« von Matsre Ermengau; das Lehrgedicht über die Jagdvögel »Li auzel cassador« von Daude de Pradas, verschiedene Unterweisungen für Spielleute von Guiraut von Cabreira, Guiraut von Calanson, endlich eine Anzahl religiöser Gedichte. Zu letztern gehören auch die Dichtungen der Waldenser (s. d.). Von dramatischer Dichtung sind aus der besten Zeit nur ein kleines Bruchstück eines Mysteriums aus dem 13. Jahrh., die dramatisierte Legende von St. Agnes, und ein Fragment des »Ludus Sancti Jacobi« erhalten. Die Prosaliteratur der Provenzalen besteht zum größten Teil aus Übersetzungen oder aus Schriften für praktische Zwecke, naturwissenschaftlichen, medizinischen etc. Von literarisch wichtigen Originalwerken in Prosa sind zu nennen: ein vor der Mitte des 12. Jahrh. hauptsächlich nach der »Summa« des Irnerius gearbeitetes Rechtsbuch »Lo Codi« und die Biographien der Troubadoure, die ihren Gedichten in den Handschriften voran gehen und die Hauptquelle für ihr Leben bilden (Paul Heyse hat ihnen die Troubadournovellen nacherzählt).

In der Zeit vom 16. bis ins 19. Jahrh. hinein ist in provenzalischer Sprache fast nur das burleske und das erbauliche Genre gepflegt worden. Hervorhebung verdienen als Lyriker Goudelin (gest. 1649, s. d.)[404] und Jasmin (gest. 1864, s. d.). Erst seit der Stiftung (1854) des Feliberbundes (Félibres, s. d.) nahm die Literatur einen höhern Aufschwung. Sein bedeutendster Vertreter ist Mistral, der Dichter der »Mirèio«, der größte Dramatiker Aubanel, der Meister der Prosa Roumanille.

Eine vollständige, kritisch bearbeitete Sammlung der Gedichte der Troubadoure ist noch zu erwarten. Auswahlen gibt es von RaynouardChoix des poésies originales des troubadours«, Par. 1816–21, 6 Bde.), de Rochegude (»Parnasse occitanien«, Toulouse 1819), Mahn (»Die Werke der Troubadours«, Berl. 1846–82, 4 Bde.; »Gedichte der Troubadours«, das. 1856–73, 4 Bde.), Paul MeyerRecueil d'anciens textes«, Par. 1874), BartschChrestomathie provençale«, 6. Aufl., Marb. 1904), CresciniManualetto provenzale«, 2. Aufl., Verona 1904), Appel (»Provenzalische Chrestomathie«, 2. Aufl., Leipz. 1902). Einige der wichtigern Troubadoure sind einzeln herausgegeben. Die Geschichte der provenzalischen Poesie ist am vorzüglichsten behandelt von F. Diez in der »Poesie der Troubadours« (2. Aufl., Leipz. 1883) und dem Werke »Leben und Werke der Troubadours« (2. Aufl., das. 1882); in neuerer Zeit auch von Ant. Restori, Letteratura provenzale (Mail. 1891). Nur mit Vorsicht zu gebrauchen ist Fauriels »Histoire de la poésie provençale« (Par. 1846, 3 Bde.). Die vollständigste Übersicht geben Bartsch in seinem »Grundriß zur Geschichte der provenzalischen Literatur« (Elberf. 1872) und Chabaneau im 10. Band der »Histoire générale de Languedoc« von Devic (Toulouse 1885). Die spanischen Troubadoure behandelt Milá y Fontanals, »De los trovadoresen España« (Barcelona 1861), die italienischen Oskar Schultz in der »Zeitschrift für romanische Philologie«, Bd. 7 (1883). Die besten Übersetzungen von Troubadourliedern verdanken wir Paul Heyse. Vgl. ferner Noulet, Essai sur l'histoire littéraire des patois du midi de la France aux XVI. et XVII. siècles (Toulouse 1859) und aux XVIII. siècle (Montpellier 1877); Portal, La letteratura provenzale moderna (Palermo 1893) und I moderni trovatori. I. Biografie (das. 1904), Koschwitz, Über die provenzalischen Feliber und ihre Vorgänger (Berl. 1894); Roque-Ferrier, Mélanges de critique littéraire. Le Midi de la France, ses poètes et lettres de 1874 à 1890 (Montpellier 1892); Lintilhac, Les Félibres (Par. 1895); Cornut, Les maîtres du félibrige (das. 1896); Jourdanne, Histoire du félibrige (Avignon 1896). Eine Auswahl von Dichtungen der Feliber mit französischer Übersetzung und Biographien gab Hennion, »Les fleurs félibresques« (Par. 1883). Vgl. Edmond Lefèvre, Catalogue felibreen (Mars. 1901). Manches bringt auch die seit 1870 in Montpellier erscheinende »Revue des langues romanes«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 403-405.
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