Waadt

[278] Waadt (Waadtland, Pays de Vaud, »Waldgau«), der viertgrößte Kanton der Schweiz, gewissermaßen das Haupt der Suisse romande, wird im O. von Freiburg, Bern und Wallis, im S. von Wallis, Savoyen und Genf, im Westen von Frankreich und im N. von Neuenburg begrenzt und umfaßt 3252 qkm (59 QM.). Das Gebiet besteht aus einem Hauptstück und der von Freiburg umschlossenen Exklave Avenches-Cudresin, während das Hauptstück selbst wieder drei Freiburger Enklaven und die Genfer Enklave Céligny umschließt. Im großen umfaßt der Kanton den ganzen westlichen Teil des schweizerischen Mittellandes mit der Wasserscheide um La Sarraz, von wo sich die Gewässer nach NO. zur Orbe in den Rhein, nach SW. zur Venoge in die Rhone sammeln, ferner im NW. den Waadtländer Jura, im SO. die anstoßenden Alpen der Saane- und Wildhorngruppe. Jurassisch sind die Vallée de Joux und Vallorbe nebst den Erhebungen nahe der neuenburgischen Grenze (Ste.-Croir). Die innern Ketten kulminieren in der Dôle (1678 m), dem Noirmont (1561 m), Mont Tendre (1680 m, höchster Punkt des schweizerischen Jura) und der Dent de Vaulion (1486 m), die äußern im Mont Risoux (1384 m), im NO. im Mont Suchet (1596 m), Chasseron (1611 m) und Creux du Vent (1495 m). Zwei Paßstraßen führen aus der Schweiz durch den Jura, über St. Cergues (1263 m) im Westen und Vallorbe-Jougne mit Eisenbahn nach Pontarlier im O.; der Col du Marchairuz verbindet die Vallée de Joux mit der flachen Waadt.

Wappen des Kantons Waadt.
Wappen des Kantons Waadt.

Diese erscheint besonders in der Mitte, dem Gros de Vaud, als waldreiches Plateau mit dem Mont Jorat (928 m), das sich in die weinreichen Uferlandschaften La Vaux (um Cully) und La Côte (um Rolle) zum Genfer See abstuft. Der alpine Teil umfaßt einen obern Teil des Saanegebietes, das Pays d'en Haut mit Château d'Oex, die sich nach Aigle und Bex zur Rhoneebene öffnenden Täler von Ormonts und Gryon. Das Hochgebirge gipfelt im Oldenhorn (3124 m), den Diablerets (3251 m), dem Grand Moeveran (3061 m), der Dent de Morcles (2972 m), während die voralpinen Gebiete gekrönt sind durch Tour d'Aï (2383 m), Tour de Mayen (2323 m), Tour de Famelon (2158 m), die Chamossaire (2113 m), Tornette (2543 m), Tête de Moine (2351 m), Rochers de Naye (2044 m, mit alpinem Versuchsgarten) und die Dent de Jaman (1879 m). Die Paßstraße über Les Mosses verbindet Les Ormonts mit Château d'Oex und seit 1876 eine solche über den Col de Pillon mit Gsteig im Berner Saanenland. Der Kanton zählt (1900) 284,673 Französisch sprechende Einwohner, die vorherrschend protestantischer Konsession[278] (36,980 Katholiken) und ein wohlgebauter, zäher und intelligenter Volksschlag sind. Den mannigfachen orographischen und klimatischen Verhältnissen entsprechend, zeigt sich eine Vielgestaltigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht: 84,2 Proz. der Gesamtfläche oder 2737,9 qkm sind produktives Land, wovon 1743,69 Acker-, Gartenland und Wiesen, 64,74 Weinberge und 829,45 Waldfläche (besonders im Jura und auf dem Jorat). Der Getreidebau genügt dem Bedarf nicht. 1905 erntete man 428,712 hl Wein im Werte von 12,612,768 Frank, meist weißes Gewächs, das massenhaft ausgeführt wird; besonders geschätzt sind die Produkte von La Vaux. In den milden Lagen (Montreux-Bex) gedeihen Mandeln und Kastanien. Tabak wird an der untern Broye und um Grandson gebaut, 1905: 5251 metr. Ztr. für 329,850 Fr. Die Viehzählung ergab 1906: 18,265 Pferde, 115,545 Rinder, 9855 Schafe, 13,235 Ziegen und 57,599 Schweine. Der Kanton hat Salinen in Bex (1905: 44,170 metr. Ztr.), Braunkohlen in La Vaux, zahlreiche Steinbrüche, besonders auf Marmor in St.-Tripton. Große Zementwerke sind in Pandex, La Roche, Villeneuve. Während sich 1900: 102,024 Personen der Landwirtschaft widmen, dienen 94,068 der Veredelung der Naturprodukte. Der Jura ist der Sitz der Uhrenindustrie, Ste. – Croix fabriziert insbes. Musikdosen, die Eisenwerke von Vallorbe liefern Nägel, Feilen, Sensen. Grandson und Vevey verarbeiten Tabak, Lausanne und Vevey Schokolade und Milch (kondensierte Milch). Dem internen Verkehr dienen neben zahlreichen, zum Genfer See laufenden Sekundärbahnen die Linien Lausanne-Bern, Lausanne-Neuchâtel, nach außen die Anschlüsse über Genf, Vallorbe-Pontarlier und den Simplon. Handelsplätze sind: Morges, Vevey und Yverdon. Fast zahllos sind die Erziehungsinstitute und Kurorte der W., unter denen namentlich Bex, Montreux, Vevey und Lausanne einen altbewährten Ruf haben. In Lausanne bestehen eine Akademie (seit 1536), die 1890 in eine Universität erweitert wurde, ein Collège, ein Lehrerseminar (seit 1833) und ein Lehrerinnenseminar (seit 1837). Die öffentlichen Bibliotheken des Kantons (die bedeutendste in Lausanne) zählen zusammen gegen 300,000 Bände. Es bestehen eine reichdotierte und musterhaft eingerichtete Blindenanstalt, 2 Taubstummenanstalten, eine Rettungsanstalt u. a. Durch die Verfassung vom 1. März 1885 besitzt W. das fakultative Referendum und die Gesetzesinitiative sowie das obligatorische Referendum für Ausgaben von über 500,000 Fr. Die gesetzgebende Behörde ist der Grand Conseil, der auf je vier Jahre erwählt wird; die Exekutive ist dem Conseil d'Etat übertragen, der vom Grand Conseil ebenfalls auf vier Jahre erwählten Regierung. Die höchste Instanz im Justizwesen übt das Tribunal cantonal, auf gleiche Art gewählt, aber mit 9 Mitgliedern. Für die Kriminaljustiz besteht das Institut der Jury. Der Kanton ist in 19 Bezirke geteilt und deren Verwaltung je einem Préfet übertragen; auch hat jeder Bezirk sein Tribunal. Die Staats einnahmen betrugen 1906: 13,136,842 Fr., die Ausgaben 12,391,288 Fr. Hauptort ist Lausanne.

[Geschichte.] Der jetzige Kanton W. bildete das Kernland des römischen Helvetien; Avenches (Aventicum), Nyon (Noviodunum), Lausanne (Lousonna), Moudon (Minnodunum), Vevey (Vibiscus) und Yverdon (Eburodunum) waren ansehnliche Städte oder Flecken. Die Einfälle der Germanen machten dieser Blüte ein Ende; um 260 wurde Avenches von den Alemannen zerstört, und um 470 besetzten die Burgunder das Land, mit denen es 534 unter fränkische Herrschaft kam. Unter dieser bildete W. die seit 766 urkundlich erwähnte große Grafschaft Waldgau (pagus Waldensis), woher das französische Vaud, das wiederum in W. verdeutscht wurde. 888 wurde W. ein Bestandteil des neuburgundischen Reiches, mit dem es 1032 an Deutschland fiel. Nach dem Aussterben der Zähringer bemächtigte sich Graf Peter von Savoyen (1232–68) durch Kauf und Eroberung der W.; nur Lausanne konnte als bischöfliche Stadt seine Reichsunmittelbarkeit bewahren. Infolge des Bündnisses der Herzogin Jolanthe von Savoyen mit Karl dem Kühnen wurde W. der Hauptschauplatz der Burgunderkriege 1475 und 1476 und dadurch, daß Bern und Freiburg die in denselben eroberten Städte Murten, Grandson, Orbe und Echallens als »gemeine« Herrschaften behielten, die Vereinigung des Landes mit der Schweiz angebahnt. Unter Berns Schutz führten Farel und Viret seit 1526 die Reformation in der W. ein, und als der Herzog von Savoyen Genf, die Verbündete Berns, bedrängte, bemächtigte sich dieses 1536 der Landschaft; auch Lausanne, obwohl seit 1525 im Bund mit Bern, mußte ihm huldigen. Im Vertrag zu Lausanne 30. Okt. 1564, den Frankreich und Spanien guthießen, trat Savoyen die W. förmlich an Bern ab. Im ganzen fühlte sich das Land unter bernischer Verwaltung glücklich; ein Aufstandsversuch des Majors Davel (s. d.) fand keinen Anklang und führte den Urheber aufs Schafott (24. April 1723). Die französische Revolution rief jedoch in der W. die Sehnsucht nach Befreiung vom Joch Berns wach; die Aufreizungen Laharpes (s. d. 2) sowie die brutale Härte, womit Bern die Manifestationen der »Patrioten« bestrafte, steigerten die Unzufriedenheit. Die Verletzung der angeblich im Lausanner Vertrag von 1564 garantierten Freiheiten der W. durch Bern bildete den Vorwand der französischen Invasion in die Schweiz 1798. Sobald die französischen Truppen an der Grenze erschienen, erhob sich ein allgemeiner Aufstand in der W., und diese wurde 23. Jan. zur »lemanischen Republik« erklärt, die dann als Kanton Leman ein Departement der Helvetischen Republik bildete. Die Mediationsakte machte daraus 1803 den souveränen Schweizerkanton W. mit repräsentativ-demokratischer Verfassung, der durch den Einfluß Kaiser Alexanders 1814 seine voll Bern bedrohte Selbständigkeit behauptete; doch wurde durch komplizierte Wahlformen die repräsentative Demokratie einer Oligarchie angenähert. Am 18. Dez. 1830 nötigte das in Lausanne zusammengeströmte Volk den Großen Rat zur Einberufung eines Verfassungsrates, dessen Werk allgemeines Stimmrecht und unmittelbare Wahlen einführte und 25. Mai 1831 vom Volke genehmigt wurde. Die doktrinäre Haltung der Behörden in der Jesuitenfrage rief 14./15. Febr. 1845 eine neue Erhebung hervor, die Staatsrat und Großen Rat zur Abdankung zwang und die Verfassung durch Verkürzung der Amtsdauern, Einführung des fakultativen Referendums, der Volksinitiative etc. noch mehr demokratisierte. Als eine Anzahl Pfarrer für ihre Weigerung, vor der Volksabstimmung über die Verfassung eine Proklamation der neuen Regierung zu verlesen, mit Suspension bestraft wurden, reichten 184 Geistliche ihre Demission ein und gründeten unter der Leitung Vinets und Monnards eine vom Staate getrennte Freie Kirche (Église libre évangélique), die anfänglich von dem durch Druey geleiteten radikalen Staatsrat und dem Volke arge Unbilden erfuhr. 1861 jedoch vereinten sich Konservative und Ultraradikale,[279] um durch eine Verfassungsrevision dem Zwange gegen die Freie Kirche ein Ende zu machen. In der jüngsten Zeit zeigte W. eine nur durch seine traditionelle Abneigung gegen die ehemalige Herrscherstadt Bern zu erklärende Feindseligkeit gegen alle Zentralisationsbestrebungen in der Eidgenossenschaft, die den sonst radikalen Kanton bewog, den revidierten Bundesverfassungsentwurf von 1872 im Bunde mit den Ultramontanen zu verwerfen. Dagegen nahm die W. den abgeschwächten Entwurf von 1874 an, und die Bundesversammlung bestimmte im Juni d. J. Lausanne zum Sitz des durch die neue Verfassung permanent gewordenen Bundesgerichts. Am 1. März 1885 wurde eine Revision der Verfassung vom Volke genehmigt, durch die das fakultative Referendum erleichtert und für neue Ausgaben über 500,000 Fr. das obligatorische Referendum eingeführt wurde. Vgl. Vulliemin, Le canton de Vaud (3. Aufl., Lausanne 1885; deutsch, St. Gallen 1847–49, 2 Bde.); Verdeil, Histoire du canton de Vaud (Lausanne 1854, 3 Bde.; Bd. 4 von Gaullieur, 1857); Maillefer, Histoire du canton de Vaud des les origines (das. 1903); De Grenus, Documents relatifs à l'histoire de pays de Vaud (Genf 1817); Cart, Histoire de la liberté des cultes dans le canton de Vaud 1798–1889 (Lausanne 1890); Archinard, Histoire de l'Église du canton de Vaud (2. Aufl., das. 1881) und Histoire de l'instruction publique dans le canton de Vaud (das. 1877); Gindroz, Histoire de l'instruction publique dans le canton de Vaud (das. 1853); Martignier und Crousaz, Dictionnaire historique, etc., du canton de Vaud (das. 1867); De Montet, Dictionnaire biographique des Genevois et des Vaudois (das. 1878, 2 Bde.); »Mémoires et documents publiés par la société d'histoire de la Suisse Romande« (das. 1838 ff.); »Revue historique Vaudoise« (das. 1893 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 278-280.
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