[623] Staatsanwaltschaft, eine öffentliche Behörde, deren hauptsächlicher Beruf ist im Anklageprocesse (s.u. Criminalproceß) im öffentlichen Interesse die Rolle des Anklägers zu übernehmen, welcher indessen hin u. wieder auch noch andere, auf Überwachung der,[623] Justizpflege überhaupt u. Handhabung der gerichtlichen Polizei zielende Functionen übertragen sind. Die S. in ihrer heutigen Ausbildung ist ein Institut des Französischen Rechtes; weder die früher in einigen deutschen Staaten als Fiscale (Advocatus fisci, A. patriae, Kammerfiscal, Hofprocurator etc.), noch die im englischen Anklageverfahren vorkommenden, wenn auch zuweilen ähnliche Functionen bekleidenden Beamten des Attorney-General etc. lassen sich damit vergleichen. Die früheren Fiscale waren der Hauptsache nach nur Vertreter der fiscalischen Interessen, u. nur ausnahmsweise war ihnen auch bei der Untersuchung der sogenannten Staatsverbrechen eine Wirksamkeit eingeräumt, welche sich indessen unter der Herrschaft der Inquisitionsmaxime (s.u. Criminalproceß) nur in sehr engen Grenzen halten konnte. Ähnlich ist der Attorney-General u. sein Stellvertreter, der Solicitor-General, in England nur ein von dem König gewählter Anwalt, um in denjenigen Sachen zu plaidiren, wo die Person desselben als Landesherrscher od. als Privatperson betheiligt ist. Da nun alle peinlichen Processe als im Namen des Königs geführt gedacht werden, so hat der Attorney-General zwar das Recht bei allen diesen Processen gegenwärtig zu sein u. selbst den Beweis der Schuld zu führen, allein in der Regel bleibt die Stellung der Anklage nach englischem Verfahren blos dem Betheiligten überlassen, u. höchstens bei Verbrechen, welche einen unmittelbaren Angriff gegen die Regierung enthalten (in Felonie- u. Libellsachen) tritt der Attorney selbst als Ankläger auf. Die Coroners (s.d.) treten nur bei dem Verbrechen des Mordes auf. Eher findet sich die Idee der S. schon im schottischen Processe, wo bei jedem Sheriff Court ein Procurator fiscal u. bei dem High Court of Justiary der Lord-Advocate als Beamte bestehen, an welche die Anzeigen begangener Verbrechen zu richten sind u. welche sodann deshalb die Einleitung der Voruntersuchung zu betreiben, so wie auf Grund derselben die Anklageacte (Libel) zu entwerfen haben. In Frankreich entwickelte sich das Institut der S. selbständig aus. den von den Königen schon frühzeitig bei den Ämtern u. Parlamenten angestellten königlichen Advocaten u. Procuratoren, welche gemeinhin als Gens du Roi bezeichnet wurden. Obschon dieselben gleich den deutschen Fiscalen anfangs nur zur Vertretung der königlichen Domänen u. sonstigen Interessen aufgestellt waren, so wuchs doch ihre Macht u. Bedeutung, als die königliche Gewalt durch sie der nach Unabhängigkeit strebenden Macht der Parlamente entgegenzuwirken suchte, immer mehr. Sie erhielten als Amtsverrichtungen in Strafsachen die Handhabung der öffentlichen Ordnung, die Verfolgung der strafbaren Handlungen u. die Betreibung des Vollzugs der Strafurtheile, in Civil- u. Lehnssachen neben dem Fiscalat auch die Überwachung der Interessen der Minderjährigen, der Abwesenden, der Kirche, der geistlichen u. weltlichen Körperschaften zugewiesen; als politische Befugnisse waren ihnen außerdem die Sorge für Einregistrirung u. Publication der Gesetze u. Ordonnanzen, u. ein Oberaufsichtsrecht über die ganze Justizverwaltung, so daß insbesondere alle gemeinen Bescheide der Parlamente ihrer Zustimmung unterlagen, übertragen. In der Revolutionszeit wurden an Stelle der königlichen Procuratoren u. Advocaten Commissäre gesetzt, welche bald als öffentliche Ankläger, bald aber auch als Directoren der Jury fungirten. Bei der durch Napoleon vorgenommenen Reorganisation der Gerichte u. des Criminalprocesses kehrte man in der Hauptsache zu den früheren Ideen zurück u. wies der S. eine Stellung neben den Gerichten an, vermöge deren durch sie im Allgemeinen die Interessen des Staates bei den Geschäften der Rechtssprechung noch eine besondere Vertretung finden sollten. Nach diesem Vorbilde ist darauf die S. in vielen Ländern des europäischen Continents, bes. bei der Umwandlung des Strafprocesses auch in Deutschland eingeführt worden; nur ist der Umfang der ihr zugewiesenen Befugnisse in Deutschland bisher meist auf den Strafproceß beschränkt geblieben. Die Staatsanwälte sind hiernach Justiz-, aber keine richterlichen Beamten, welche in Frankreich jederzeit entlaßbar sind. Ihre Stellung unter einander ist in größeren Staaten nach dem Systeme einer Beamtenhierarchie gegliedert, so daß die oberste Leitung einem Generalstaatsanwalt, welcher meist zugleich die staatsanwaltlichen Geschäfte am obersten Gerichtshofe des Landes besorgt (für Frankreich der Generalprocurator am Cassationshofe zu Paris), übertragen ist, unter diesem wieder für die Bezirke der Appellations- u. Obergerichte Oberstaatsanwälte od. Generalprocuratoren angestellt sind u. unter den letzteren wieder die Staatsanwälte für die Gerichte der ersten Instanz (in Frankreich Procuratoren) stehen. Bei größeren Gerichten stehen dem Staatsanwalt Substituten od. Gehilfen zur Seite. Alle Beamten der S. sind der Oberaussicht u. dem Befehle des Justizministers, nicht aber der Gerichte unterworfen; die letzteren haben etwaige Vernachlässigungen od. Pflichtverletzungen der Staatsanwälte nur zur Kenntniß der staatsanwaltlichen Vorgesetzten zu bringen. Alle Staatsanwälte stehen vermöge dieser Organisation unter sich in einer engen Verbindung, nach französischer Auffassung bilden sie ein untheilbares Ganze, welches von dem Befehle des Justizministers, resp. des Generalprocurators, dirigirt wird, so daß die unteren Beamten den Weisungen der oberen auch wegen Einleitung einer Untersuchung od. Beantragung einzelner Untersuchungshandlungen nachzukommen verpflichtet sind.
In Betreff der Hauptthätigkeit der S., der Mitwirkung bei der Verfolgung strafbarer Handlungen, ist zwischen den staatsanwaltlichen Vorerörterungen, der Voruntersuchung u. der Hauptverhandlung zu unterscheiden. Bei den Vorerörterungen hat das Streben der S. zunächst nur darauf sich zu richten, die Spuren der strafbaren Handlungen zu sammeln, um daraus Material zur Begründung eines Antrags auf Untersuchung gegen eine bestimmte Person stellen zu können. Um diese vorbereitende Thätigkeit der S. mit Erfolg handhaben zu können, haben die Polizeibehörden den Anweisungen der S., soweit sich dieselben nur auf Herstellung eines sicheren Thatbestandes, Auskunftsertheilungen, Verfolgung von Verdachtsspuren aller Art, überhaupt auf das eigentliche Gebiet der Polizei beschränken, unbedingt Folge zu leisten. In Frankreich gilt sogar der Staatsanwalt unmittelbar als der Oberbeamte der Polizei, so daß alle Polizeibedienstete ihm unterstellt sind u. im Nothfalle selbst mit staatsanwaltlichen Befugnissen auftreten können; wogegen[624] man in Deutschland den Polizeibehörden in dieser Hinsicht nur die Stellung von Hilfsbeamten der S. gegeben hat. Ergeben die Vorerörterungen begründeten Verdacht gegen eine gewisse Person, so ist es Sache der S. bei dem Gerichte den Antrag auf Voruntersuchung zu stellen, u. erst dadurch wird das letztere zur strafrechtlichen Verfolgung eines Verbrechens in Thätigkeit gesetzt. Eine Ausnahme findet nur bei den Verbrechen Statt, welche nur auf Antrag des Verletzten zu untersuchen sind. Entweder ist hier, wie z.B. bei der Injurie überhaupt, jede staatsanwaltliche Mitwirkung ausgeschlossen u. es lediglich dem Betheiligten überlassen seinen Strafantrag an das Gericht zu stellen u. denselben dann vor ihm weiter zu verfolgen; od. es ist, insofern dabei, wie z.B. bei Betrug, Selbsthülfe etc., zwar eine staatsanwaltliche Mitwirkung als Regel hingestellt ist, doch, falls die S. die Stellung eines Strafautrages auf die Mittheilungen des Verletzten hin verweigert, nach manchen Gesetzgebungen dem Verletzten noch gestattet als sogenannter Privatankläger aufzutreten u. die Verfolgung des Verbrechens mit eigenen Mitteln bei dem Gerichte zu betreiben. Nach einmal beantragter u. vom Gericht eröffneter Voruntersuchung kann die S. den Antrag nicht wieder einseitig zurücknehmen; vielmehr wird dazu nach den meisten Strafproceßordnungen mindestens die Zustimmung des untersuchenden Gerichtes erfordert. Während der Voruntersuchung steht es der S. fortwährend frei das Gericht auf die Verfolgung neuauftauchender Verdachtsspuren hinzuweisen u. zu ihrer besseren Informirung über den Stand der Sache die Acten einzusehen. Sie kann deshalb auch ihre persönliche Zuziehung zu Localbesichtigungen, Haussuchungen etc. verlangen, wogegen ihr im Interesse der Unparteilichkeit u. des Ansehns des Gerichtes die Beiwohnung von Verhören des Angeschuldigten u. der Zeugen der Regel nach versagt ist. Nach erschöpfter Voruntersuchung hat die S. die Aufgabe die Anklageschrift (Acte d'accusation) mit genauer Angabe der Person des Angeschuldigten, des Verbrechens, weshalb die Anklage erhoben wird, u. der die Anklage unterstützenden Thatsachen, so wie der zum Beweise derselben dienenden Beweismittel zu entwerfen u. der Anklagekammer zu unterbreiten. Erfolgt hierauf Seitens der Anklagekammer ein die Anklage zulassendes Erkenntniß, so ist dann in der Hauptverhandlung Aufgabe der S. die Anklage beim Beginn der Sitzung mündlich zu entwickeln, falls die Sache vor Geschworenen verhandelt wird, bei Bildung der Geschworenenbank durch ihrerseitigen Gebrauch des Ablehnungsrechtes (s.u. Geschwornengericht) mitzuwirken, während der Vernehmung des Angeschuldigten u. der Zeugen durch Stellung passender Fragen, wobei ihr gewöhnlich ein Recht unmittelbarer Fragstellung eingeräumt ist, u. sonstige Anträge auf möglichste Ermittelung der Wahrheit hinzuwirke. u. am Schlusse der Verhandlung unter Zusammenfassung der Endergebnissen derselben u. Hervorhebung der einschlagenden strafrechtlichen Normen an das Gericht. die Anträge wegen Bestrafung des Angeklagten zu stellen. Da jedoch die S. nicht in einem einseitigen Parteiinteresse, wie im Civilprocesse, sondern nur im allwelches durch das begangene Verbrechen verletzt worden ist, zu handeln berufen ist; so hat der Staatsanwalt auch die Pflicht ebenso dem unschuldig Angeklagten in der Erbringung seines Entlastungsbeweises beizustehen, wie mit Strenge den wirklich Schuldigen zu verfolgen. Die S. hat deshalb namentlich bei der Angabe der Beweismittel für die überreichte Anklage auch die für den Angeklagten sprechenden Beweismittel mit anzugeben u. auf die Vorladung der Zeugen anzutragen, welche in dieser Hinsicht von Wichtigkeit werden können. Im Unterlassungsfalle kann der Angeklagte entweder bei dem Staatsanwalt od. bei dem Gericht um Vervollständigung der zu benutzenden Beweismittel bitten. In Betreff der wider ein Enderkenntniß einzuwendenden Rechtsmittel finden sich verschiedene Theorien, welche um so weiter auseinandergehen, als die Rechtsmittel selbst (bald nur Nichtigkeitsbeschwerde, bald daneben auch Appellation) verschieden sind. Bei Verletzungen von Förmlichkeiten des Verfahrens stellt das Französische Recht die Regel auf, daß eine Anfechtung von Erkenntnissen einer Jury der S. nur im Interesse des Gesetzes gestattet ist, so daß die darauf erfolgende Entscheidung des Cassationshofes nur als ein Präjudiz desselben zu betrachten ist u. keinen Einfluß auf die bereits vorliegende concrete Entscheidung ausübt, während wenn der Verurtheilte die Nichtigkeitsbeschwerde wegen solcher Verletzungen erhebt, alsdann eine Cassation des Verfahrens u. neue Verhandlung eintritt. Wie aber selbst das Französische Recht diese Beschränkung nur bei den Rechtssprüchen der Assisenhöfe u. nicht auch bei denen der correctionellen Gerichte kennt, so haben auch die deutschen Gesetzgebungen nur zum Theil diese Beschränkung angenommen u. mehre (Thüringen, Kurhessen, Hannover) gewähren die Nichtigkeitsbeschwerde der S. solchenfalls völlig in gleichem Maße, wie dem Angeklagten. Beruht aber der Fehler des Erkenntnisses nur auf einer unrichtigen Anwendung der Gesetze, so steht der S. die Erhebung eines Rechtsmittels für den Fall unbezweifelt zu, wenn der Angeklagte unrichtiger Weise wegen angeblicher Straflosigkeit der für bewiesen erachteten That losgesprochen wurde. Dagegen versagen viele Gesetzgebungen der S. das Recht hierzu dann, wenn das Rechtsmittel nur dazu dienen könnte, um die Subsumtion der That unter ein noch strengeres Strafgesetz als das bereits angewendete herbeizuführen. Im Interesse des verurtheilten Angeklagten selbst ein Rechtsmittel einzuwenden ist der S. in der Regel nicht gestattet; doch räumen mehre Gesetzgebungen der S. diese Befugniß dann ein, wenn in der Vollstreckung des Erkenntnisses eine offenbare Rechtswidrigkeit für den Angeklagten liegen würde. Bei der eigentlichen Strafvollstreckung ist die S. nach den deutschen Strafgesetzgebungen meist ganz unbetheiligt, indem die Gerichte dieselbe von Amtswegen zu besorgen haben.
Außer diesen strafprocessualischen Befugnissen haben aber die Beamten der S. in Frankreich noch ein Aufsichtsrecht über die gesammte Verwaltung der Justiz in der Weise, daß sie alljährlich bei Wiedereröffnung des Gerichtsjahres einen Vortrag über die Verwaltung der Justiz während des verflossenen Jahres zu halten, den innern Dienst u. die Geschäftsordnung der Gerichte zu überwachen, die Disciplinaruntersuchungen gegen Richter, Advocaten u. Notare zu veranlassen u. die Verhängung der entsprechenden Disciplinarstrafen[625] wider dieselben zu beantragen haben; ferner ein Aufsichtsrecht über die Beamten der gerichtlichen Polizei u. die sogenannten ministeriellen Beamten, als die Anwälte, Gerichtsboten u. Gerichtsschreiber; die Eröffnung aller u. jeder Gesetze, sowie der Verordnungen des Justizministeriums an die Gerichte; endlich selbst eine Mitwirkung in gewissen Civilsachen. In letzter Beziehung ist die Stellung der S. eine verschiedene, se nachdem sie dabei als Hauptpartei (Partie principale) od. nur als Nebenpartei (Partie jointe) aufzutreten hat. In der Regel findet nur das Letztere statt, d.h. die S. kann, falls es ihr beliebt, im Wege eines begutachtenden Antrags ihre Rechtsansicht vor dem Gericht aussprechen. Zu diesem Zwecke muß der S. wenigstens in allen die Domänen, Gemeinden, die Anstalten des öffentlichen Nutzens (Spitäler, Stiftungen), den Civilstand u. die Vormundschaften, Competenzconflicte, Recusationen der Richter, Syndicats- u. Regreßklagen, nichtautorisirte Ehefrauen, Minderjährige, Abwesende, endlich auch das Heirathsgut autorisirter Ehefrauen etc. betreffenden Angelegenheiten die Gelegenheit gegeben werden ihre Anträge (Conclusionen) dem Gerichte abzugeben. Die gedachten Sachen müssen daher der S. zunächst vor Fällung des Erkenntnisses mitgetheilt werden (Affaires communicables). Die S. ist indessen nicht befugt hier auch in das Thatsächliche des Rechtsstreites sich einzumischen; sie hat auch nicht das Recht Rechtsmittel wider den erfolgten Spruch einzuwenden u. kann selbst von den Hauptparteien recusirt werden. Ausnahmsweise tritt aber die S. als Hauptpartei mit allen Rechten, aber auch allen Pflichten einer selbständigen Civilpartei auf in Sachen der Civilstandsregister, der Ehenichtigkeitsklagen, der Interdiction eines Wahnsinnigen, bei Todeserklärungen, bei Verhängung von Geldbußen gegen die sogenannten ministeriellen Beamten u. von Disciplinarstrafen wider richterliche Beamte. Die Einführung dieser Befugnisse der S. ist dem deutschen Civilproceß bisher in der Hauptsache fremd geblieben. Vgl. Thesmar, Die S., Bonn 1844; Frey, Die S. in Deutschland u. Frankreich, Erl. 1850; Berninger, Das Institut der S. im Verfahren über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, ebd. 1861.
Buchempfehlung
Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.
62 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro