Expropriation

[42] Expropriation (v. lat.), Zwangsenteignung), die auf den Grund gesetzlicher Vorschrift zum Besten eines öffentlichen Unternehmens verlangte nöthigenfalls mit gerichtlichem Zwang realisirbare Abtretung von Privateigenthum, bes. Grundeigenthum an den Staat od. vom Staat an, zu diesem Zwecke privilegirte Corporationen, Gesellschaften od. andere Personen. Die Befugniß des Staates zur E. wird meist aus einem Dominium eminens (Obereigenthum, s.u. Eigenthum) desselben abgeleitet, vermöge dessen ein Theil der Eigenthumsbefugnisse als im Staate ruhend gedacht u. demgemäß demselben das Recht zugesprochen wird, erforderlichen [42] Falls auch die anderen Theilbefugnisse des Eigenthums an sich zu ziehen. Diese Idee ist jedoch neuerdings mit Recht als eine unhaltbare erkannt worden. Die Pflicht, nöthigenfalls seine Privatrechte dem öffentlichen Besten zu opfern, beruht im Ganzen auf derselben allgemeinen Bürgerpflicht, welche den Staat berechtigt, von dem Bürger Steuern, den Dienst als Soldat u. andere Leistungen, welche dem öffentlichen Nutzen dienen, zu verlangen; ihre Verschiedenheit im Gegenüber der letzteren Verpflichtungen ist mehr nur eine zufällige, durch die besondere Natur des zu befriedigenden staatlichen Bedürfnisses von selbst gegebene. Am nächsten steht der E. die Ablösung der Grundlasten, bei welcher ebenfalls offenbares Privateigenthum zum öffentlichen Besten zwangsweise aufgehoben wird. Wenn man dieselbe von der E. noch unterscheidet, so hat dies seinen Grund nur darin, daß hierbei doch nur mittelbar zum Besten des Staates, unmittelbar aber zum Besten von Privatpersonen expropriirt wird. Im Römischen Rechte finden sich auffallender Weise von Vorschriften über E. keine Spur, obschon die Ausführung der großartigen Straßenbauten, Aquäducte u. dgl. der Römer ohne einen gegen die Privateigenthümer ausgeübten Zwang zur Abtretung des erforderlichen Grundeigenthums sich kaum denken läßt. In der neueren Zeit ist die E. in den meisten Staaten gesetzlich geregelt worden, u. vorzugsweise ist es die Erbauung der Eisenbahnen gewesen, welche die Veranlassung zur Publication einer ganzen Reihe von bald auf eine allgemeine Regelung des Expropriationswesen, bald aber auch nur auf die Unterstützung eines besonderen Unternehmens berechneter Expropriationsgesetze geboten hat. Für Preußen bestehen die betreffenden Vorschriften in den §§. 8–11, Th. I., Tit. 1 des Allgemeinen Landrechts u. §§. 8–13 des Eisenbahngesetzes vom 3. Novbr. 1838. Österreich hat, abgesehen von der Vorschrift im Art. 365 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, wonach jedes Mitglied des Staates, im Falle es das allgemeine Beste erheischt, verbunden ist, gegen angemessene Schadloshaltung das Eigenthum einer Sache abzutreten, noch kein allgemeines Gesetz über E-en; die betreffenden Bestimmungen werden hier bei der Anordnung od. Concession der einzelnen Unternehmung ertheilt. Im Königreich Baiern ist die E. durch ein Gesetz vom 17. Novbr. 1837 (erläutert von Sonnhaber, Würzb. 1839), im Großherzogthum Hessen durch zwei Gesetze vom 27. Mai 1821 u. 18. Juni 1836, im Kurfürstenthum Hessen durch Gesetz vom 2. Juli 1846, in Baden durch Gesetz vom 28. Aug. 1835 (sehr ausführlich), in Hannover durch Gesetz vom 8. Septbr. 1840 u. 6. Aug. 1844, im Königreich Sachsen durch Gesetz vom 3. Juli 1835 nebst einer dazu gehörigen Verordnung vom gleichen Datum geordnet; als eines der neuesten u. besten E-s gesetze ist das Sachsen-Weimarische vom 26. Novbr. 1855 (über die zwangsweisen Abtretungen für die Werrabahn). auszuzeichnen. In Frankreich bestand früher ein Gesetz über E-en. vom 8 März 1810, was noch jetzt in der Rheinpfalz Gültigkeit hat; ein neues Gesetz ist vom 3. Mai 1841. In England sind die Vorschriften über E. in den bei der Concessionirung eines jeden einzelnen Unternehmens gegebenen besonderen Bills enthalten, welche jedoch durch die immer wiederkehrende Bezugnahme auf die schon in den früheren Bills enthaltenen Bestimmungen (Standing ordres) eine gewisse Gleichförmigkeit gewonnen haben. Belgien hat ein E-sgesetz vom 17. April 1835. Als Hauptgrundsätze, wie sie fast allen diesen Gesetzen zu Grunde liegen, können dabei folgende gelten: a) die E. kann nur auf den Grund eines Gesetzes erfolgen; in den constitutionellen Staaten ist daher zur E. stets die Zustimmung der Landesvertretung erforderlich. Indessen braucht diese Zustimmung natürlich nicht immer für den einzelnen Fall erwirkt zu werden, wenn etwa das Gesetz im Voraus die Kategorien der Unternehmungen, für welche die E. gestattet wird, festgestellt hat u. den Staatsbehörden es überlassen worden ist, zu entscheiden, ob eine Unternehmung unter diese Kategorien falle. Von dieser Art ist z.B. das bayerische Gesetz vom 17. Novbr. 1837; b) die E. kann nur da als zulässig gelten, wo es sich um einen gemeinen Nutzen od. Abwendung einer gemeinen Noth handelt, welche auf dem Wege freiwilliger Erwerbung des Privateigenthums nicht od. doch nur mit den größten Hindernissen u. Opfern erlangt werden könnte. Ein bloßes Privatinteresse, u. wäre es auch das des Regenten, kann die E. so wenig rechtfertigen, als ein bloßes öffentliches Vergnügen. Das citirte baierische Gesetz z.B. läßt daher, abgesehen von Fällen öffentlichen Nothstandes (Erdbeben, Wassersgefahr etc.), einen Zwang zur Abtretung nur zu folgenden Unternehmungen eintreten: zu Erbauung von Festungen od. sonstigen Vorkehrungen zu Landesdefensions- u. Fortificationszwecken, zu Erbauung od. Erweiterung von Kirchen, Schulen u. Spitälern, zu Herstellung od. Erweiterung von Gottesäckern, zu Regelung u. Schiffbarmachung von Strömen u. Flüssen, zu Anlegung, Abkürzung od. Ebenung von Straßen, Herstellung öffentlicher Wasserleitungen, Austrocknung schädlicher Sümpfe, Beschützung einer Gegend vor Überschwemmung, Erbauung von öffentlichen Kanälen, Schleußen. u. Brücken, Erbauung od. Vergrößerung von Häfen, Errichtung von Eisenbahnen, Aufstellung von Telegraphen, Vorkehrungen von wesentlich nothwendigen sanitäts- od. sicherheitspolizeilichen Zwecken, insbesondere auch zur Schirmung der Kunstschätze u. wissenschaftlichen Sammlungen des Staates vor Feuer u. anderer Gefahr, so jedoch, daß überdies. in allen Fällen die betreffende Kreisregierung u., im Falle der Berufung, der versammelte Staatsrath erst zu entscheiden hat, ob das einzelne Unternehmen auch wirklich diesen Anlagen zuzurechnen sei u. die zwangsweise Abtretung dabei wirklich vom gemeinen Nutzen gefordert werde; c) die E. kann von den betroffenen Privateigenthümern immer nur gegen volle Entschädigung verlangt werden. Dies folgt von selbst aus der grundsätzlich festzuhaltenden Unverletzlichkeit des Eigenthums u. aus der Unmöglichkeit, die E. auf alle Bürger gleichmäßig vertheilen zu können. Die Entschädigung muß das gesammte vernünftige u. überhaupt schätzbare Interesse umfassen, was der bisherige Eigenthümer an dem Besitze des abzutretenden Eigenthums zur Zeit der Abtretung gehabt hat. Auf den sogenannten Liebhaberwerth (Pretium affectionis) wird daher der Regel nach zwar keine Rücksicht genommen, dagegen muß dem Eigenthümer nicht allein der wahre, gemeine Werth der Sache nach ortsüblicher Würderung, sondern auch Ersatz derjenigen Schäden gewähr werden,[43] welche der Eigenthümer bei der Abtretung, z.B. durch die unvorhergesehene Unterbrechung seines Besitzstandes, Störung seines Gewerbsbetriebes, Werthsminderung der bisher mit dem abgetretenen Grundstück verbundenen Pertinenzen, Kosten neuer Anlagen, welche in Folge der Abtretung gemacht werden mußten, wie neuer Wege, Wassergräben etc., noch erleidet. Die Entschädigung der letzteren Art kann eintretenden Falls auch von bloßen Adjacenten gefordert werden, wenn denselben durch die Anlage mittelbar ein solcher Schaden erwächst. Werthserhöhungen, welche bei der theilweisen E. für den zurückbleibenden Theil etwa mittelbar od. unmittelbar entstehen sollten (z.B. bei Anlegung von Bahnhöfen durch Erhöhung des Grundwerths der unmittelbar an den Bahnhof grenzenden Grundstücke), dürfen bei Ausmittelung dieser Entschädigung in der Regel nicht aufgerechnet werden; d) für die Feststellung der Pflicht zur E., wie für die Ausmittelung der dem Einzelnen zu gewährenden Entschädigung, wird ein besonderes Verfahren nothwendig, das sogenannte Expropriationsverfahren. Dasselbe wird in der Regel durch besondere vom Staat bestellte Commissare geleitet; wo dies nicht der Fall ist, gehört der Streit über das Vorhandensein der Abtretungspflicht vor die Verwaltungs-, der Streit über die Höhe der Entschädigung u. die damit zusammenhängenden Fragen vor die gewöhnlichen Civilgerichte. In Frankreich entscheidet über die letzteren Punkte eine Jury. Das Verfahren ist möglichst summarisch u. beginnt mit dem Antrag des Bauunternehmers od. der Baudirection an den Commissar, die E. vorzunehmen, worauf der Letztere unter Vermittelung der zuständigen Gerichtsbehörde, die erforderlichen Eigenthumsbescheinigungen einzuziehen u. die Betheiligten zu ermitteln hat. Findet hierauf keine gütliche Vereinigung statt, so beginnt mit Hülfe von Taxatoren, welche entweder für jede Flur im Voraus bestimmt od. von den Interessenten für jedes Grundstück bes. erwählt werden, das Schätzungsverfahren. Die Betheiligten werden dabei aufgefordert, die in Rücksicht zu ziehenden Verhältnisse vorzustellen; die durch die Taxatoren hierauf abgegebenen Taxen werden von dem Commissar geprüft u. mittelst Decretes festgestellt. Gegen diese Feststellung können die Betheiligten in der Regel auf den Ausspruch einer höheren Verwaltungsbehörde od. der Civilgerichte recurriren; in dem Preußischen Eisenbahngesetz ist aber ausnahmsweise bestimmt, daß dies nur von dem betroffenen Eigenthümer geschehen kann, während die expropriirende Eisenbahngesellschaft die Schätzung der Taxatoren unbedingt anerkennen muß. Kommen außer dem Eigenthümer Rechte Dritter (Pfandgläubiger, Realberechtigter, Pächter) in Betracht, so ordnen die Gesetze entweder gerichtliche Dispositon der Entschädigungssumme od. Stellung einer Caution an. Sollte später das expropriirte Object nicht mehr für den Zweck, zu welchem es expropriirt wurde, gebraucht werden, so reserviren manche Gesetze dem ursprünglichen Eigenthümer u. dessen Rechtsnachfolger ein Vor- u. Wiederkaufsrecht. Die Literatur über das Expropriationsrecht ist noch sehr dürftig. Vgl. Häberlin, im Archiv für civile Praxis, Bd. 39, S. 1 ff. 147 ff.; Bessel u. Kühlwetter, Das Preußische Eisenbahnrecht, Köln 1855; Winderl, Das Zwangs-Abtretungs-Gesetz, Regensb. 1856; Beschorner, Das deutsche Eisenbahnrecht mit besonderer Berücksichtigung des Actien- u. Expropriationsrechtes, Erlang 1858; von Wendt, Neuester Expropriationscodex, Nürnb. 1837.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 6. Altenburg 1858, S. 42-44.
Lizenz:
Faksimiles:
42 | 43 | 44
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon