[566] Spinoza (Spinosa), Baruch od. Benedictus v. S., geb. 24. Novbr. 1632 in Amsterdam, stammte von jüdischen, zu der portugiesischen Judengemeinde gehörigen Eltern ab. In seiner Jugend beschäftigte ihn neben dem gewöhnlichen rabbinischen Unterrichte auch das Studium der Lateinischen Sprache, in welchem ihn der Arzt van der Ende gefördert haben soll. Bald entzweite ihn das Studium der Cartesianischen Philosophie mit dem Rabbinismus; er besuchte die Synagoge nicht mehr, u. die Folge davon war 1655 seine Ausschließung aus der jüdischen Gemeinde, nachdem vorher ein Versuch ihn durch Geld für die Synagoge zu gewinnen von ihm zurückgewiesen worden war. Ob ein Mordanfall, welcher eines Abends, als er aus der Synagoge kam, auf ihn gemacht wurde, religiösen Fanatismus zum Motiv gehabt habe, ist nicht ganz klar; ebenso, ob der Amsterdamer Magistrat auf Antrag des jüdischen Kirchenvorstandes nach einem bei der reformirten Geistlichkeit eingeholten Gutachten ihn auf einige Monate aus Amsterdam verbannt habe. Wahrscheinlicher ist, daß S. selbst sich in Amsterdam nicht mehr ganz sicher fühlte; er zog sich nach Ouwerkerk bei Amsterdam zurück u. lebte dann in stiller Zurückgezogenheit u. ganz unangefochten in Rhynsburg, in der Nähe von Leyden (166064), im Voorburg beim Haag (165470)[566] u. endlich bis zu seinem Tode im Haag selbst. Eine lebenslängliche Pension von 800 Fl., welche er von seinem Freunde Simon de Vries erhielt, u. der Erwerb, welchen er von dem Schleifen optischer Gläser hatte, reichten bei seiner großen Mäßigkeit u. Einfachheit zu seinem Unterhalte aus; als de Vries ihn zum Erben einsetzen wollte, schlug er dies zu Gunsten des Bruders von de Vries aus u. reducirte ein Jahrgeld von 500 Fl., welches ihm dieser vermachte, auf 300 Fl. Ein Geschenk von 2000 Fl., welches ihm einmal angeboten wurde, lehnte er ab; ebenso schlug er einen im Jahre 1673 ihm gemachten Antrag, als Professor der Philosophie nach Heidelberg zu gehen, aus, weil er nicht wisse, innerhalb welcher Grenzen die ihm in Aussicht gestellte Freiheit zu philosophiren gehalten sein müsse, damit er nicht die öffentlich anerkannte Religion stören zu wollen scheine. So lebte er, lediglich mit der Ausarbeitung seiner philosophischen Gedanken u. dem Studium der Optik u. Physik beschäftigt, bis zum 21. Febr. 16777, wo er an der Schwindsucht starb. Bei seinem Leben hat er nur zwei Schriften herausgegeben, Ren. des Cartes principiorum philosophiae P. I. II. nebst den Cogitata metaphysica (Amsterd. 1663) u. (anonym) den Tractatus theologico-politicus (Hamb. 1670), in welchem er den Offenbarungsglauben einer Kritik unterwirft, daher diese Schrift. im Jahre 1873 dreimal unter falschem Namen u. Titel, z.B. als Dan. Heinsii operum historic. collectio prima, wieder gedruckt worden ist. Nach seinem Tode gab sein Freund Ludw. Meyer seine Opera posthuma (Amsterd. 1677) heraus; sie enthalten außer dem Hauptwerk, Ethica, den Tract. politicus, den unvollendeten Tract. de intellectus emendatione, eine Anzahl Briefe u. ein Gompendium grammaticae linguae hebraicae. Seine Schriften sind gesammelt herausgeg. von H. E. G. Paulus (Jena 1802, 2 Bde.) u. K. H. Bruder (Wz. 1846, 3 Bde.); ins Französische übersetzt von Emil Saisset (Par. 1842), ins Deutsche von B. Auerbach (Stuttg. 1844, 5 Bde.); ins Englische der Tract. theol. polit. erst 1863.
Das System des S., welches er in der Ethik nach Art der Geometer (More geometrico) darstellt, d.h. dadurch, daß er Definitionen, Axiome, Lehrsätze sammt den Beweisen, Lehnsätzen u. Corollarien sondert, beruht auf den, aus der aristotelisch-scholastischen Philosophie überkommenen Begriffen der Substanz. des Attributs u. des Modus. Substanz ist das, was durch sich selbst ist u. durch sich selbst begriffen wird; Attribut das, wodurch das Wesen der Substanz begriffen wird; Modus ist eine Affection, eine veränderliche Bestimmung der Substanz, das, was an einem andern ist, wodurch es begriffen wird. Während nun Cartesius angenommen hatte, daß es außer der Substanz im eminenten Sinne, Gott, zwei Klassen von Substanzen gebe, denkende u. ausgedehnte, glaubt S. beweisen zu können, daß es nur eine unendliche Substanz, Gott, gebe, welche unendlich viele Attribute habe, deren jedes deren ewiges u. unendliches Wesen ausdrücke. Die endlichen Dinge sind Modificationen dieser Attribute; diese Modificationen fallen unter den Begriff der Bestimmung (Determinatio); Bestimmung ist Verneinung; bezogen auf die unendliche Substanz ist jedes endliche Ding eine Verneinung, eine Beschränkung, welche das Wesen der Substanz nur auf eine bestimmte u. endliche Weise ausdrückt. Die Totalität aller Modificationen Gottes (das Universum, Natura naturata im Gegensatze zur Natura naturans) ist der nothwendige Ausdruck des Wesens der Substanz; Gott ist die immanente, nicht transiente Ursache der Dinge; die Nothwendigkeit, mit welcher er handelt, ist zugleich die höchste Freiheit, weil es keine Macht außer ihm gibt, die auf ihn einwirken könnte. Die Dinge konnten auf keine andere Weise von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht worden sind; es gibt eben so wenig einen Zufall, als Zweckveranstaltungen; der Zweckbegriff ist lediglich ein Vorurtheil der menschlichen Auffassung. Von den unendlich vielen Attributen der Substanz sind der menschlichen Erkenntniß nur zwei zugänglich, Ausdehnung u. Denken; alle Körper u. ihre Veränderungen (Bewegung u. Ruhe) sind Modificationen der ersteren; alle Geister u. ihre Veränderungen (Gedanken u. Begehrungen) Modificationen der letzteren. Zwischen den Modificationen dieser beiden Attribute findet ein vollkommener Parallelismus statt; das Wesen des menschlichen Geistes besteht lediglich in der Vorstellung der Modificationen der Ausdehnung, welche seinen Körper bilden; vermittelst der Vorstellung dieser Modificationen stellt er sich auch andere Körper vor; das Selbstbewußtsein ist die Vorstellung dieser Vorstellungen. Insofern der Mensch die Dinge als das, was sie an sich selbst, abgesehen von der Beziehung auf ihn, sind, nämlich als Modificationen Gottes (sub specie aeternitatis) betrachtet, hat er eine adäquate Erkenntniß; jede andere Art der Erkenntniß ist inadäquat. In diesen Sätzen sind die Grundzüge des Pantheismus des S. enthalten, welcher an sich gar keine Beziehung zu ethischen Fragen hat. Für die Lehren, um derenwillen S. sein Hauptwerk eine Ethik nannte, liegt der Anknüpfungspunkt jedoch in dem Satze, daß jedes Ding so viel möglich sich in seinem Sein zu erhalten sucht. Für den Menschen ist der Ausdruck dieses Strebens die Begehrung dessen, wovon er glaubt, daß es ihm nützlich sei, u. darnach richtet sich der Unterschied des Guten u. Bösen, welcher lediglich eine relative Bedeutung hat. Gut ist, wovon wir wissen, daß es uns nützlich sein wird, bös das, was wir als Hinderniß der Erlangung eines Gutes erkennen; der Mensch begehrt nichts, weil er es für gut hält, sondern er hält etwas für gut, weil er es begehrt. Im Verkehr der Menschen ist daher die Überlegung der Folgen maßgebend, welche das Handeln für ihn hat, u. insofern Affecte u. Leidenschaften für ihn nachtheilige Folgen herbeiführen, wird er sie zu beschränken u. zu beherrschen suchen. Deshalb ist das höchste Gut des Geistes die Erkenntniß, weil sie dem Streben des Geistes am angemessensten ist u. ihm das größte Wohlgefühl gibt. Insofern die Erkenntniß darin besteht, daß der Geist sich als eine Modification der unendlichen Substanz weiß, schließt sie die Liebe Gottes ein; denn Liebe ist das Gefühl der Freude (Laetitia), welches von der Vorstellung eines äußeren Dinges als seiner Ursache begleitet wird. Diese Rebe des Menschen zu Gott ist zugleich ein Theil der unendlichen Liebe, mit welcher Gott sich selbst liebt, insofern er sich im menschlichen Geiste darstellt. Obgleich diese Sätze von der Erkenntniß als dem höchsten Gut u. der Liebe zu Gott über die Ethik des S. einen blendenden Schein verbreiten, so gehen doch alle ihre Werthbestimmungen von der Begehrung aus u. sind demnach durch eine unübersteigliche Scheidewand von jeder ethischen Ansicht getrennt,[567] für welche die Begriffe gut u. bös einen Unterschied in dem Werthe der Begehrungen selbst, den Maßstab eines Urtheils über die Begehrungen enthalten. Dies gilt auch von der Rechts- u. Staatslehre des S. Recht ist ihm Macht; was jeder der Natur seines Wesens nachbegehrt u. thut, ist sein natürliches Recht, sobald er die Macht hat es durchzusetzen. Nun gerathen aber die Menschen in Conflicte unter einander, u. der Einzelne wird jederzeit weniger Macht, also auch weniger Recht haben, als die Gesammtheit der mit ihren Begehrungen ihm feindselig Gegenüberstehenden. Das Mittel sich vor den darin liegenden Nachtheilen zu schützen u. die Vortheile der Verzichtleistung auf die Ausübung des natürlichen Rechts zu sichern, ist der Staat, in welchem das natürliche Recht jedes Einzelnen auf die Gesellschaft übertragen wird, in welcher der Träger der höchsten Macht zugleich Inhaber des höchsten Rechts ist. Befriedigen die Machthaber im Amte die Ansprüche der Einzelnen auf Sicherheit u. Wohlsein nicht, so tritt das natürliche Recht des Einzelnen wieder in seine Geltung; der Staatsvertrag ist kein unwiderruflicher, u. darin liegt das Mittel des Schutzes gegen den Mißbrauch der Macht im Staate.
Die Lehre des S. bat in der ersten Zeit nach seinem Tode nur verhältnißmäßig wenige Anhänger gehabt; in Holland eigneten sich Fr. van Leenhof, Pontican von Hattem, Jac. Bril u. And. sie theils in rationalistischer, theils in mystischer Weise an u. geriethen dadurch mit Kirche u. Staat in Conflict. Auf die deutsche Philosophie hat sie seit den Verhandlungen zwischen Fr. H. Jacobi u. Mendelssohn über Lessings Spinozismus einen sehr großen Einfluß ausgeübt, welcher sich in den Systemen Fichte's, Schelling's u. Hegel's zu erkennen gibt. Das System ist wegen der nüchternen Strenge seiner Darstellung u. der Freiheit von aller rhetorischen u. phantastischen Verbrämung gewissermaßen der typische Ausdruck der pantheistischen Weltansicht; daher auch die Kritik der Haltbarkeit dieser Ansicht sich vorzugsweise gegen S. gerichtet hat. Vgl. I. Colerus, La vie de S., Haag 1706; H. F. Diez, S. nach Leben u. Lehre, Dessau u. Lpz 1788; M. Philipson, Leben. von S., Braunschw. 1790, 2 Bde.; Fr. H. Jacobi, Über die Lehre des S., Lpz. 1785, u. Aufl. 1789; Herder, Göttliche Gespräche über S., Gotha 1787, 2. Ausg. 1800; C. von Orelli, S-s Leben u. Lehre, Aarau 1843, 2. A. 1850; A. Saintes, Histoire de la vie et des ouvrages de S., Par. 1842; B. Schläter, Die Lehre des S., Münst. 1836; K. Thomas, S. als Metaphysiker, Königsb. 1640; Ant. van der Linde, S., seine Lehre u. deren erste Nachwirkungen in Holland, Götting. 1862. H. Ritter, Welchen Einfluß hat die Philosophie des Cartesius auf die Ausbildung des S. gehabt? Lpz. 1817; G. S. Franke, Über das neuere Schicksal des Spinozismus, Schlesw. 1812; H. C. W. Sigwart, Über den Zusammenhang des S. mit der Cartesianischen Philosophie, Tüb. 1816; Derselbe, Kritische u. philosophische Beiträge zu Erläuterung des Spinozismus, ebd. 1838; Derselbe, S., historisch u. philosophisch erläutert, ebd. 1838; Derselbe, Vergleichung der Staats- u. Rechtsphilosophie des S. u. Hobbes, ebd. 1842.
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