Mumĭen

[242] Mumĭen (v. alt franz. mumie, jetzt momie, ital. mummia, pers. mumijâ, v. mûm oder môm, Wachs oder Harz zum Einbalsamieren der Leichen), durch physikalische Verhältnisse oder chemische Zubereitung vor Verwesung geschützte und in ihrer allgemeinen Form erhaltene tierische und menschliche Körper. Natürliche M. entstehen beim Liegen der Leiche in sehr porösem und trocknem Boden, wie besonders in der Sahara (weiße M.) und in der peruanischen Wüste, oder durch einen kalten austrocknenden Luftzug, wie im Bleikeller des Doms zu Bremen oder auf dem Großen St. Bernhard, oder durch mineralische Bestandteile des Bodens (z. B. Kochsalz-, Salpeter- oder Alaungehalt). Neugeborne und magere fastlose Leichen mumifizieren am leichtesten, die M. riechen käseartig und haben pergamentartig harte, graue oder braune Haut, die fest am Knochen haftet. Unter den künstlichen, durch besondere Präparation mit fäulniswidrigen Stoffen erzeugten M. sind die ägyptischen seit alter Zeit berühmt. Der Name stammt von dem arabischen Wort mūmiá, das ursprünglich verschiedene Erdharze (Asphalt u.a.) bezeichnet zu haben scheint und darum auf die von derartigen Harzen erfüllten und durchdrungenen ägyptischen M. übertragen wurde. – Die M. liegen in den ägyptischen Gräbern zum Teil in Sarkophagen oder in Särgen, die nicht selten die äußere Form einer Mumie haben (s. Tafel »Grabmäler«, Fig. 1, und Tafel »Ornamente I«, Fig. 6); namentlich gilt dies von dem innersten Kasten, der oft nur aus einer Art von Pappe gemacht ist; sie sind mit einer außerordentlichen Menge von Binden aus Leinwand fest umwickelt. Manchmal, z. B. in thebanischen Volksgräbern, liegen die M. uneingesargt in Haufen zu Hunderten und Tausenden. Sie sind langgestreckt, mit den Händen über der Brust oder über der Schoßgegend gekreuzt oder mit eng an der Seite liegenden Armen, Frauen zuweilen in der Stellung der Venus von Medici. Zwischen den Beinen oder Händen, seltener in den Achselhöhlen, findet man bei den Vornehmern religiöse Handschriften auf Papyrus, besonders aus dem »Totenbuch«, womit in späterer Zeit auch die Mumienbinden oft beschrieben sind. Am Bauch und auf der Brust, häufiger noch zwischen den Binden, finden sich kleinere Amulette; die M. von Vornehmern sind oft mit Schmucksachen aus Gold und edlen Steinen, Halsbändern, Ringen, Ohrringen, Skarabäen, Amuletten und Götterfiguren geschmückt. Bei einigen hat man auch Kränze aus Blättern und Blumen von oft wunderbarer Erhaltung und Ketten von Beeren gefunden. Die Haare sind meist kurz geschoren oder auch in Löckchen frisiert, bei Weibern manchmal lang und vortrefflich erhalten; die Schamhaare fehlen. Brust- und Bauchhöhle sind leer, durch Leinwandballen voneinander getrennt und mit einer harten, schwarzen, harzigen Substanz angefüllt. Die weiblichen Brüste finden sich nicht selten mit Leinwand ausgestopft oder mit Harz ausgegossen. Die M. sind oft von den antiseptischen, harzigen und aromatischen Stoffen, mit denen sie behandelt wurden, so vollständig durchdrungen, daß sie eine dunkelgelbe, rötliche, braune oder schwarze Farbe und einen nicht unangenehmen, aromatischen Geruch angenommen haben. Die M. von Memphis sind nach Mariette schwarz, ausgetrocknet und sehr zerbrechlich, während die von Theben gelb, mattglänzend und oft noch geschmeidig sind, was auf eine verschiedenartige Behandlungsweise deutet. Die M. der spätern Zeit sind schwarz und schwer und bilden mit den verpichten Binden eine unförmliche Masse. Schon der arabische Gelehrte Abdul Latif erzählt von Goldstückchen, die sich auf den M. fänden, und in vielen Museen hat man Exemplare mit Vergoldung im Gesicht, auf den Augenlidern, auf den Lippen, an den Geschlechtsteilen, an Händen und Füßen. Das Gesicht wurde in den spätern Zeiten mit einer oft vergoldeten Reliefmaske, in hellenistischer und römischer Zeit auch mit einem auf Sykomorenholz gemalten Porträt bedeckt (s. Mumienbildnisse).

Die Art der Behandlung und Ausstattung ist bei den M. je nach Zeit, Ort und nach dem Stand sehr verschieden gewesen; nach Herodot und Diodor gab es bei den Ägyptern drei Arten der Einbalsamierung: die erste habe 1 Talent (etwa 1500 Mk.) gekostet, die zweite 20 Minen (etwa 1500 Mk.), die dritte sei sehr wohlfeil gewesen. Nach der ersten Art, welche die Körperformen am besten konservierte, wurden zunächst von den »Paraschiften« durch einen Seiteneinschnitt, der mit steinernem Messer geschehen mußte, die Eingeweide herausgenommen, die teils in den Kanopenvasen besonders einbalsamiert und beigesetzt, teils, wenn wir einer Nachricht des Porphyrius Glauben schenken dürfen, in den Nil geworfen wurden; das Gehirn wurde vermittelst eines Hakens durch die Nase herausgezogen. Danach wurde der Leichnam mit Palm wein und aromatischen Ölen gewaschen und mit Myrrhen und Kassie angefüllt, oder er wurde mit »Natron«, einem von dem jetzt Natron genannten verschiedenen Stoff, imprägniert und danach mit Harzen und andern aromatischen und fäulniswidrigen Stoffen angefüllt, worauf man ihn 70 Tage trocknen ließ und ihn dann in Binden wickelte. Die Einbalsamierung der zweiten Art geschah ohne Seiten einschnitt, indem man, nach Entleerung der Baucheingeweide durch den After, den Leichnam mit Zedernöl anfüllte. Dies Verfahren dauerte ebenfalls 70 Tage. Die Einbalsamierung der dritten Art bestand in Waschen mit einer geringern Flüssigkeit (Syrmaia) und Einsalzung. Viele M. wurden dann noch mit Asphalt umgeben, so daß sie ganz schwarz und unkenntlich wurden. Die alten Schriftsteller haben indes nur das allgemeine Verfahren der Einbalsamierung beschrieben ohne die Einzelheiten, von denen die leider sehr dunkeln Einbalsamierungsrituale der alten Ägypter selbst sprechen. Es befinden sich dergleichen in Kairo und in Paris, und sie wurden von Maspero erklärt; aromatische Wässer verschiedener Art, allerlei kostbare Öle, Pech, Wohlgerüche, Natron, Blumen und andre Substanzen wurden danach reichlich und in mystischer Bedeutung angewendet. In dem von Birch und Brugsch übersetzten Papyrus Rhind heißt es von einem Verstorbenen: »er sei gereinigt mit dem Wasser aus Elefantine (dem Nil) und mit dem Natron aus Eileithyiaspolis und mit der Milch der Stadt Kim«. Diese Texte sind verhältnismäßig jung; aber schon im Totenbuch heißt es, der Verstorbene sei von allem Schmutzigen durch die Entfernung der Eingeweide befreit und durch ein Bad im Salzbassin und im Natronbassin gereinigt. Die Ägypker mumifizierten auch die Körper ihrer heiligen Tiere, namentlich Ibisse, Geier, Sperber, Eulen, Katzen, Schakale, Krokodile, [242] Affen, Mäuse, Fledermäuse, die Köpfe von Stieren und Widdern, Schlangen, einzelne Fischarten, besonders den Nilbarsch, Käfer u.a. Die Fische wurden, mit einem seitlichen Einschnitt versehen, in das Wasser der Natronseen gelegt, dann in den Tonschlamm dieser Seen eingehüllt und mit Binden umwunden; sie sind erstaunlich gut erhalten. Der Gebrauch der Einbalsamierung wurde erst im 6. Jahrh. n. Chr. aufgegeben. Großes Aufsehen machte im Juli 1881 die Auffindung zahlreicher Königsmumien in einem Versteck auf dem thebanischen Westufer, unter denen sich diejenigen der berühmtesten Herrscher des Landes, des großen Eroberers Thutmosis III., Seti I., Ramses II., Ramses III., befinden und die jetzt im Museum von Kairo aufgestellt sind. Vgl. Pettigrew, History of Egyptian mummies (Lond. 1834); Virchow in den Schriften der Berliner Akademie (über die Königsmumien, 1888); Budge, Mummy, chapters on Egyptian funeral archeology (Cambridge 1893); Lortet u. Gaillard, La faune momifiée de l'ancienne Égypte (Lyon 1902–05, 2 Tle.).

Auch die alten Guanchen auf den Kanarischen Inseln verstanden sich auf die Einbalsamierung; ihre M. sind in Ziegenfelle eingenäht und gut erhalten. Sie, wie auch die Mexikaner und Peruaner, trockneten, wie es scheint, die Leichname an der Luft oder durch Begraben in einem sehr trocknen Boden; die M. der letztern finden sich in hockender Stellung; mit beiden Handen das Gesicht verdeckend (vgl. Reiß u. Stübel, Das Totenfeld von Ancon in Peru, Berl. 1887); s. Amerikanische Altertümer, S. 434, mit Tafel I, Fig. 2–4 u. 9. Lediglich die Leichen der Vornehmen und namentlich der Inkas wurden mit Wohlgerüchen einbalsamiert, ohne daß wir jedoch wüßten. wie das geschah Die kostbaren M. der Inka saßen im Sonnentempel auf Stühlen, die Hauptfrau des Inka aber wurde, ebenfalls als Mumie, in dem Tempel des Mondes aufgestellt. Die alten Herrscher von Quito sollen mumifiziert in einem Pyramidengrabe beigesetzt worden sein. Auch bei den birmanischen Priestern besteht die Sitte der Einbalsamierung, die meistens mit dem Glauben an ein Wiederaufleben der toten Körper zusammenhängt. Eine ausgedehnte Provinz der Mumifizierung der Toten findet sich schließlich im Stillen Ozean; verbürgt ist diese Begräbnisart für Neuseeland, Hawaï, Mangarewa, Tahiti und die Markesas, auf dem Festland Australien für Teile von Victoria und die Gegend um den Carpentariagolf. Wie in Amerika und anderswo, so kommen auch in diesem ganzen Bezirk keineswegs alle Leichen, sondern nur diejenigen bevorzugter Menschenklassen, wie der Fürsten und Adligen, für die Mumifizierung in Frage. Auf Neuseeland war die Mumifizierung zudem nur partiell; sie beschränkte sich auf den Kopf berühmter oder verehrter freier Männer, dem man Gehirn, Fleisch, Augen etc. entnahm, die Augen dafür mit Flachs ausstopfte, während man die Nase durch ein Stäbchen stützte. Dann trocknete und räucherte man das Ganze. Zu Anfang des 19. Jahrh. ist mit solchen Köpfen ein schwungvoller Handel getrieben worden. In Hawaï, auf Mangarewa, den Markesas und in Tahiti scheint ganz allgemein das Verfahren obgewaltet zu haben, den Körper, nachdem man die Eingeweide durch die Mastdarmöffnung entfernt hatte, mit Öl einzureiben und dann an der Sonne zu trocknen. Den Schluß der Behandlung machte dann auf den Markesas eine Umwickelung des Leichnams mit Zeug oder Tüchern, der auf Mangarewa noch eine Umschnürung mit Kokosseilen folgte, auf Tahiti eine Umhüllung mit der gewöhnlichen Kleidung. Beigesetzt wurden die M. in sitzender oder liegender Stellung in Höhlen (Hawaï, Mangarewa, Tahiti) oder in einem kahnförmigen Sarg am Meer (Markesas). Für Australien wird von einem Dörren der Leichen mehrfach berichtet; in Victoria wurde der getrocknet e Leichnam des Angesehenen dann in einen hohlen Baum gesteckt, was mit den Leichen der andern sogleich, ohne sie zu dörren, geschah. Bekannt ist das Trocknen der Leichen im Gebiete der Torresstraße (s. Tafel »Totenbestattung bei den Naturvölkern II«, Fig. 12). Für die Gegend um den Carpentariagolf hat Klaatsch jüngst folgendes Verfahren erkundet: die Mumifizierung geschieht durch bloßes Räuchern, ohne Zuhilfenahme chemischer Agenzien. Der Tote wird für einige Tage begraben, dann wieder hervorgeholt und die verwesende Epidermis samt den Haaren entfernt. Der Leib wird aufgeschnitten und der Körper auf einem Gestell aus Baumstämmen langsam über dem Feuer gedörrt. Mit dem herabtröpfelnden Fett und Blut schmieren sich die Weiber die Haare ein, die sie zu Bündeln kräuseln. Der Körper wird dann in seine endgültige Haltung gebracht, indem die Extremitäten eng an den Rumpf geschnürt werden. Die Mumie ist dann transportfähig; sie wird auch mitgeschleppt. Heute ist die Mumifizierung lokal und nach den Ständen sehr beschränkt auch in Nordostaustralien. Vgl. Waitz, Anthropologie der Naturvölker, Bd. 4 u. 6 (Leipz. 1864 u. 1872); Klaatsch in der »Zeitschrift für Ethnologie«, 1905, Heft 5.

Ähnlich wie die Maori von Neuseeland, verstehen es auch andre primitive Völker (Jivaro, Mundrucu in Südamerika, Markesaner), die abgeschnittenen Häupter von Feinden und sonst erlegten Personen haltbar zu machen, um sie als Trophäen zu tragen (s. Kopfjagden). In neuerer Zeit, mit den Mitteln der fortgeschrittenen Chemie, würde man, wenn darauf Wert gelegt würde, nicht weniger vollkommene M. erzeugen können als im alten Ägypten, wie unter andern Brunnetti in Padua mit seinen künstlich versteinerten Leichen bewiesen hat. Durch das Einbalsamieren (s. d.) sind viel bessere Resultate erzielt worden. – Die Substanz von M. wurde von den Arabern unter dem Namen »Mumie« in die Heilmittellehre eingeführt. Schon Abd ul La tif, ein arabischer Reisen der des 12. Jahrh., berichtet, daß man die nach Myrrhen duften den M. in Ägypten zu medizinischen Zwecken verkaufe; im 16. Jahrh. und im Anfang des 17. Jahrh. galt Mumie in Europa als vorzügliches Heilmittel gegen Brüche, Wunden und Kontusionen (Franz I. von Frankreich hielt sie für ein köstliches Allheilmittel), aber schon am Ende des 17. Jahrh. wollten gebildete Ärzte sie aus den Apotheken entfernt wissen, in denen sie gleichwohl noch lange gefordert worden ist. In dem Heilsystem des Paracelsus und seiner Nachfolger spielte eine Mumie, die man aus den Körpern von Gehenkten (am besten Rothaarigen, »weil deren Fleisch vortrefflicher ist«) wie denjenigen lebender Menschen durch Räuchern bereitete, eine große Rolle (vgl. Fäulnis, S. 354), ebenso im Hexenglauben, indem man durch Benutzung derselben den Lebenden schaden zu können glaubte (s. Bildzauber). Daher die noch heute im Volk lebendige Vorsicht, Haare und Nägelabschnitte zu verbrennen, damit sie nicht in böse Hände fallen können.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 242-243.
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