Gerichtliche Medizin

[634] Gerichtliche Medizin (Medicina forensis), die Anwendung der medizinischen Wissenschaft auf die Rechtspflege und die Gesetzgebung. Die g. M. umfaßt im wesentlichen die Lehre von den gewaltsamen Todesursachen und den Körperverletzungen, die Lehre von den für die Rechtspflege wichtigen krankhaften Seelenzuständen, gerichtliche Psychiatrie, und die Lehre von den zweifelhaften und krankhaften geschlechtlichen Verhältnissen.

Bei den gewaltsamen Todesarten ist zunächst von Wichtigkeit die Entscheidung, ob Mord, Selbstmord oder Unfall vorliegt; der Mörder vermeidet nach Möglichkeit Schußwaffen, wegen des verräterischen Knalles, und wendet in der Regel weit größere Gewalt an, als zur Erreichung des Zieles, der Tötung seines Opfers, erforderlich ist; beim Erhängen ist fast ausnahmslos Selbstmord anzunehmen, auch bei Nahschüssen liegt häufiger Selbstmord als Mord vor; Frauen wählen als Selbstmordart häufiger Ertränken und Vergiften, Männer häufiger Erschießen und Erhängen. Neben solchen allgemeinen Sätzen kommen aber fast immer bestimmend die speziellen Umstände des Einzelfalles für die Unterscheidung von Mord, Selbstmord und Unfall in Betracht. Weiter erörtert die Lehre von den gewaltsamen Todesursachen noch die sogen. konkurrierenden Todesursachen, d. h. das Zusammenwirken mehrerer Todesarten, das beim Unfall wie beim Selbstmord und Mord vorkommt, weiterhin das Alter aufgefundener Leichen, bez. die Zeit, die seit dem Tode vergangen ist, und den ursächlichen Zusammenhang zwischen äußern Einflüssen und dem eingetretenen Tode; dieser Zusammenhang ist nicht immer leicht zu erkennen, namentlich wenn die äußere Gewalteinwirkung oder die äußere Verletzung klein war, und wenn zwischen ihrer Entstehung und dem Eintritt des Todes lange Zeit verstrich, oder wenn erst eine dazwischen tretende Eiterung, eine Wundrose oder ein Delirium den Tod herbeiführte. Auch die Priorität des Todes gehört in das hier behandelte Fach; gelegentlich ist die Vererbung großer Vermögen nur abhängig gewesen von der Entscheidung, ob zwei bei einem Unfall oder Mord zugrunde[634] gegangene Personen gleichzeitig oder nacheinander und in welcher Reihenfolge sie gestorben waren Bei äußern Verletzungen kann die Zerstörung lebenswichtiger Organe, wie Hirn, Herz, Lunge, oder die nervöse Erschütterung (Hirnerschütterung, Tod durch Schreck, plötzlicher Herzstillstand) oder der Blutverlust oder eine sich hinzugesellende Wundinfektion den tödlichen Ausgang besiegeln. Unter den Vergiftungen stehen diejenigen mit Arsen, Phosphor, Leuchtgas, Schwefelsäure und Karbolsäure obenan; der Alkohol ist namentlich für die Frage der Zurechnungsfähigkeit (s. unten) von Wichtigkeit. Bei der Frage des Kindsmordes beantwortet die g. M. die Fragen, ob das Kind neugeboren war, ob es Reise und Lebensfähigkeit besaß, ob es gelebt hatte oder nicht; berühmt ist hier die sogen. Lungenschwimmprobe (s.d.). Weiterhin erörtert dieser Teil der gerichtlichen Medizin die nichttödlichen Körperverletzungen, die ärztlichen Kunstfehler, die Schäden der Kurpfuscherei und die Spuren der Tat am Orte des Verbrechens; in letzterer Beziehung hat namentlich eine neuere Methode Aufsehen gemacht, die es gestattet, die Herkunft angetrockneter Blutflecke vermittelst der Serodiagnostik sicher zu unterscheiden (s. Blutflecke). Ein Grenzgebiet nach der Kriminalistik hin bildet bereits die Lehre von den Fingerabdrücken (s.d.), mit Hilfe derer man Verbrecher identifiziert, und das Bertillonsche Meßverfahren (s. Bertillonsches System); beide letztere Verfahren werden in der Regel nicht von Ärzten, sondern von Polizeibeamten gehandhabt.

Die gerichtliche Psychiatrie wendet die Grundsätze der allgemeinen Psychiatrie auf gerichtliche Fragen an; sie ist der Natur der Sache nach viel weniger geeignet, exakte und neue Methoden zu diesem Zweck auszubilden und läßt dafür dem subjektiven Urteil des Gutachters eine weit mehr bestimmende Rolle. Die Begutachtung wird sowohl für strafrechtliche wie zivilrechtliche Prozesse gebraucht. Strafrechtlich handelt es sich um die Frage, ob der Täter sich bei Begehung der Tat in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch den seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war (§ 51 des deutschen Strafgesetzbuches). Die Schwierigkeit der Beantwortung hat manche Ärzte dahin gebracht, nur den ersten Teil dieser Frage, nämlich die nach der Bewußtlosigkeit und krankhaften Störung der Geistestätigkeit, vor Gericht zu beantworten, den zweiten Teil, die freie Willensbestimmung, dagegen dem Gericht zur Beantwortung zu überlassen. Besser ist es aber, wenn der Gerichtsarzt sich über die ganze Frage zusammen ausspricht; das Gutachten des Gerichtsarztes hat ja nie den formellen Ausschlag zu geben, sondern die Richter oder Geschwornen urteilen nach ihrer eignen freien Überzeugung, welche die Ausführungen des Gerichtsarztes als stichhaltig oder nicht stichhaltig verwerten kann. Allerdings ist das Gesamturteil über die angezogene Frage in vielen Fällen nicht mit der dem Gericht wünschenswerten Eindeutigkeit zu geben. Jeder Mensch birgt die Keime in sich, die bei ihrem Überwuchern zum Verbrechen führen können, die Liebe, die Eitelkeit und Herrschsucht, den Neid, die Gewinnsucht, den Leichtsinn. Beim normalen Menschen ist diesem gegenüber ein moralisches oder intellektuelles Gegengewicht vorhanden; dieses verhindert den Menschen im entscheidenden Moment, sei es aus Furcht vor Strafe, sei es aus immanenter sittlicher Kraft, an der Begehung einer Straftat. Werden die Triebe zum Verbrechen übermächtig, so kann es auch bei sittlich hochstehenden Menschen zum Verbrechen kommen, so im Jähzorn, in den höchsten Affekten der Liebe, gelegentlich sogar in Affekten von altruistischem Charakter, z. B. der Mutterliebe. Auf der andern Seite und häufiger kommt eine Straftat zustande durch das Versagen des moralischen Gegengewichts, und hier liegen die meisten Schwierigkeiten für den Gerichtsarzt, denn in vielen Fällen erkennt er, daß das moralische Gegengewicht des Delinquenten vermöge dessen gesamter Naturanlage geringer war als beim normalen Menschen. In der Tat ist eine scharfe Scheidung zwischen normalem moralischen Gegengewicht und fehlendem moralischen Gegengewicht nicht gegeben, und die Frage des Strafgesetzbuches, ob die Willensbestimmung im Momente der Tat frei oder nicht frei war, hat deshalb etwas Künstliches, der Natur nicht Entsprechendes. Der begutachtende Arzt hilft sich in den meist vorliegenden Übergangsfällen damit, daß er auf eine verminderte Zurechnungsfähigkeit votiert; das ist ein Ausweg, dem die Gerichte Rechnung tragen, indem sie dem Angeklagten beim Urteilsspruch mildernde Umstände zubilligen. Formell ist dies zwar nicht ganz korrekt, aber vom höchsten Gesichtspunkte der Gerechtigkeit ist es bei der bestehenden Gesetzgebung der einzige Weg, um den Tatsachen Rechnung zu tragen. Es macht sich neuerdings eine Bewegung unter den Juristen und Ärzten geltend, welche die Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit in den § 51 des Strafgesetzbuches fordert, doch hat die Erfüllung dieses Wunsches, wenn sie überhaupt kommt, wohl noch viel Zeit. Den Alkoholgenuß, eine der häufigsten Ursachen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit und verbrecherischer Affekthandlungen, läßt das deutsche Strafgesetzbuch mit Recht nur teilweise als Strafmilderungsgrund gelten.

Nicht mindere Schwierigkeiten macht die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit auf zivilrechtlichem Gebiete, wie sie bei der Entmündigung eine Rolle spielt. Es können bei einem Kranken sehr wohl die Gegengewichte gegen verbrecherische Handlungen und damit die Straffähigkeit vorhanden sein, während die feinern Geistesfäden, die das Netz unsrer täglichen Verpflichtungen, unsrer sozialen Stellung und unsrer finanziellen Existenz knüpfen, schon erheblich in Unordnung geraten sind. Nach dem deutschen Recht ist bei der Entmündigung stets ein Sachverständiger zu hören. Am häufigsten geben der Schwachsinn in seinen verschiedenen Formen (erbliche Degeneration, Idiotie, Imbezillität, moralisches Irresein, auch oft mit dem englischen Ausdruck moral insanity bezeichnet, endlich der Altersschwachsinn), ferner Hirnerweichung und Alkoholismus die Ursache für Entmündigungen ab.

Ein Grenzgebiet der gerichtlichen Psychiatrie nach der Kriminalpolitik hin bildet die Kriminalpsychologie, die Lehre von dem Seelenzustande des Verbrechers und von der Ursache des Verbrechens überhaupt. Sicher ist so viel, daß in einer nicht kleinen Anzahl von Verbrechen die subjektive Schuld des Verbrechers keine vollständige ist. Es gibt Naturen, bei denen vermöge ihrer gesamten geistigen Anlage der Trieb zum Verbrechen zum Überwiegen und das moralische Gegengewicht zum Unterliegen neigt. Man spricht dann vom gebornen Verbrecher oder in ethischer Beziehung vom moralischen Irresein; dies moralische Irresein soll bezeichnen, daß Intelligenzdefekte gegenüber den ethischen Defekten ganz zurücktreten, und daß also kein eigentlicher Schwachsinn,[635] der mit Herabsetzung beider Qualitäten verläuft, vorliegt. Auf Grundlage dieser nicht ganz seltenen Vorkommnisse hat man eine rein individualistische Theorie über die Entstehung des Verbrechens aufgestellt, nach der wesentlich die innern Eigenschaften des Menschen, namentlich die von den Eltern überkommene geringere moralische Widerstandsfähigkeit (erbliche Entartung) die Grundlage des Verbrechens bildeten. Auch bestimmte körperliche Zeichen, Stigmata, hat man als äußern Ausdruck dieser moralischen Verkommenheit geglaubt finden zu können, unsymmetrische Schädelbildung, Zahnverbildungen, Entwickelungshemmungen an den Geschlechtsorganen, angewachsene Ohrläppchen u. a. In dieser Richtung liegen Morels und Magnans Lehre von der Entartung und Lombrosos geborner Verbrecher. Im Gegensatz zu dieser individuellen Auffassung des Verbrechens steht die soziologische Richtung der Kriminalpsychologie, die das Verbrechen aus den gesamten gesellschaftlichen Verhältnissen, aus der Lebenslage, aus dem Verkehr des Verbrechers entstehen läßt, ohne dabei die individuelle Anlage zum Verbrechen in Abrede zu stellen. Diese soziologische Schule unter Liszts Leitung wird jedenfalls den Sieg davontragen, sofern sie beide Entstehungsmomente des Verbrechens, das individuelle und das soziale, gleichmäßig berücksichtigt.

Zweifelhafte geschlechtliche Verhältnisse unterliegen dem Urteil des Gerichtsarztes insofern, als die Beischlafs- oder Zeugungsfähigkeit des Mannes oder der Frau in Frage steht, ferner bei Verbrechen gegen die Sittlichkeit, bei widernatürlicher Unzucht. Ost sind dabei psychiatrische Fragen (Zurechnungsfähigkeit im Moment der Tat) zu beantworten, denn gerade in geschlechtlicher Beziehung geht die Steigerung des Triebes nicht selten mit der Verminderung des moralischen Gegengewichts einher. In manchen Fällen gilt es, eine angebliche Schwangerschaft, die bei der Gerichtsverhandlung vielleicht schon Jahre zurückliegt, als vorhanden oder nicht vorhanden zu beweisen, oder bei einer Kindsmörderin die Zeichen stattgehabter Geburt nachzuweisen, oder bei einem Abortus die Frage, ob künstlich oder natürlich, zu beantworten. Häufig trifft der Gerichtsarzt hier die Spuren des unsaubern Gewerbes professioneller Abtreiberinnen, ohne daß die Beweise zur Überführung hinreichen.

Meist ist der beamtete Arzt zugleich auch Gerichtsarzt. Die hohe Entwickelung der gerichtlichen Medizin läßt es aber wünschenswert erscheinen, daß eigne Ärzte zu ihrer Pflege angestellt werden, da nur besondere Gerichtsärzte die große neuere Literatur dieses Faches hinreichend übersehen, die seinen mikroskopischen und chemischen Methoden mit hinreichender Sicherheit ausführen und die Begutachtung lebender Menschen sowie die Sektion von Leichen zu gerichtlichen Zwecken mit hinreichender Übung vornehmen und in der mündlichen Verhandlung darstellen können. Preußen hat neuerdings in einer ganzen Reihe von Großstädten eigne Gerichtsärzte, die auch in den umliegenden Landkreisen bei den gerichtlichen Sektionen anwesend sind, angestellt. Der Unterricht in der gerichtlichen Medizin ist auf fast allen Universitäten eingeführt; die Professuren sind in Frankreich und Österreich Ordinariate, in Deutschland Extraordinariate. Ein gerichtlich-medizinisches Institut größern Stils besteht in Deutschland nur in Berlin; Greifswald, Heidelberg, Jena u. a. haben kleinere gerichtlich medizinische Institute.

Die Anfänge der gerichtlichen Medizin sind in der peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. (sogen. Carolina, 1532) zu suchen, die zuerst die Herbeiziehung von Ärzten bei Begutachtung gewisser Fälle vorschrieb. Paré gab bald darauf Anleitung zur Abfassung ärztlicher Gutachten, und im Anfang des 17. Jahrh. schrieben italienische Ärzte die ersten Lehrbücher der gerichtlichen Medizin. In Deutschland fand diese Disziplin zuerst gegen Ende des 17. Jahrh. größere Beachtung, im 18. Jahrh. zeigte sich die Rechtspflege der Zuziehung von Ärzten wieder weniger günstig, und erst im 19. Jahrh., seit dem Auftreten Feuerbachs und infolge der eminenten Fortschritte der Naturwissenschaften, trat ein gründlicher Wechsel der Anschauungen ein. Auch die moderne Strafrechts- und Strafprozeßgesetzgebung war auf diesem Gebiet von erheblichem Einfluß. Henke, Mende, Casper, Liman in Deutschland, Mare, Orfila, Tardieu in Frankreich und Christison in England haben sich um die g. M. besondere Verdienste erworben.

Vgl. Casper, Handbuch der gerichtlichen Medizin (8. Aufl. von Liman, Berl. 1889, 2 Bde.); Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin (9. Aufl., bearbeitet von Kolisko, Wien 1902); Maschka u. a., Handbuch der gerichtlichen Medizin (Tübing. 1881 bis 1883, 4 Bde.); Straßmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin (Stuttg. 1895); Gottschalk, Grundriß der gerichtlichen Medizin (2. Aufl., Leipz. 1903); Emmert, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin (das. 1903); »Gerichtliche Medizin«, zwölf Vorträge von Jolly, Liebreich, Mendel, Olshausen u. a. (Jena 1903); Hofmann, Atlas der gerichtlichen Medizin (Münch. 1897); Lesser, Stereoskopischer gerichtsärztlicher Atlas (Leipz. 1903ff.); Cramer, Gerichtliche Psychiatrie (2. Aufl., Jena 1900); v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie (3. Aufl., Stuttg. 1900) und Psychopathia sexualis (11. Aufl., das. 1901); Hoche, Die Grenzen der geistigen Gesundheit (Halle 1903); Schlockow, Der Kreisarzt (5. Aufl., bearbeitet von Roth und Leppmann, Berl. 1901); Eulenbergs »Vierteljahrsschrift für g. M.« (das., seit 1851). Vgl. auch die Literatur im Artikel »Gerichtliche Analyse« (S. 634).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 634-636.
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