[71] Irvingianer (Irvingiten), religiöse Secte in England, welche auch in Deutschland Anhänger gefunden hat u. noch findet. Der Stifter derselben, [71] Eduard Irving (s.d.), tadelte in seinen Predigten mit Feuereifer die Verirrungen in Staat, Kirche u. Schule, gerieth 1824 in Streit mit der Londoner Missionsgesellschaft, wegen seines Tadels über das Missionswesen u. in Differenzen mit den Curatoren seiner Gemeinde über die von ihm getroffene gottesdienstliche Anordnung, wonach der Geistliche nach dem Verlesen der Schrift abwarten solle, ob vielleicht der Heilige Geist (nach Apost. 5, 32) Jemand zu irgend einer Offenbarung treibe. Auf erhobene Klage bei dem schottischen Presbyterium in London, wurde Irving 1832 seiner Stelle entsetzt u. trat nun mit seinen Anhängern u. mit denen, welche in der Erscheinung des Weissagens die Stimme des Heiligen Geistes fanden, zu einer Gemeinde zusammen, erhielt in Newman-Street ein Local für den Gottesdienst u. eine Amtswohnung, wobei ihm bes. der Bankier u. Gutsbesitzer Drummond hülfreich war. Bald schlossen sich in London sechs neue Gemeinden an die Kapelle in Newman-Street an. Nach dem Tode Irvings (st. 1834) überreichten die Vorsteher der Secte, Apostel genannt, dem König u. der hohen Geistlichkeit von England u. Irland 1835 eine Denkschrift über ihre Tendenzen u. trafen auf einem Concil 1836 Anstalten zur weiteren Verbreitung ihrer Secte, indem Drummond die ganze Christenheit unter die irvingianischen Apostel vertheilte, u. zwar so, daß England mit Amerika u. Schottland u. die Schweiz 2 Aposteln, der übrige Continent aber, in 10 Provinzen getheilt, den anderen 10 Aposteln zugewiesen wurde. Die Apostel traten nun 1836 eine Reise in sämmtliche europäische Länder an, hatten aber wenig Erfolg, in der Schweiz wurden sie in Genf sogar ausgewiesen. Nach 1260 Tagen (vgl. Offenb. Joh. 11, 2 ff.) traten sie 1838 wieder zusammen, glichen einige Differenzen aus u. begannen aufs Neue ihre Wirksamkeit nach Außen. In Norddeutschland wurde Berlin eine ihrer Hauptstationen, u. im Mai 1848 wurde die Gemeinde, deren Zahl auf 500 angegeben ward, eingeweiht, deren Vorstand der Engländer Smith als Prophet wurde. In Süddeutschland fanden sie Sympathien in Württemberg, in Baiern durch katholische Geistliche u. in Kurhessen durch Thiersch. An der Gemeinde in Basel war Caird, welcher auch in Frankreich gewirkt hatte, u. Woringer thätig. Während in Schottland u. England die fernere Theilnahme für sie mehr u. mehr verschwand, so daß 1849 von den sieben Gemeinden in London nur noch eine bestand u. die noch nicht ganz fertige Hauptkirche in Liverpool an die Katholiken verkauft werden mußte; war ihre Thätigkeit in Deutschland, u. hier bes. in Preußen, erfolgreicher, von Berlin aus gingen Sendboten namentlich nach Schlesien u. der Mittelpunkt wurde hier Liegnitz, wo bes. Köppen in Privatversammlungen für die Secte wirkte, u. nach ihm 1851 der Schneidergesell Hennig, welcher sich als Redner großen Beifall erwarb, taufte, den Confirmandenunterricht ertheilte u. das Abendmahl reichte, indem er von vier angesehenen J-n, darunter Thiersch, u. Wesley, installirt ward; bes. fanden zahlreiche Übertritte statt in Karthaus, Panthen, Buchwäldchen u.a. O. Die Übergetretenen betrachteten sich jedoch nicht als ausgeschieden aus dem corporativen Verbande der Evangelischen Landeskirche, wie sich ausdrücklich die Irvingianergemeinde in Frankfurt a. d. O. in einem, den 30. April 1850 bei dem Ministerium eingereichten Gesuch aussprach u. den Maßnahmen des Frankfurter Magistrats gegenüber die Bitte vorlegte, bei ihren kirchlich-politischen corporativen Rechten u. bes. gegen die Verwechselung mit nicht anerkannten religösen Vereinen u. gegen alle polizeilichen Behelligungen bis zum Ausgang der Sache geschützt zu werden. Außerdem fanden sie viel Theilnehmer unter der katholischen Bevölkerung der Diöcese Augsburg, wo ihre Lehre 1856 von dem Pfarrer G. Lutz in Oberroth empfohlen wurde, u. auch unter mehreren Geistlichen Anhang erhielt. Doch schritt 1857 das bischöfliche Ordinariat ein u. excommunicirte Lutz u. andere Geistliche u. Laien. In Preußen, wo sie sich außer in Berlin u. Schlesien auch in Königsberg, Posen, Magdeburg etc. Anhänger verschafft hatten, gab es 1857: 1836 J. in 12 Gemeinden; in Amerika fanden sich 1854 nur 2 Gemeinden der J. Unter den Gegnern der J. hat sich bes. ein Engländer Marriott bemerklich gemacht, welcher den Irvingianismus nach Lehre u. Cultus als durchaus römisch-katholisch, ja selbst als jesuitisch bezeichnete, u. in Deutschland der Katholik Thalhofer (Beiträge zu einer Geschichte des Aftermysticismus [gegen Lutz], Augsb. 1857).
In der Lehre haben die J. auf die systematische Theologie wenig Werth gelegt. Da nach ihrer Ansicht die Kirche Christi jetzt nicht mehr das ist, was sie bei ihrer Stiftung gewesen ist, die Ämter (s. unten), welche bei ihrer Entstehung von Gott angeordnet wurden, eben so wenig in ihr vorhanden sind, als die Kräfte, Zeichen u. Wunder, welche der Heilige Geist den Gläubigen als Gaben mitgetheilt hat, u. deren Mittheilung durch jene Ämter vermittelt werden muß; da die Kirche nicht mehr die eine, die heilige, die allgemeine, die apostolische, nicht in der Vollkommenheit fortgeschritten ist, vielmehr die Mittel, welche Gott zu ihrer Vervollkommnung gegeben hat, von sich gestoßen hat, so geht ihr Bestreben dahin, der Kirche Christi wieder zu ihrem ursprünglichen Rechte zu verhelfen u. namentlich durch Wiederherstellung der Ämter u. Gaben, welche sie schon im A. T. vorgebildet finden, jenen vollkommenen Zustand herbeizuführen. Christus ist ihnen vorzugsweise der Prophet, welcher durch seine Ordnungen zu der Kirche redet u. uns dadurch die Rathschlüsse Gottes bekannt macht, u. der Heilige Geist der Vermittler zwischen der endlichen Schöpfung u. dem unendlichen Schöpfer, dessen Amt darin besteht, zu wirken, daß der Vater u. der Sohn in seiner Substanz in unser Herz kommen; während in der Lehre von den letzten Dingen die Erscheinung Christi die wichtigste Stelle einnimmt, bei welcher sie die Offenbarung der baldigen Nähe Christi (Apokalypsis), das Kommen Christi zu seiner Kirche (Epiphanie) u. die endliche, Allen sichtbare Wiedererscheinung Christi zum Gericht u. zur Vollendung der Welt (Parusie) unterscheiden. Nach ihrer Verfassung gibt es in der Gesammtkirche vier Hauptämter: die Apostel, welche ihrer Stellung nach die Häupter unter Christo u. die obersten Vorsteher der Gesammtgemeinde sind; die Propheten, welche ihnen als kirchlicher Beirath u. als Organe für den verborgenen Willen Gottes zur Seite stehen; die Evangelisten, welche das Evangelium unter den noch nicht zur Gemeinde Gehörenden verkünden; u. die Engel, welche als Hirten u. Lehrer geistliche Gewalt bei den Getauften[72] ausüben. In der Particulargemeinde stehen dem Engel sechs Älteste u. diesen wieder sechs Helfer zur Seite, u. außerdem fungiren Diakonen u. Diakonissen, welche auf den Wandel der Gemeindeglieder zu achten, deren zeitliche Angelegenheiten zu ordnen, Zehnten u. Opfer zu empfangen u. die Armen- u. Krankenpflege zu besorgen haben. Für die gottesdienstliche Einrichtung ward durch eine Kirchenordnung von 1842 gesorgt. Diese bietet eine liturgische Sammlung für die täglichen Morgen- u. Abendgottesdienste um 6 u. um 5 Uhr, für die täglichen Gebete um 9 Uhr u. um 3 Uhr, für Taufe u. Abendmahl, so wie für den sonntäglichen Gottesdienst, gibt für die priesterliche Kleidung Vorschriften (der Priester amtirt in der Alba, Casula u. Stola, die vier Ämter haben ihre besonderen Farben, das apostolische den Purpur), u. hält sich überhaupt so genau als möglich an das Vorbild, welches im A. T. über die Stiftshütte nach ihrem Bau u. nach ihrer inneren Einrichtung gegeben ist, so daß wie dort die Trennung in Vorhof, Heiligthum u. Allerheiligstes stattfindet. Bei dem Abendmahl unterscheidet man die Eucharistie, als das Opfer des Leibes u. Blutes Christi, von der Communion, als dem Genuß desselben; der Priester nimmt im Namen Christi Brod u. Wein in die Hand, welche durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes u. durch die Kraft der Einsetzungsworte Leib u. Blut des Herrn werden, er legt sie nun als ein Versöhnungsopfer auf den Altar, u. die Gemeinde empfängt dadurch ein neues Pfand der Vergebung der Sunden, worauf dann die Communion folgt. Vgl. Andrea, Die Lebensfrage der Kirche Christi, 1848; Thiersch, Die Kirche im Apostel-Zeitalter, 1852; Jacobi, Die Lehre der Irvingiten, Berl. 1853; Licht u. Schatten in dem gegenwärtigen Zustande der Kirche, Frankf. 1855.