Reichsstädte

[954] Reichsstädte, im sonstigen Deutschen Reiche die Städte, welche Sitz u. Stimme auf dem Reichstage, nebst selbständiger Verfassung hatten u. unmittelbar unter Kaiser u. Reich standen. Die deutschen Städte waren theils von den Römern erbaut, theils entstanden sie unter Heinrich dem Vogler u. seinen Nachfolgern, meist aus vergrößerten Burgen, aus den Ansiedelungen, welche sich neben bischöflichen Residenzen bildeten, u. aus zur gemeinschaftlichen Vertheidigung sich verpflichtenden Bürgern. Erstere waren größtentheils den Kaisern unmittelbar unterthan, letztere gehörten den Grafen u. Herzögen u. nur wenige Städte als Reichsfestungen dem Reiche. Als bei den Fehden des 11.–14. Jahrh. die Fürsten sich immer mehr schwächten, die Städte dagegen durch Handel u. Gewerbe Wohlhabenheit erlangten, gelüstete vielen, die noch nicht reichsfrei waren, hiernach u. sie suchten theils durch Vorschüsse, durch an den Kaiser geleistete Dienste u. durch Geldgeschenke das Reichsoberhaupt zu bewegen, sie für reichsfrei zu erklären, theils sich durch die Gewalt der Waffen schwachen Herrn gegenüber zu emancipiren u. die oft schon streitige Oberherrschaft zu erkämpfen, theils endlich sich durch gewisse Summen od. durch den Fürsten erwiesene Leistungen die Freiheit zu erkaufen; noch andere gelangten durch das Aussterben fürstlicher Geschlechte zur Reichsfreiheit. Kluge Kaiser unterstützten aber die Städte immer hierin, indem sie in ihnen ein Gegengewicht gegen die überhandnehmende Fürstengewalt erblickten. Wie manche Städte die Reichsfreiheit erlangten, verloren sie aber auch andre wieder; bei einigen machten die Fürsten, welche zu Burggrafen, Schultheißen od. Landvögten eingesetzt waren, ihr Recht in größerem Umfange geltend u. suchten die R. zu unterdrücken (wie Hohenzollern Nürnberg, Holstein Hamburg), od. unterdrückten sie auch wirklich; andre begaben sich freiwillig unter die Herrschaft der Fürsten, bes. unter die geistlichen; andre wurden (wie Altenburg, Zwickau u. Chemnitz von Friedrich dem Streitbaren) in Kriegen den Kaisern entzogen u. verblieben den Siegern zuweilen unter dem Vorwand einer Reichspfandschaft; noch andere wurden von auswärtigen Feinden mit Provinzen vom Deutschen Reich losgerissen (wie Hagenau, Kolmar, Schlettstadt, Weißenburg, Landau u. fünf andre Städte in Elsaß von Ludwig XIV.); noch andre endlich (wie Donauwörth) geriethen in die Reichsacht u. wurden Fürsten geschenkt.

Anfänglich setzten die Kaiser in den R-n Reichsvögte u. Reichsschultheißen als Verwalter der Gerichtsbarkeit ein; manche waren auch in gewissen Dingen den Landvögten unterworfen, so setzte der kaiserliche Landvogt von Schwaben die Obrigkeiten in den dortigen R-n ein. Auch kaiserliche Burggrafen waren in mancher R., doch mehr zur Bewahrung der kaiserlichen Burgen, wenn eine solche in der Stadt war, u. etwa zur Verwaltung der nahen Reichskammergüter, als zur Ausübung einer obrigkeitlichen Gewalt. Vom 13. bis 15. Jahrh. brachten die R. die Rechsvoigtei u. das Reichsschultheißamt, so wie die den Landvögten zustehende Gewalt, von den Kaisern unmittelbar, od. von Fürsten, welche von diesen damit belehnt waren, an sich u. gaben sich selbst eine mehr republikanische Regierungsform. Mit jener Gerichtsbarkeit waren zugleich Regalien an einzelne R. gelangt, u. um diese zu repräsentiren, erschienen nun die Abgeordneten der Städte auf den Reichstagen, wo dann nach u. nach alle R. Zutritt fanden, u. obschon die Reichsstände, auch wohl der Kaiser, dagegen protestirten, doch daselbst fast immer zugelassen wurden. Zu diesem höheren ihnen gewährten Ansehen trug nicht wenig bei, daß sich mehre Städte zu engen Bündnissen vereinigt hatten u. daher als schon ansehnliche Macht in damaligen unruhigen Zeiten in Betracht kamen (s. Städtebund, Schwäbischer Bund u. Hansa). 1474 theilten sich die R. auf dem Reichstage zu Augsburg, wo sie eine Zusammenkunft auf dem Rathhause hielten u. dort sich so setzten, daß die Abgeordneten der rheinischen, elsassischen, wetterauischen, thüringischen u. sächsischen auf der einen, die der schwäbischen u. fränkischen aber auf der andern Seite saßen, in zwei Bänke, die Rheinische u. die Schwäbische. Sie bildeten nun in diesen Bänken, nachdem ihre Anwesenheit auf den Reichstagen durch den Westfälischen[954] Friedensschluß 1648 gesetzlich geworden war, das dritte Collegium des Reichstags (s.d.). Die Regierungsform in den R-n war nicht von einerlei Art. In den ältesten Zeiten wurde der Rath u. die obrigkeitlichen Ämter theils mit eingebornen Bürgern, theils mit Gliedern des Landadels besetzt, welcher in die Stadt zog u. das Bürgerrecht u. obrigkeitliche Würden annahm. Durch längjährige Gewohnheit erhielten endlich nur Leute aus gewissen Familien diese obrigkeitlichen Stellen, welche sich dies endlich als ausschließliches Recht zueigneten, sich selbst Geschlechter nannten, von Rechtsgelehrten aber, welche beim Wiederaufleben der Wissenschaften alles auf römische Sitte beziehen wollten, Patricier genannt wurden. So bildete sich ein reichsstädtischer Adel, welcher (wie der Landadel im 12. Jahrh. anfing sich nach seinen Rittergütern zu benennen) sich nach seinen Häusern in der Stadt od. nach den Gütern, von wo er als Landadel herstammte, nannte u. sich nur dadurch von jenem unterschied, daß er das von lateinisch meist durch a statt durch de gab. Überhebung von Seiten der Geschlechter u. Bürgerübermuth von Seiten der wohlhabenden u. klüger gewordnen Regierten war Ursache, daß bes. im 14. Jahrh. oft gewaltsame Bewegungen in den R-n stattfanden, durch welche die Gewalt der Geschlechter wenigstens gemindert, wenn nicht ganz aufgehoben u. den Zünften Antheil an der Regierung gegeben wurde. Jede Zunft stellte einen, wenn sie zahlreich war, zwei Männer in den Rath; minder zahlreiche Handwerke vereinigten sich zu zwei u. drei, um einen Mann zum Rath zu stellen. Jeder Bürger, welcher auch kein Gewerbe betrieb, mußte sich zu einer Zunft halten, doch war auch zuweilen denen, welche von ihren Gütern u. Renten lebten u. deren Eltern schon so gelebt hatten, eine eigne Gesellschaft (Geschlechtsstube) bewilligt, aus welcher ebenso wie aus den Zünften eine Anzahl Personen zu dem Rathe gewählt wurden. Wie jede Zunft ihren Zunftmeister hatte, so hatten auch die aus den Zünften genommenen Rathsglieder ihren gemeinschaftlichen obersten Zunftmeister. Die Verfassungen waren daher demokratisch. Maximilian I., welcher in den Niederlanden zu sehr von dem Bürgerstolz gekränkt worden war, u. noch mehr sein Enkel, der in der spanischen Aristokratie erwachsene Karl V. änderten im 16. Jahrh. die Verfassungen vieler R. ab u. gaben der Aristokratie wieder mehr Antheil. Daher hatte fast jede Reichsstadt ihre besondere Verfassung, wo den Patriciern bald mehr, bald weniger Herrschaft gegeben u. die Demokratie auf verschiedene Weise beigemischt war. In manchen bestand ein Großer Rath, aus den Abgeordneten der Zünfte, u. ein Kleiner Rath, aus den Geschlechtern gewählt; in andern gaben nur die vornehmern Gewerke (Gilden) Glieder zum Rath, u. die gröbern Gewerke wählten keine Abgeordneten hierzu etc. Seit dem 16. Jahrh. blieb die Verfassung der R. im Wesentlichen unverändert, bis zu den Revolutionskriegen, wo schon fast alle R. durch die Nähe des Kampfes litten, u. zu Ende desselben sprach der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 das Vernichtungsurtheil fast über alle. Es gab damals noch 51 R.; zur Rheinischen Bank gehörten nämlich: Köln, Aachen, Lübeck, Worms, Speier, Frankfurt a. M., Goslar, Bremen, Hamburg, Mühlhausen, Nordhausen, Dortmund, Friedberg, Wetzlar; zu der Schwäbischen Bank: Regensburg, Augsburg, Nürnberg, Ulm, Eslingen, Reutlingen, Nördlingen, Rothenburg an der Tauber, Schwäbisch-Hall, Rottweil, Überlingen, Heilbronn, Gemünd, Memmingen, Lindau, Dünkelsbühl, Biberach, Ravensburg, Schweinfurt, Kempten, Windsheim, Kaufbeuern, Weil, Wangen, Ißui, Pfullendorf, Offenburg, Leutkirchen, Wimpfen, Weißenburg im Nordgau, Gienzen, Gengenbach, Zell am Hammerbache, Buchhorn, Alen, Buchau, Bopfingen. Von diesen wurden durch den Reichsdeputationshauptschluß auf einmal 45 mediatisirt. Nur Hamburg, Lübeck, Bremen, Augsburg, Frankfurt u. Nürnberg blieben nach 1803 noch reichsfrei; Köln, Aachen, Worms u. Speier kamen an Frankreich, die übrigen 41 an deutsche Fürsten. Augsburg u. Nürnberg wurden 1806 nach Auflösung des Deutschen Reichs zu Gunsten Baierns, Frankfurt zu Gunsten des Fürst-Primas mediatisirt. Hamburg, Lübeck u. Bremen kamen 1810 durch Gewaltstreiche Napoleons mit den Elb- u. Wesermündungen an Frankreich, wurden aber 1813 wieder frei u. 1815 nebst Frankfurt als freie Städte des Deutschen Bundes anerkannt. Vgl. I. I. Moser, Reichsstädtisches Handbuch, Tüb. 1732 f., 2 Thle.; (D. Hänlein) Anmerkungen über die Geschichte der R., Ulm 1775, 2 Thle.; A. Wendt, Beschreibung der kaiserlichen freien R., Lpz. 1804; G. W. Hugo, Die Mediatisirung der deutschen R., Karlsruhe 1838; G. V. Schmid, Die mediatisirten freien R., Frankfurt a. M. 1861.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 954-955.
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