Verbrechen [2]

[451] Verbrechen, 1) im Allgemeinen jede widerrechtliche, mit einer Strafe bedrohte Handlung (Violatio legis poenalis). Die Aufgabe des Staates solchen widerrechtlichen Handlungen zu begegnen theilt sich aber nach zwei Richtungen, je nachdem nämlich die widerrechtliche Handlung als eine solche betrachtet wird, welche nur die Rechtssphäre des einzelnen Staatsbürgers verletzt, od. als eine solche, welche einen Angriff wider die Gesammtheit des Staates, die allgemeine Rechtsordnung u. den bürgerlichen Frieden in sich schließt. In der ersteren Richtung fällt die widerrechtliche Handlung dem Privatrecht anheim; sie erscheint hier unter dem Begriff des Privatdelictes (Delictum privatum), dessen Verfolgung dem verletzten Individuum freisteht u. bei welchem die etwa zu erkennende Strafe entweder nur ein Äquivalent für den Schadensersatz od. insofern sie darüber hinausgeht, doch immer nur den Charakter einer vermögensrechtlichen Genugthuung an sich trägt. Unterfällt dagegen die Rechtsverletzung dem anderen Gesichtspunkt, u. ist die Strafe dazu bestimmt, ein Mittel zur Unterdrückung der in derselben sich kundgebenden gefährlichen Willensrichtung zu bilden, so wird dieselbe dadurch 2) zum V. im engeren Sinne, Criminal- od. peinlichen V. Jedes V. in diesem Sinne enthalt die Übertretung eines Strafgesetzes, womit sich der Verbrecher gegen die öffentliche Ordnung vergeht ü. den von dem Staate gewährleisteten Rechtsfrieden bricht. Die Merkmale, an denen zu erkennen ist, ob eine solche Übertretung vorhanden sei, bilden den Thatbestand des V-s, welcher sich wieder in einen allgemeinen u. besonderen scheidet, indem der erstere das Dasein der Merkmale in sich begreift, von welchen es abhängt, ob ein V. begangen worden u. ob eine Criminalstrafe zuerkannt werden kann; der letztere dagegen die Merkmale umfaßt, wodurch sich die vielen einzelnen, einander oft scheinbar sehr ähnlichen V. wesentlich u.[451] charakteristisch von einander unterscheiden. Im Römischen Recht kommen dafür als allgemeine Bezeichnungen die Ausdrücke: Crimen, Delictum, Maleficium, Commissum, Admissum, Offensa in den Quellen des älteren Deutschen Rechtes die Bezeichnungen: Missethat, Mißhandlung, Frevel, Unfriede rc. vor. Man theilt die V. A) nach dem Proceß der Rechtsentwickelung in: a) Delicta juris gentium, b. i. die unnatürlichen, dem allgemeinen Gefühl widerstrebenden Missethaten, worüber daher meist ein übereinstimmendes nationales Rechtsbewußtsein sich gebildet hat; u. b) Delicta juris singularum civitatum (Del. juris civilis), V., welche nur nach der besonderen Rechtsentwickelung eines einzelnen Volkes od. Staates als solche behandelt werden. Bei den ersteren ist die Berufung auf Unkenntniß des Rechtes ausgeschlossen, bei den letzteren muß dagegen die Rechtsunkenntniß bald als Grund völliger Straflösigkeit, bald als Strafmilderungsgrund in Betracht gezogen werden, B) In Hinsicht auf den Gegenstand der Rechtsverletzung in: a) allgemeine, Del. communia, u. b) besondere, Del propria, je nachdem der Gegenstand der Rechtsverletzung eine allgemeine, allen Staatsbürgern gleichmäßig obliegende, od. eine solche Pflicht ist, welche nur non gewissen Personen aus einem besonderen Grunde erfüllt werden muß. Zu letzteren gehören namentlich die V. der Soldaten, der Beamten (s.u. Amtsverbrechen), der Verwandten u, Gatten (Ehebruch, Doppelehe, Kinderabtreibung). C) In Staats-, Del. publica, u. Privatverbrechen, Del. privata, von denen erstere gegen die Persönlichkeit des Staates u. bestimmte Rechte desselben, letztere aber gegen einzelne Privatrechte unmittelbar u. wesentlich gerichtet sind. Die ersteren können weiter getheilt werden in a) politische, gegen die Persönlichkeit des Staates selbst gerichtete, z. B Hochverrats Majestätsverbrechen, Landesverrath etc; u. b) V. gegen einzelne Hoheitsrechte, z.B. gegen die Finanzhoheit etc. D) Die Eintheilung nach der Verfahrungsart u. den Strafübeln. Im Römischen Recht unterschied man in dieser Beziehung: a) Del. publica, bei denen der feierliche Accusationsproceß, in früheren Zeiten mit Entscheidung durch geschworene Richter aus dem Volt, stattfand, welche auch immer zu einer öffentlichen Bestrafung führten; b) Del. privata, welche in den Judicia privata, den auch für Civilstreitigkeiten zuständigen Gerichten, entweder mit einer Klage des Betheiligten od. mit einer sogenannten Popularklage (s.u. Actio) verfolgt wurden; u. c) Crimina extraordinaria s. Del., quae extra ordinem cognoscebautur, welche theils auf den Grund besonderer Constitutionen, theils nach dem Rechtsgebrauch im Wege einer summarischen Verhandlung durch den Prätor entschieden wurden. Das ältere Deutsche Recht unterschied in dieser Hinsicht zwischen Ungerichten (peinliche Fälle), d.i. Missethaten, bei denen die Strafe an den Leib, an Hals u. Hand od. doch wenigstens an Haut u. Haar ging; u. solchen V., welche nur Bußen nach sich zogen (bürgerliche Fälle); die Bestrafung der ersteren war den hohen, die der letzteren den niederen Gerichten unter verschiedenen Benennungen (Wrogen Brüche, Centfälle etc.) u. mit allmählig sehr unsicheren Grenzbestimmungen zugewiesen. Die neueren Strafproceßordnungen unterscheiden meist nach einer, zunächst dem Französischen Rechte entnommenen u. dort auf der verschiedenen Cömpetenz der Assisenhöfe, der Zuchtpolizeigerichte u. der Friedensrichter beruhenden Dreitheilung zwischen V. im engeren Sinne (Crimes), Vergehen (Délits) u. Übertretungen (Contraventions), ohne daß sich jedoch über die Grenzen dieser Abstufung gleichmäßige Grundsätze ausgebildet haben, s.u. Criminalgericht u. Übertretung. Auf demselben Eintheilungsgrunde beruhte sonst die Eintheilung in: a) Del. secularia, b) Del. ecclesiastica u. c) Del. mixti fori, je nachdem die V. von dem weltlichen od. geistlichen Richter, od. auch von beiden bestraft werden konnten. Mehr blos der Theorie gehören an die Einteilungen in: E) Begehuns- u. Unterlassungsverbrechen, Del. commisionis u. Del omissionis, je nachdem die Rechtsverletzung in einem positiven Handeln od. einer Unterlassung besteht. Bei den V. der letzteren Art ist als Regel anzunehmen, daß die Unterlassung in Nichterfüllung einer von dem Verbrecher bes. übernommenen Pflicht zu specieller positiver Thätigkeit bestehen muß; F) dolose u. culpose B., je nachdem die gesetzwidrige Handlung beabsichtigt od. nicht beabsichtigt, entweder aus dem Willen u. Vorsätze des Handelnden od. aus bloßem Versehen hervorgegangen war, also auf Nachlässigkeit u. Leichtsinn beruhte; G) Rechts- u. Gesetzesverbrechen, je nachdem in dem V. zugleich eine directe Verletzung subjectiver Rechte, z.B. des Eigenthumes, liegt, od. die V. nur sonst Handlungen sind, welche in anderer Beziehung der rechtlichen Ordnung zuwiderlaufen; H) formelle u. materielle V., je nachdem ein V. lediglich durch die Form der Handlung od. durch den Zweck, welchen sich der Verbrecher dabei setzt, bestimmt wird, indem bei seiner Vollendung entweder von einem gewissen Erfolge abgesehen od. ein solcher erfordert wird; I) Del facti permanentis u. Del. facti transeuntis, je nachdem der Erfolg des V-s bleibende Spuren zurückläßt od. nicht; K) einfache u. qualificirte od. gesetzlich ausgezeichnete V., von denen die letzteren diejenigen Verbrechensfälle begreifen, bei welchen wegen besonderer concurrirender Umstände die Strafe durch das Gesetz höher od. niedriger bemessen worden ist, als wenn diese Umstände das V. nicht begleitet haben; L) gleichartige u. verschiedenartige V, je nachdem die V. unter einen u. denselben gesetzlich festgestellten Gattungsbegriff gebracht werden können, z.B. als V. gegen das Eigenthum od. nicht. Diese Unterscheidung ist bes. bei dem Rückfall (s.d. 2) von Wichtigkeit; M) Del flagrans (Del manifestum, handhafte That), bei welchem der Thäter auf der That betroffen worden ist, u. Del. pernoctatum (übernächtiges V.), welches erst später, bes. nachdem inzwischen eine Nacht verflossen, entdeckt wurde; N) Del. notorium u. Del. occultum, je nachdem die Verübung des V-s öffentlich bekannt ist od. über den objectiven u. subjektiven Thatbestand desselben Ungewißheiten bestehen; O) vollendete u. blos versuchte V., Del consumatum u. Del. conatum, je nachdem der Verbrecher seinen beabsichtigten Erfolg erreicht hat od. nicht, vgl. Versuch. Über die verschiedenen Arten der Strafe als Hauptfolge eines V-s s. Strafe.

Neben der Strafe gibt es aber auch noch gewisse Nebenstrafübel, welche den Verbrecher je nach den Umständen treffen können; sie sind. A) meist, staatsrechtlicher u. polizeilicher Natur. Dazu gehören:

[452] a) die Verbindlichkeit zur Abstattung der Processe, Vertheidigungs-, Urthels- u. Executionskosten, welche bei allen V. ohne Ausnahme eintreten kann u. selbst auf den Nachlaß übergeht, wenn der Inculpat schon verurtheilt starb; b) in schwereren Fällen die öffentliche Bekanntmachung des Strafurtheils u. der verbüßten Strafe; c) der Verfall u. die Confiscation solcher Dinge, welche Werkzeuge, Gegenstände od. Producte des V-s gewesen sind; d) die Stellung unter polizeiliche Aufsicht u. bei Ausländern die Landesverweisung; e) bei Amtsverbrechen (s.d.) besondere disciplinare Nachtheile, welche sogar bis zur Dienstentsetzung steigen können, B) Von den privatrechtlichen od. bürgerlichen Wirkungen eines V-s sind die hauptsächlichsten: a) die Ungültigkeit u. Effectlosigkeit der vom Verbrecher als solchem getroffenen Verfügungen u. sich zu Schulden gebrachten Handlungen, daher namentlich aller Gewaltthaten u. Erpressungen, aller Fälschungen u. Betrügereien, aller durch Hochverrat, Aufruhr etc. veranlaßten Staatseinrichtungen u. Verfügungen, die Ungültigkeit eines durch Bestechung zu Stande gebrachten Erkenntnisses etc.; b) die Verwirkung der durch das V. gemißbrauchten u. verunglimpften Rechte, daher z.B. die Verwirkung des Streitgegenstandes od. streitigen Rechtes bei Bestechung des Richters od. gegnerischen Sachwalters, die Verwirkung des Besitzes bei böslicher Abläugnung desselben, die Verwirkung der Forderung bei gesetzwidriger Selbsthülfe, die Verwirkung der väterlichen Gewalt u. der ehelichen Rechte bei Mißbrauch derselben, die Verwirkung des Erbrechtes, u. zwar bald, wie bei Verurtheilung wegen Capitalverbrechen, Ketzerei, Apostasie u. bei unmittelbarer Abstammung von Hochverräthern, der Successionsfähigkeit im Allgemeinen; bald nur der Indignität zur Erlangung gewisser Erbschaften, wie z.B. wegen zwangweiser Abhaltung eines Erblassers von Errichtung od. Änderung seines letzten Willens, wegen culposer od. doloser Tödtung eines Erblassers, wegen incestuoser Ehe od. verbotener außerehelicher Geschlechtsgemeinschaft, wegen Desertion eines Wahnsinnigen, Entwendung einer Sache aus der Erbschaft od. Verheimlichung eines Testamentes, so wie die Verwirkung des Eigentumsrechtes, welches der Fund gewährt, bei der Fundhehlerei zu Gunsten der Obrigkeit; c) die Verbindlichkeit zur Rückgabe u. Wiedererstattung alles dessen, was der Verbrecher widerrechtlich an sich genommen od. sonstwie dem Anderen entzogen hat; u. d) die Verbindlichkeit zum Ersatz aller Schäden u. zur Gewährung völliger Genugthuung wegen aller aus dem V. resultirenden nachtheiligten Folgen. Diese Verbindlichkeit findet nicht blos bei solchen V. statt, durch welche dem Anderen sein Vermögen entzogen, geschmälert od. beschädigt wurde, sondern auch bei V., welche sich gegen das Leben, die Integrität der Geistes- u. Körperkräfte od. der Ehre eines Anderen richteten. Auch ist die Entschädigung nicht nur dem durch das V. unmittelbar Beschädigten (Damnificat), sondern auch demjenigen zu gewähren, welcher durch die Untersuchung des V-s sonst gelitten hat, daher also namentlich einem hinterher unschuldig befundenen Inculpaten. Die Pflicht zur Entschädigung kann im letzteren Falle bei Verletzung der nöthigen Vorsicht auch dem Untersuchungsrichter od. dem Ankläger, namentlich wenn er als falscher Denunciant zu betrachten ist, obliegen. Die Zuerkennung der Strafe wegen V. erfolgt im Wege des Criminalprocesses (s. d.); die Verfolgung der privatrechtlichen Ansprüche kann entweder in einem abgesonderten Civilprocesse od. aber auch in Verbindung mit dem Criminalprocesse im Wege des sogenannten Adhäsionsprocesses (s.d.) stattfinden.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 451-453.
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